le vmz 1815 - 1915 Hundert Jahre preuisischer Herrschaft am Rhein Boon 1917 A. Marcus $i E. Webers Verlag Dr« jar. Alfccrt Aiui Digitized by the Internet Archive in 2009 with funding from Ontario Council of University Libraries http://www.archive.org/details/dierheinprovinz01hansuoft Die Rheinprovinz 1815— 1915 Hundert Jahre preußifcher Herrfchaft am Rhein Erfter Band 1 CA'^A-y^ Die Rheinprovinz 1815-1915 Hundert Jahre preußifcher Herrfchaft am Rhein In Verbindung mit L. Baeck, ]. Bufchmann, W. Cohen, E. v. Czihak, ]. Hashagen, Th. Ilgen, W. Kahler, K. Kehrmann, R. Klapheck, Br. Kuske, E. Landsberg, H. Lehmann, K. Ohlert, W. Pla^hofF, F. Schul^, M. Schwann, Ed. Simons, F. Stier-Somlo, ]. Stubben, U. Stu^, W. Tuckermann, K. Wiedenfeld, A. Wirminghaus, E. WolfF und W. Wygodzinski bearbeitet und herausgegeben Joseph Hansen Erfter Bcind Bonn 191 7 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. jur. Albert Ahn G.G. Vorwort. Der Plan zur Herausgabc des vorliegenden Buches i(t im Jahre 1911 gefaßt worden. Der für das Frühjahr 1915 bevorftehende Gedenktag der vor hundert Jahren erfolgten Vereinigung der Rheinprovinz mit dem prcußifchen Staate weckte um jene Zeit an zahlreichen Stellen der Provinz den Wunfeh, durch hiftorifche Unterfuchungen und Betrachtungen, für deren Erfcheincn der Augen= blick der Jahrhundertfeier in Ausficht genommen wurde, dem lebenden Ge= fchlechte die Bedeutung der im Jahre 1815 vollzogenen Verbindung zum Be= wußtfein zu bringen. Auf amtlicher Seite wurden umfaffende Veröffentlichungen vom Königlichen Oberpräfidium in Koblenz, von der Rheinifchen Provinzial= Verwaltung in Düffeldorf und von einer Reihe rheinifcher Städte, insbefondere von Köln, Düffeldorf, Aachen und Trier, vorbereitet. Auf wiffenfchaftlidier Seite hatte die Gefellfchaft für rhcinifche Gcfchichtskunde fchon im Jahre 1910 eine Preisaufgabe ihrer Meviffenftiftung : Die Rheinprovinz unter der preußifchen Vcr= waltung von 1815 bis zum Erlaß der Verfaffungsurkunde vom 31. Januar 1850, ausgefchrieben. Ihr war das Ziel gefetzt, in erfter Linie aus einer planmäßigen Durchforfchung der Akten der (taatlichen Behörden die ficheren Unterlagen für die Erkenntnis des Prozeffes der Verfchmclzung der Rheinprovinz mit dem Staatsganzen zu gewinnen und auf diefer Grundlage den Prozeß felb(t zu ver= anfchaulichen. Ihre Löfung wurde von berufener Seite in ausfichtsvoller Weife in Angriff genommen. Das hier vorliegende Sammelwerk (teilte fleh von vorn= herein die Aufgabe, neben diefen anders gearteten Veröffentlichungen die viel= geftaltige Entwicklung der Rheinprovinz von 1815 — 1915 in einer für einen größern Leferkreis beftimmtcn Dar(tellung, und zwar in der Weife vor Augen zu führen, daß die Bearbeitung der verfchiedenen Entwicklungsreihen durch folche wiffcnfchaftlichen Fachleute erfolgte, die durch ihre Spezialftudicn und durch längern perfönlichen Aufenthalt in der Provinz bcfonders dazu berufen erfchienen. Leitender Gefichtspunkt des ganzen Werkes follte aber auch hier der Verfchmelzungsprozeß zwifchen dem preußifchen Staat und der Rhcin= provinz fein, fo wie er fich dem heutigen Beobachter bei rein wiffenfchaftlicher Betrachtung darftellt. Der Ausbruch des Weltkrieges im Sommer 1914 machte die rechtzeitige Durchführung aller diefer Pläne unmöglich. Im Frühjahr 1915 waren wohl die Vorarbeiten für die meiften von ihnen weit gefördert, und von der Mehrzahl VI Vorwort D lagen größere oder kleinere Teile auch fdion gedrudrheinifchen Geißesieben könnte man einen weiteren Sieg der Fremden erwarten. Denn das altrheinifche Gcißesleben ßcht am Vorabend der frano zöOfchen Hcrrfchaft nicht auf der Höhe des inncrdcutfchcn. Die Umwälzung des Geißeslebens, die Im inneren Dcutfchland feit der Mitte des Jahrhunderts hervortritt, hat das Rheinland nur hie und da tiefer berührt. Selbß die Auf« □ m. Das Geistesleben: Allgemeine Charakteristik 41 klärung ergreift nur die Oberfchicht der Intellektuellen. Man braudit dem gegenüber nur die glänzende Entfaltung des gleichzeitigen franzöfifdien Geifteslebens zu beobaditen, um fidi auch hier von der franzöfifchen öber= legenheit zu überzeugen. Und doch beweift die rheinifche Geiftcsgcfchidite unter der Fremd herrfchaft das Gegenteil. Verfchiedenes wirkt zufammen, um Überlegenheit und An= Ziehungskraft auf der franzöfifchen Seite nidit nur erheblich abzufch wachen, fondern gerade im Rheinland geip:ige Gegenkräfte aus früherer Zeit neu zu verftärken oder auch gerade jetzt neu entstehen zu laffen, zumal da, was man auch bei Beurteilung diefes Ringens (tets zu bedenken hat, die franzöfifche Herrfchaft am Rheine in ihrer klaffifchen Form nur etwa ein halbes IVlenfchen» alter währt. In dem äußerlidi franzöfifdien Lande wird unter franzöfifcher Herrfdiaft ein (tillcr Gci(teskampf ausgcfochten, in dem die franzöfifchen Macht- haber, da fich eben nicht alles nur einfach befehlen läßt, keinen dauernden Sieg zu verzeichnen haben. Die Folge i(t, daß beim Abfchluffe der Fremdherrfdiaft die franzöfifche „Kulturpolitik" am Rheine weit weniger erreicht hat, als die Wirtfchafts» und befonders die Verwaltungspolitik. Der dem Kaiferreich angeborene Hang zur Tyrannei ß:ört das Wachstum der durch die Revolution entbundenen neuen Gei(teskräfte oft genug und bringt manche hoffnungsvolle Pflanze wieder zum Verdorren. Die Vergewaltigungen find jedoch nicht die einzigen Sünden der Empirezeit. Die durch die Revo« lution gefchaffene dcmokratifche Gefellfchaft, die auch unter der fpäteren byzan= tinifch=pIutokratifchen Hülle weiterlebt, fängt bereits an, eine Hauptaufgabe der Demokratie, das Bildungs(treben, zu vcrnachläffigen. Der trotz aller öber= treibungen und Einfeitigkeiten fo rühmliche Bildungseifer des aditzchnten Jahr= hundcrts gerät bereits in Verfall. Was feine Stelle einnimmt, ift oft nur eine kurzfichtige Propaganda für äußerliche, ärmliche, banaufifdie Bildungsideale, die immer leerer werden, je rückfichtslofcr man fic für den Dicn|t des Militär= und Wcltftaates in Anfpruch nimmt. Dem Idealismus in jeder Form wird mit fdieinbar überlegenen Machtmitteln der Krieg erklärt. Schule und Kirche, die redenden und bildenden Künfte, Preffc und Wiffenfchaft, die öffentliche Mei= nung, der Esprit Public als eine Art von Zufammcnfaffung von dem allem: alles foll fich letzten Endes in den Dienfi des brutaUpatriardialifchen Im= perialismus (teilen, zumal in einer exponierten Grenzprovinz wie dem Rhein= lande. Daß die leicht entzündlichen, feftesfrohen, agitationsbegabten Rheinländer in diefem neuen Dienfthaufc des Kaifers mit ähnlicher Begeifterung gearbeitet haben wie kurz zuvor für die Revolution bei den Freiheitsbäumen, vor den Altären der Göttin Vernunft und in den Dekadentempeln der Dircktorialzeit, dafür ließe fich manch fprechender Beleg beibringen. Aber wie fich fchon damals Widerfpruch regt, fo hat auch die napoleonifche Kulturpolitik, wenn fie über= haupt diefen Namen verdient, am Rheine weder einen entfcheidenden Erfolg erzielt, noch ungeteilte Gegenliebe gefunden. Der Druck erzeugt den Gcgen= druck, am (tärkften auf kirdilichem, am zukunftsreichftcn auf künftlerifdhcm Gebiete. Auch in den politifchen Stimmungen bleibt ein Reft von Widerftand gegen die Fremdherrfchaft. Die pofitivcn Leiftungcn der Franzofen aber, die ihre rheinifche Kulturpolitik aufzuweifen hat, find nach keiner Seite hin fo durchfchlagend, daß fie auf die rheinifdic Bevölkerung eine dauernde An= Ziehungskraft hätten ausüben können. 42 I. J. Hashagen, Die Rheinlande beim Abschlüsse der französischen Fremdherrschaft d Schuls und Bildungswefen. Dasjenige Gebiet, auf dem die Franzofen am wenigften gclciftet haben, i|t das der Erziehung und des Unter= richts. Zwar haben fic auch hier wie fo oft nach der einen Seite hin eine wichtige Grundlage für eine künftige gedeihliche Entwicklung erß: neu gelegt, indem fie nach dem Vorbilde der revolutionären Gefetzgebung, auf die auch hier nicht eingegangen wird (vergl, die Zentralfchulen), durch das grundlegende napoleo= nifdie Schulgefetz vom i. Mai 1802 (11. Floreal X) die gei(tliche S.chulauf ficht befeitigcn und grundfätzlich durch die weltlidie verdrängen. Nur die Organe des Staates, die Präfekten, Unterpräfekten, Maires und andere Behörden find zur Aufficht über die Schulen berechtigt und verpflichtet. Diefe weltliche Schul= aufficht i[t dann fpäter, am 9. Januar 1809, zwar als Infpektion im einzelnen geordnet, aber, fo viel man weiß, für die niederen Schulgattungen meilt nur mangelhaft gehandhabt worden. Der weltlichen Infpektion der rheinifchen Volksfchulen z. B. fehlt es offenbar an Willen, energifdi durdizugreifen. Damit und mit anderen auch fon(t nachweisbaren rückläufigen Strömungen, die bis in die Kreife der franzöfifdi=rheinifchen Beamtenfchaft hinaufreichen, hängt es vermutlidi zufammen, daß fchon während der franzöfifchen Herrfchaft nicht nur die Pfarrer mit Erfolg Vcrfudie machen, die ihnen rechtlich entriffene Schule praktifch zur Kirche zurückzuführen, fondern daß fie in diefen Beftrebungen audi von der Regierung unter(tützt werden. So wird am 30. Januar 1809 der Bifdiof von Mainz vom Großmeifter der napoleonifdien „Univerfität" (unten S. 43) felbft aufgefordert, feine Pfarrer zu Berichten über die Lehrer zu veran= laffen und diefe Berichte dann, verfehen mit feinem eigenen Gutachten, nach Paris einzufchicken. Audi der Aadiener Bifchof übt auf die Befetzung der Lehrcrftellen praktifchen Einfluß aus. Die Lehrer an den Sekundärfdiulen (unten S. 44) find meiftens Geiftlidie, die Volksfdiullehrer vielfach zugleidi Küfter. Im Bergifdien wird die Konfeffionsfchule anß:att der älteren Simul= tanfdiule von der Regierung felbft empfohlen. Schon unter proviforifcher preußifdier Herrfdiaft, die fidh unter K. F. A. Grashof und J. Görres um die Neuordnung des rheinifdien Schulwefens fchr beträchtliche und bleibende Ver» dicnfte erworben hat, wird dann die gei(tliche Schulaufficht auch als Rechtszu= ftand fofort wieder eingeführt. Der von den Franzofen gebahnte Weg wird wieder verfdiüttet. Dagegen i(t eine andere wichtige allgemeine Grundlage, nämlich die Forderung der allgemeinen Sdiulpflicht, von den Franzofen überhaupt nicht vorgcfehen, fo daß man fleh nicht darüber zu wundern braucht, wenn von den fchulpflichtigen Kindern kaum die Hälfte wirklich eine Schule befuchen. Am Niederrhein rechnet man 1804 noch ca. 75% Analphabeten. Außer der Verweltlichung der Unterrichtsan(taltcn verfolgt die franzöfifdic Schulpolitik am Rhein keine allgemeinen Ziele, denen rein pädagogifche Erwä= gungen zugrunde lägen. Wo diefe auftauchen, werden fie immer mehr durch außerpädagogifchc, vor allem durdi militärifch=politifche und finanzpolitifche aus dem Gcfichtskreis der Verwaltung verdrängt. Diefe faifche, weil außer« pädagogifche, Zielfetzung i(t der Krebsfchadcn der franzöfifchen Schulpolitik und unterfcheidct fie zu ihrem Nachteil z. B. von dem pädagogifchen Idealismus, wie er Im damaligen Preußen hervorbricht. Erziehung und Unterricht follen in allen Schulen, von der Volksfchule bis zur Hochfchulc (der franzöflfdien Spcziaifchulc : unten S. aj), in gouvcrnementala imperialif^ifchem und In mllitärifchcm Gciftc geleitet werden. Der im Jahre 1806 D ni. Das Geistesleben : Schul- und Bildungswesen 43 eingeführte Napolconifche Katechismus zeigt, daß fogar der von den Kons fcffionen in den weltlichen Schulen fchon unter dem Konfulat wieder erteilte und vom Bifchof infpiziertc Religionsunterricht in den Dien(t der imperialiftifchen Agitation geftellt wird. Befonders deutlich wird ähnliches im Gefchichtsunterricht erftrebt. Die Einrichtung der durch Gefetz vom 17. März 1808 befchloffenen und am 15. November 1811 verfchärften ,,Universitc de France", die das Roerdepar= tement in äußerlichem Anfchluffe an die Appellationsgerichtsbezirkc (obenS. 13) der „Akademie" von Lüttich, die übrigen drei rheinifchen Departements der Ivlainzer überwei(t, bedeutet nicht nur eine maßlofe Zentralifierung und Uni= formierung des gefamten Unterriditswefcns aller Sdiulgattungcn, fondern auch eine Verfchärfung der eben erwähnten allgemeinen Tendenzen. Auch der Gegenfatz gegen die unausrottbaren deutfchen Einflüffe in Erziehung und Unterricht verfchärft fich jetzt, z. B. zu dem Verbote des Befuchs deutfcher Hoch= fchulen. Das Franzöfifche als Unterrichtsfp räche foll fich immer weiter aus= breiten. Die Vorliebe der Franzofen für Internate bei den Mittelfchulen, die alte klöfterliche Überlieferungen mit neuen militärifchen Forderungen abfonderlidi verbinden (die Lehrer der Sekundärfdiulen fmd zum Zölibat verpflichtet, Frauen und Mägden ift der Zutritt zu den Sekundärfchulintcr= naten verboten), entfpringt der deutlichen Abficht, nicht nur den Unterricht, fondern auch die Erziehung den imperiali|tifdien und franzöfierenden Zwecken unterzuordnen. Diefe felben geben auch für die Ausbildung eines eigentüm= lidien Frei(tellen= (places gratuites) und Stipendien=(Bursen=)Syftems den entfdieidendcn Antrieb. Auch bei der Regelung diefer mehr tcchnifchen Fragen tragen die politifch=militärifchcn Gcfichtspunkte über die eigentlich pädagogifchen den Sieg davon, wenn nicht gar die ausgeworfenen Stipendien (das Floreal= gefetz fchafft an den Staatsfchulcn 6400 Freiftellen) ebenfo wie die verfchwen= derifch gefpendeten Schulpreife nur dazu dienen, für die wenig beliebten neuen weltlichen Schulen und ihre kafernenartigen Internate Reklame zu machen. Die zweite allgemeine Hauptabficht der franzöfifchcn Schulpolitik i(t darauf gerichtet, den Unterricht für den Staat möglich(t billig zu geftalten, die Schul= unterhaltungspflicht, unbefchadet natürlidi der ßiaatlichen Aufficht, für den Staat möglichp: einzufchränken und möglich(t auf die Gemeinden abzuwälzen. Bereits das Florcalgefetz (1802) bringt die Kommunalifierung der Volksfchulen und eines Teiles der Mittelfchulcn. Den Gemeinden liegt fortan ihre Unterhaltung ob. Das „Univerfitäts"gefetz vom 17. März 1808 treibt dann zwar die Zen= tralifation bis zum äußerftcn. Allein an der Verteilung der Schulunterhaltungs= pflicht, die dem Staate nur für die höheren Mittelfdiulen und die Spezialfchulen obliegen foll, ändert es nichts wefentliches. Es fcheut fich auch nicht, die Ver= waltungskoften fogar diefes zentralen In(tituts der „Univerfität" wieder vom Staate abzuwälzen, und zwar diesmal fogar auf die Infaffcn der Internate. Ein weiteres Dekret vom 17. Dezember 1811 beftimmt näheres über die Schullaftcn der Gemeinden. Schulaufficht und Sdiulleitung, Befetzung der Lehrer(tellen und Ge(taltung des Lehrplanes bleiben trotzdem ganz in den Händen der Zentralbehörden, Das Zufammenwirken diefer beiden Tendenzen, der politifchcn und der finanzpolitifchen, i(t, wie fich an faft allen Schulgattungen zeigen läßt, nicht zu ihrem Segen ausgefchlagen. Bei der oft fchwierigen Finanzlage find die Gc= mcinden feiten imftande, ihrer Schulunterhaltungspflidit in gedeihlicher Weife nachzukommen. Öfters find fie auch zu indolent dazu. Die rheinifdicn Volks» 44 I. J. Hashagen, Die Rheinlande beim Abschlüsse der französischen Fremdherrschaft d fchulen (Primärfdiulen) geraten infolge ihrer Kommunalifierung in eine traurige VcrfalTung. Die Erhebung, die fdion die proviforifdie preußifche Verwaltung im Auguß: 1814 darüber veranftaltet, enthüllt beträchtliche Mißß:ände, und zwar am Niederrhein durchweg größere als am Mittelrhcin und an der Mofel. Die Lehrpläne der Volksfchulen halten fidi auf recht niedriger Stufe, indem fie über Lefcn, Schreiben, Redincn feiten hinausftreben. Das Dekret vom 15. November 1811 befchränkt fie fogar ausdrücklich darauf. In den Lehrmitteln herrfdit die größte Planlofigkcit. Die Sdiullokale entfprechen feiten billigen Anforderungen. Das Lehrermatcrial i(t unzulänglich. Für die Lehrerbildung i(t nicht ausreidiend geforgt. Die von dem Univerfitätsgefetze als Anhängfei der höheren Mittel» fdiulen (Lyzeen) und Nadifolger der älteren republikanifchen Prüfungs= kommiffioncn (jurys d'instruction) geforderten Lehrerfeminare (Normalfchulen) bleiben in den Anfängen [tedereits die Anfänge einer Oppofltion des neuen politifchcn Katholizismus. Das Regiment Napoleons in der rhcinifchen katholifchcn Kirche bedeutet aber trotz der gegen {[z gerichteten materiellen Schläge und trotz aller unleid» liehen höflfchen Beeinfluffung gegenüber den anarchifchen Zeiten der provi« forifchen Hcrrfchaft mit der IlcrftelUing eines äußeren Fricdcnszultandes einen in. Das Geistesleben: Literatur, Theater, Musiit 49 großen Fortfehritt. Als folchcn hat man den Abfchluß des Konkordats trotz der Organifdien Artikel immer befondcrs gewürdigt. — Die Prote(tanten verdanken der Revolution und dem Kaifer die Emanzi= pation, die audi die Befeitigung alter handeis» und gewerbepolitifdier Be= fdiränkungen einfdiließt, und die Anerkennung ihres Kultus und ihrer kirdi= lidien Organifation durdi die Organifdien Artikel. Da diefe die Verfafl"ung der Einzelgemcinde ganz unberührt laden und nur die alten „Klaffen" in „Konfi|toricn" verwandeln und nadi oben zu „Generalkonfi(torien" zufammcn= fdiließen, fo kann man die prote(tantifchen Kirdien am Rheine unter franzö» fifdier Herrfdiaft mit weit größerem Redite als „(taatsfrei" bezeidincn als unter preußifdier. Napoleon felbp: iß: für die Emanzipation der Proteftanten befonders intereffiert. Gelegentlidi der Taufe des Königs von Rom im Jahre 1811, die auch am Rheine Begeifterungs(türme wedt, erkundigt er fidi bei den in Paris anwefenden Kölner Deputierten befonders eingehend nadi dem Sdiidduche de Berg, 1905. M. Schwann, Gejchlchte der Kölner Handelskammer I, too6. R. ZcyR, Die Entltehuny der Handelskammern und Handel und Indu(\rie am Nieder* rneln wührend der franzöfifchen Herrfchaft, 1907. n. Landeskunde der Rheinprovinz von Wälther Tuckermdnn. Bildung und Begrenzung der Provinz. Den proviforifdicn Ein« riditungen, die Preußen feit Ende des Jaiires 1813 am Rhein getroffen hatte, folgte am 5. April 1815 die endgültige Befitzergreifung. Das Gebiet umfaßte 26 283 qkm, fo daß es, wie die gleidi ihm vom Hauptkörper des prcußifchen Staates weit getrennt gelegene Provinz We(tfalen (20 220 qkm), zu den klein|ten preußifdien Provinzen gehörte^). Im Gebiet der heutigen Rhein« provinz erhielt aber laut Sdilußakte des Wiener Kongrefles im September 1816 der Herzog von Sadifen=Koburg die Kantone St. Wendel, Baumholder und Grumbadi, die feit 1819 das Für(tentum Liditenberg bildeten. Ferner bekam der Landgraf von Heffcn=Homburg den Kanton Meifenheim, endlidi der Großherzog von Oldenburg den fpätcr Fürftentum Birkenfeld benannten Land(tridi im oberen Nahegebiet, deffen Befitz er im Jahre 1817 antrat. Der Großherzog von Medlenburg=Strelitz verzichtete auf das ihm im Quellgcbiet der Kyll, Rur (Roer) und Urft zugewiefenc Bcrgland, Von kleineren Grenzrcgulic= rungen abgefehen, blieb das Gebiet der prcußifdicn Rheinlande unverändert. Nur wurde ihnen am 31. Mai 1834 das Koburgifchc Fürftentum Liditenberg als Kreis St. Wendel und nach dem Untergang der Homburgifchen Staatshoheit 1866 auch das Oberamt Meifenheim einverleibt, das ebenfalls hinfort einen fclb= [ländigen preußifdien Kreis, einen der klein(ten, bildete. Der Zuwachs betrug 713,60 qkm, fo daß der Umfang der preußifchcn Befitzungen am Rhein, von Naffau abgefehen, feitdem fajt 26 997 qkm beträgt. Wiewohl die Rheinprovinz in hohem Maße als ein geographifch einheitlidies Gebilde erfdieint, das fidi weniger als die meißien anderen preußifchen Provinzen an alte territoriale Grenzen anfchließt, fo i(t ihr Umfang in der jetzigen Begren= zung dodi durchaus willkürlich, ja man kann fagen, bcfchnitten und befchränkt. Das gilt namentlich für die mittleren öftlichen Teile an der Sieg und auf dem We(terwald, noch mehr für den Südoften, am ftärkftcn aber bezcichncnderwcife für die Grenzen der Provinz gegen das Ausland. Faft nirgendwo fchlicßen fich im Weften die Provinzgrenzen an die alten territorialen an. Überall reichten die Gebiete des alten Römifchen Reiches in die der heutigen drei Nadibarftaaten hinein. Und das mit gutem Grund! Denn fa(t nirgendwo war hier eine geographifche Scheidelinie, die der territorialen Entwicklung ein 1) Die Größe der übrigen Provinzen betrug: Preußen 62555, Sdilefien 40335, Brandenburg 39905, Pommern 30131, Pofen 28992, Sachfen 25270 qkm. Der ge» famte Flächenraum der Monarchie laetrug 1815: 273690 qkm; 1915 beträgt er 348 780 qkm. 58 II. W. Tuckermann, Landeskunde der Rheinprovinz n Halt geboten hätte. An einzelnen wenigen Stellen fällt frcilidi die alte Terri« torialgrenze mit der heutigen politifchen zufammcn, z. B. in den nordwe[tlichen Teilen des Herzogtums Jülidi. Eine natüdidic Scheidelinie liegt aber audi hier nicht vor. Selbft die fo prägnante heutige Grenze nördlich von Malmedy bei der Baraque Midiel, die auf der kurzen Strecke audi eine geographifchc Grenze abgibt, i|t, fo fehr es audi den Anfdicin hat, nidit mit der alten territorialen Nordgrenze der Abtei Stablo=Malmedy identifch. Denn diefe reidite nodi ein wenig über den Kamm des Venns hinweg ins heutige Belgien. Wenn heute die Grenze gegen Holland in einiger Entfernung öftlidi vom Maastal verläuft, fo haben wir hier eine der vielen Willkürlichkeiten des Wiener Kongreffes vor uns. Denn das ungeheure öde Sumpfs und Mocrgebiet we(tlidi von der Maas, de Peel, das teilweife auch die Grenze der Niederlande gegen Geldern (Amt Keffel) bildete, hätte vielleidit eine verhältnismäßig mehr begrün« dete Grenze abgegeben. Freilidi hatten die Generalitätslande fdion ö(tlidi von der Maas bemerkenswerte Stützpunkte, wie Venlo, Stevenswecrt, Valkenburg, am linken Ufer Maastridit, die zwar zum Teil ohne tcrri» torialen Zufammenhang waren, aber der Gründung der niederländifdien Maasprovinz Limburg den Weg bahnten. Die alten niederländifdien Be» fitzungen madien es auch erklärlidi, daß Holland bei der Abtrennung Belgiens das öftliche Limburg behielt. So kann es nicht ausbleiben, daß namentlich nadi der Weftfeite hin die Grenzen der Mundarten und der Spradien mit der Provinz^ grenze meift nicht übcrein(timmen. Wie das Wallonifdie über die Grenze hinweg in das Gebiet der Provinz reidit, fo reichen die fränkifdien Mundarten umge= kehrt nach Holland und Belgien. Das ehemals klcvifdic Gcnnep und die vordem geldrifchcn Orte Arcen und Venray fpredien diefelbe Mundart, das Klevifch= Gcldrifche, wie der dcutfche Unterrhein. Noch ferner (tehen der niederländifdien Schriftfprache die Maasorte zwifchen Roermond und Maastridit, die diefelbe Mundart reden wie die Bewohner um Krefeld, Gladbach und Erkelenz. Gebirge und Land fc haften. Faft fämtliche Gebirgslandfdiaften der Provinz gehören bis auf die füdlichen Grenz(triche zum rheinifdien Sdiiefera gcbirge, das aus den vcrfchicdenen Abteilungen der Devonformation, zumei(t des unteren Devon, befteht. So hcrrfdien diefe auf dem Hunsrüd< vor, und zwar in feinen füdlichen Teilen Quarzit und Hunsrüd(fchiefer, in feinen nördlidien die jüngeren Koblenzfdiichtcn. Auf dem Hunsrück finden fich die höch(ten Erhebungen der Provinz. Urfprünglich nur auf das nordöftlidic Gebiet mit Kaftellaun als Mittelpunkt befchränkt, iß: die Bezeichnung Hunsrück jetzt allge^ mein der Sammelname für alle überwiegend von SW nach NO ßreidiendcn Gebirge geworden, die zwifchen der Nahe, dem Rhein, der Mofel, der Saar, der Prims und ihrem Nebenbach, dem Thelbach (deffen Quelle bei dem alten abtei» liehen Ort Tholey unweit der Nahe= und der Bliesquelle liegt), an(teigen. Loffen hat für diefe Gebirge den Namen „linksrheinifcher Taunus" geprägt, eine Bezeichnung, die den geologifchen und orographifchen Zufammenhang wcnigßens der Hauptketten mit dem eigentlichen Taunus klar wiedergibt, deren Ein- bürgerung jedoch einige Bedenken entgegenjtehen. Den Abfchnitt zwifdien dem Rhein und dem Hahnenbach, einem linksfeitigcn Zufluß der Nahe, der wie die mciftcn größeren Zuflüffc feine Quelle am Nordrand der Kette hat und das Gebirge durchbricht, nimmt der Soonwald ein. im öfllidißen Tcilabfchnitt zwifchen Rhein und Güldcnbadi, dem Bingerwald, erreicht der Kandrich eine Höhe von 637 m. Die Hauptkette des mittleren, des eigentlichen Soon zwifdien Gebirge und Landschaften 59 Güldcnbadi und Simmcrbadi bildet die Fortfetzung des Binger\»alds ; fic hat im Simmernkopf eine Erhebung von 653 m. Etwas höher ijt im Ellerfprung mit 658 m die füdlidie kürzere Kette des mittleren Soon, die durdi den in feinem Oberlauf parallel der Streidiriditung laufenden Gräfenbadi getrennt Nx/ird. Der niedriglte der drei Teile des Soon, der Lützelfoon z\x'ifdicn Simmer= und Hahnenbadi, hat im Womrahtcr Kopf eine Erhebung von 597 m. Iß: fdion der Soon ein prächtig bewaldeter Rüdx'orfen. Dichter bewaldet find die Bezirke Trier mit 34,86 % und befonders Koblenz mit 41,42 %. Unter dem Durdifdinitt der Provinz (tehen Köln (^O/H %)/ Aachen (27,06 %) und namentlich Düffcldorf (17,40 %). Natürlich treten auch innerhalb der Bezirke fehr bedeutende Unterfdiiedc auf. Die walda reid^lten Gebiete find die gebirgigen Kreife auf der rechten Rheinfeite, der Kreis Lenncp, die oberbergifdien Kreife Wipperfürth, Gummersbach (48,43 % find bewaldet) und Waldbröl, die Wefterwaldkreife Altenkirchen (54,37 %) und Wetzlar (49,42 %), fowic das Bergland des Kreifes Neuwied. Diefe Kreife lehnen fich an das große Waldgebiet des füdlidien Weftfalens (Altena, Mefchede, Olpe, Siegen [70,50 % Wald], Wittgenftein) an und (bellen fo das größte Wald« land Preußens dar. Der rheinifdie Teil des Wefterwaldes i(t der waldreid»|tc des ganzen Gebirges, das früher viel waldiger war als heute und namentlich in feinen höch(ten, außerhalb der Provinz gelegenen Teilen fehr (tark entwaldet i(t (der Oberwefterwaldkreis in Naflau hat nur 33 % Waldboden, der Kreis Wefter« bürg fogar nur 24 %). Nächßidem i(t der Hunsrüd (Zell, Bernka(tel 48,25 %, St. Goar 51,46 %) und das angrenzende Bergland des Kreifes Kreuznadi am waldreich ften. Audi das füdlidie Grenzgebiet an der Saar (Saarbrüdten) hat nodi beträchtliche Waldungen, Im Bergland nördlich der Mofel haben die Kreife der vulkanifchen Eifcl (Daun, Adenau) einen verhältnismäßig dichten Waldbejtand. In den weltlichen Teilen der Eifel (Prüm) und im eigentlichen Venn» und Ardennenland (Malmedy 26,34 %) if* bei unwirtlichen Höhen« und Boden» verhältniffen der Wald noch nidit fehr ausgedehnt, dagegen i[t die nordweftlichc Abdachung des Venns (Eupen und namentlidi Montjoie, 51 %) waldreidi. Unter den der Ebene angehörigen Kreifen, die nicht mit dem Maß(tabe gemeflcn werden dürfen wie die Berglande, fmd die Grenzkreife Kleve, Erkelenz, Geldern und namentlidi Rces (24,57 %) ar" waldreidi(ten. Den geringften Waldbcßiand haben die Gebiete des intenfiven Adterbaus und der Rheinebene (Greven« broich 2,2 %, Neuß, Krefeld Land, ferner Geilenkirchen und Köln Land 9,84%). Die Aufforjtungsbejtrebungen find feit der Fremdherrfchaft ganz bedeutend gewefen und werden bis in die ncucjte Zeit fortgefetzt. Sie fmd bei der [tärkeren Indu(trialifierung mandier niederrheinifchen Gegenden und des Saargebiets, die heute noch teilweife der Rodung unterliegen, nicht mehr fo offenfiditlich. 1878 nahm das Forftareal 8294 qkm ein, 1900: 8350. Stärker bewaldet war vor der preußifchen Zeit die Rheinebenc. Das war zwar audi nur nodi in kleinen, lofen Stücken — fo bei Efch und Pefch nordweftlidi von Köln, bei Stommeln, füdlich und nördlich von Neuß, bei Homberg und im Klevifdien — der Fall, immerhin zwingt aber diefe Tatfache, die vor kurzem verneinte Frage nach der Bewaldung der Rheinebene bejahend zu beantworten. Freilidi war namentlich der in den Bruchländcrcien gelegene Wald in denkbar fchledite(ter Verfaffung. Der damals noch weit ausgedehnte Stommcler Bufch war ein fumpfiger, kaum zu« gängiger Bruchwald. Teilweife macht die Entwaldung der weiteren Ausdehnung des Ackerbaus, teilweife der Induftrie Platz. So dehnt fich auf dem ehemaligen Waldgelände zwifchen Mors und Homberg die Arbeiteranflcdlung Hochheide aus, auf früherem Eichen» und Buchenboden liegen die Pfälzerkolonicn Neulouifcndorf und Louifcndorf . Es ßcht außer Zweifel, daß die Effcn-Werdcncr Stiftslande noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts großen Waldbejtand, namentlich an Buchen, Waldkultur, Öd- und Unland 71 aufwicfen. Aber fdion 1836 klagt v.Vicbahn über den Rückgang der Forfien infolge der neu cntftehcnden Siedlungen. Die Rodung an der Saar zur Förderung der Kolonifation der königlichen Bergwerksarbeitcr fetzte in den fedizigcr Jahren ein. Heute liegen auf gerodetem Boden die neuzeitlidien volkreidien Berg» arbeiterorte Elvcrsberg, Altenwald, Heiligenwald und Altenkelfel. Wohl nicht als letzte Holzung wurde am 1. Oktober 1913 der bei Sterkrade (allerdings fchon jenfcits der Provinzgrenze) gelegene Fernewald, indeden Sdiatten 1729 pfälzifche Koloniftcn die Kolonie Königshardt gegründet hatten, der Großindul^rie geopfert. Sind fo in fa(t allen induftriellen Strichen (z. B, auch bei Efdiwciler« Stolberg, weniger im Bergifchen, hier wohl noch am (tärk(ten in dem jetzt ziemlich waldarmen Niederbergifdien) Verlujte zu verzeichnen, fo muß die Tatfache nach» drücklich betont werden, daß gerade auch der Niederrhein nach 1815 ganz be» deutende Gewinne budien kann. Der linksufrige Niederrhein hatte zu Beginn der neuen Entwicklung durchaus nicht einen gewiffen agrarkulturellen Hoch(tand crreidit, den man ihm vicUeidit zufdireiben möchte. Am höch(ten ftand diefer anfcheinend in der Graffchaft Mors, dann im Klevifdien. Die zahlreidien nieder» rheinifchenWaldungen, die heute noch den Namen Heide (Sevelcner, Geldernfchc Heide, Löhrheide bei Straelen, Heronger und Wankumer Heide) führen, waren weit ausgedehntes Ödland, das nur zum klein(ten Teil als Torfland nutzbar gemacht war. Sehr beträchtlich wurde im 19. Jahrhundert das Ödland in den Stridien längs der hoUändifchen Grenze aufgefor|tet. Von Goch bis in die Nähe von Erkelenz i(t fehr viel Ödland aufgefor(tet worden. Namentlich feien hier die großen Forftdijtrikte bei Bracht, Elmpt, Oberkrüchten und Arsbeck erwähnt. Selbft die in der Nähe be(tehenden älteren Nadelwaldungen bei Wegberg und Wildenrath waren um 1800 fdilecht gepflegt und von Heide= und Ödland unter» brochen. Ganz befonders fei hier auch der Kultivierung der Bönninghardterheide, des weitausge(trediten Ödlandes zwifchen Iffum und Alpen, gedacht, die feit mehre=« ren Jahrzehnten einen von Ackerparzellen und Einzelhöfen unterbrochenen Nadel= wald dar(tellt. Eine der er(ten Aufgaben der preußifchen Forftkultur war die An» pflanzung der Kiefer auf dem dürftigen Heideboden zu beiden Seiten der Lippe. Das Jülicherland und die Lande um Köln hatten auch fchon vor 100 Jahren meijt nur nodi Parzellen wald. Bei den äußer(t fruchtbaren Bodenverhältniffen fchied natürlich das Bedürfnis nadi Auffor(tung des Landes, das vielleicht in größeren Teilen, etwa in Strichen der Kreife Grevenbroich, Jülich und Eus« kirdben, nie bewaldet war, aus. Glücklicherweife haben aber auch die wenigen größeren Waldungen wie die vielen Gemeinden gehörige „Bürge" eine nicht allzu nennenswerte Einbuße erlitten. Immerhin hing z. B. der Forft Hambach noch mit der Bürge zufammen, fo daß fidi das gcfchloffene Waldgebiet im Norden bis Pattern, Welldorf, Güftcn und Oberembt er(tredite. Zwifchen Körrenzig, Lövenich und Gevelsdorf madite ein etwas größerer Forft „Budiholz" reichem Ackerboden Platz. In den linksrheinifdien Bergländern haben hauptfächlich die Landfchaften der we(tlidien Eifel und des Venns an Waldbefitz gewonnen. Man kann annehmen, daß das Waldareal in diefen Teilen feit der preußifchen Befitz» nähme fich um das Doppelte vermehrt hat. Wie klein war z. B. in der franzö» (Ifchen Zeit das Waldareal im fpäteren Kreife Malmedy! Das Venn war fa(t ganz ein ödes, unwirtliches, fumpfiges, auch in feinen tiefergelegenen Stellen nur (tredienweife bewaldetes Gebirge. Von einer Pflege des Waldes konnte zunäch(t noch keine Rede fein. Im Gegenteil haben viele Gemeinden auch in den erften Jahrzehnten der preußifchen 72 n. W. Tuckermann, Landeskunde der Rheinprovinz a Zeit ihre Bcrghängc entwaldet, angeblich zur ackerbauUchen Benutzung, tat» fächlich aber zur Bcwcidung. Auf diefe Weife wurde natürlidi der Boden gelodtert, die am Fuße gelegenen Weinberge, Adier= und Wiefengelände wurden fdionungss los preisgegeben. Im Landkreife Trier ging die Ausdehnung kahler Felfen und Abhänge noch zu Beginn der fediziger Jahre vor fidi. Tatkräftig ift die Be» Waldung feitens des Staates feit den fünfziger Jahren betrieben worden, feit 1855 wurde fie nachdrüdtlidi im Regierungsbezirk Aachen begonnen, deffen Vcnn» landfdiaft feit dem Ausgang des Jahrzehnts aufgeforjtet wurde. Der Regierung war durch Verordnung vom 1. März 1858 die Möglichkeit gegeben, das Ödland Zwangs weife aufzuforjten. Trotzdem kämpfte fie mit dem Widerltreben und dem Unverftand der Bevölkerung, die lieber ihr Ödland zur Sdiiffel», Weide» und Streunutzung benutzt liegen laffen wollte. Alle Be(trebungen der Regierung, z. B. durch Auffor[tung der Boxberger= und der Sarmersbacher Heide im Kreife Daun beffere Kulturzuftände herbeizuführen, fdieitcrten nach Beck (1868) andern zähen Wider(tand der jedem Fortfehritt abgeneigten ärmlichen Bevölkerung. Die um 1858 mit Staatsmitteln auf den (terilften Höhenrücken angelegten Sdiutzwaldungen mußten fogar durch Militär gegen die Zerftörungswut gefdiützt werden. Auch die Beftrebungen des Staates, aus feinen Mitteln Privateigentum aufzufor|ten, das dann allerdings in den Befitz der Gemeinde übergehen follte, [ließen zunächft fa[t überall auf Widerftand. Trotzdem waren z.B. im Kreife Bit» bürg um 1865 nur nodi geringe Odlandflächen vorhanden, und im Hauptauffor(ta ungsgebiet der Eifel hatte der Staat von 1855 bis 1866 43 763 Morgen aufgcforß:et und die Wiederbewaldung weiterer 125 000 Morgen in Ausficht genommen. In der letzten Zeit ift die Waldkultur auch auf die Moorfläche des eigentlichen Hochvenns gedrungen. Von den rund 80 qkm des Vennplateaus find 38 qkm zur Aufforftung beltimmt. In der ö(tlid^en und nördlidien Eifel, in der vuU kanifchen und in der Vordereifel, fowie in den Ahrlandfchaften hat der Umfang der Forften nur geringere Änderungen erfahren. Audi die füdlidi von der Mofel gelegenen Gebirge weifen beharrlichere Vcrhältniffe auf. Die Abhänge, aber auch der Kamm des Gebirges haben von jeher einen fehr diditen Waldbc(tand, delJcn Umfang man auf 2300 qkm berechnet. Hier fmd die größten zufammenhängenden Waldungen unferes Landes. Der Umfang des großartigen gefchloHenen Waldgcbiets im 0(ten, des Soons und des Lützelfoons, i[t, vorfichtig berechnet, auf über 230 qkm beziffert worden. Noch weit größer i|t das zufammenhängende Waldgebiet des Idara und des Hochwaldes. Das fmd andere Zahlen, als fie der Klevifche Reichswald, den man oft als größten Wald der Provinz hin(tellt, mit feinen etwa 70 qkm aufweifl. Auch der Wefterwald, der übrigens in vielen feiner Gemeinden vorbildliche Bcifpiele einer guten Waldpflege aufweift, hat keine allzugroßen Veränderungen feines For(tbc|landes aufzuweifen. Die weftlidien Teile mit ihren vielen Tälern und Abfchnittcn haben nur kleinere Waldungen im Gegenfatz zu den Strichen um Altenkirchen, Wiffen und Betzdorf, die im engften Zufammenhang mit der nördlich der Sieg gelegenen Nutfeheid, dem größten Waldgebirge im Bergifchen, und den Im 0|tcn anfchließenden Hatzfeld«Wildenburgifchen Forften ein größeres, von kleineren Rodungen allerdings unterbrochenes Waldgebiet darftellen. Ebcnfo liegen in der füdöftlichcn Abdachung zwifchen Lahn und Dill und^wefl« wärts Gießen (Krofdorfer Forft) bedeutende Laubwaldungen. Fajt ganz waren zur Zeit der Befltzergreifung der Länder am Rhein durdi Preußen die Waldungen mit Laubholz beflockt. Die Eifel war wefentlich ein Waldkultur, Öd- und Unland 73 Gebiet der Buche, gegenüber der die Eidie zurüditrat. Heute nodi haben namentlich Hochwald und Hunsrück einen präditigen Buchcnbcftand. Weniger zahlreidi ift auch hier die Eiche vertreten, die feiten in reinen Beftänden auftritt. Umgekehrt hatten z. B. am linken Niederrhein die Waldungen, etwa im Kle= vifchcn, fdiöne Eichen, die feit den fünfziger Jahren dem Schälwald Platz machten. Aber auch in dem Bruchgebiet zwifchen Düffeldorf und Duisburg waren und fmd noch prachtvolle Eichenbejtände. Die Art der Bcftockung nahm unter dem neuen Regiment anderen Charakter an. Im Gebirge, fo im Vcnn und in der we|tlidhen Eifel, find faft nur Fichtenwälder cntftanden. Aber auch im alten Buchenland tritt immer mehr an Stelle des Laubbaumes das Nadelholz. Schon jetzt nimmt in der Eifel das Nadelholz faft '/i ^^^ gefamten Bewaldung ein. Auf den Hochlagen der füdlichcn Gebirge macht immer mehr die Buche der Nadel Platz. Im Oberbergifdien kann man fchon von einem (tarken Vordringen des Mifchwaldes fp rechen. Der dem Oberbergifchen vorgelagerte 25 qkm große Königsforft war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz überwiegend mit Eichen und in etwas geringerer Zahl mit Buchen bepflanzt, zum klein(ten Teil mit Wadiolder. Jetzt überwiegt auch hier vielleicht fchon das Nadelholz. Auch in der Ebene, z.B. in den Grenzdiftriktcn, herrfcht in den Neuanpflanzungen die Nadel bei weitem vor. Daneben hat man hier und da etwas Mifchwald bevorzugt. Die Waldungen zu beiden Seiten der Lippe, die königlichen Wala düngen von Hiesfeld auf beiden Flußufern, der Gartroper und der Hünxcrbufch füdlich der Lippe haben in ihren Mifdibeftänden ein überwiegen der Nadel, die jedoch in den wenig ergiebigen Stridien wohl immer heimifch war. In unferer Provinz und in den angrenzenden Bezirken, namentlich im Regierungsbezirk Arnsberg, ferner in der Pfalz, im Bezirk Wiesbaden und in Birkenfeld nimmt der Eichenfchälwald eine ganz bedeutende Stellung ein. Fa(t ^/4 fämtlicher Schälwaldungen des Reiches fielen im Jahre 1900 auf diefe Land» fchaftcn und faft 46 % allein auf die Rheinprovinz. Relativ und abfolut bei weitem am größten war der Schälwald im Bezirk Koblenz, wo er mit 932 qkm 36,26 % der gefamten Waldfläche einnahm. Danach folgt der größte Anteil an den Waldungen in den Bezirken Köln {24,79 %, 297 qkm) und Trier (23,68 %, 593 qkm), während der relative Anteil des Schälwaldes im Bezirk Aachen (16,11 %, 181 qkm) immerhin vom Bezirk Arnsberg (20,02 %, 648 qkm) über» troffen wird. Relativ und abfolut unbedeutend war die Schälfläche im Bezirk Düffeldorf (4,18 %, 40 qkm). Ganz überwiegend wurde der Sdiälwald von Gemeinden und Privaten gepflegt, während Genoffenfdiaften und Fiskus zurück» ftanden. Auf den Gemeindefchälwald fielen 1900 45,6 % der Gefamtfchälfläche (Regierungsbezirk Koblenz 61,3 %), auf den Privatwald 42,2 % (Regierungs= bezirk Köln 91,4 %). Als die heften Hänge für den Schälwald werden von altcrs= her die MofeU, dann die Nahehänge gepriefen, während die des Soonwaldcs, der Saarlandfchaft und der höheren Teile der Eifel nach den eingehenden Unter» fuchungen von Jentfch weniger gute Ware liefern, zumal die Bcftände fchr häufig nicht rein find. Im Ubergangsgcbiet der Eifel zum Niederland hat der fchöne Flamershcimerwald große Eichenfchälbc(tände (Schweinheim, Arloff, Ivcrsheim). Der Wefterwald, der fich eng an das Haubergsgebiet der Kreife Siegen und Olpe, die alte Heimat des Schälwaldes, anfdiließt, hat in feinen We(tabhängcn (fo bei Neuwied, Linz) guten Schälbeftand, das Bergifche bei Siegburg (Caldauen). Wohl im wefentlidien, aber lange nicht im vollen Umfange ift der Eichennieder= wald eine Errungcnfchaft der Neuzeit. Der feit den neunziger Jahren einfetzende 74 II. W. Tuckermann, Landeskunde der Rheinprovinz a Niedergang der Eidicnlohgcrbcrei fdilägt audi der Sdiälwaldkultur tiefe Wunden. Fafi überall i|t der Eichenfdiälwald in (larkcm Rüdkgang begriffen. Der jtaatlidie Schälwald im Bezirk Aadien (21,3 qkm) wird faß: völlig verfdiwinden. Der Staat beeinflußt jetzt als Auffichtsbehörde durdi Gewährung von Beihilfen die Gemeinden zur Überführung der Sdiälwaldflädie zum Nadelwald. Von den 571 qkm Gemeindefdiälwald im Bezirk Koblenz werden fo 169 qkm in Nadel» wald umgewandelt. Daß wirklid^ feit 1900 die Umwandlung des Niederwaldes fdion weit vorgcfdi ritten i(t, mag die Tatfadie beleuditen, daß der Sdiälwald in den Gebirgen füdlidi der Mofel, an denen er bis zu 500 m anfteigt, fdion nidit mehr ein Fünftel der gefamten Waldflädie umfaßt. Da den häufig redit bedürfe tigcn Privaten keine Beihilfe gewährt wird, fo wird in den Privatbetrieben die Umwandlung wohl nur langfam durd^geführt werden. In den Bezirken Köln (83,33 %) und Koblenz (82,80 %), nädifldcm im Trierer Bezirk i|t immerhin das Laubholz in den Wäldern (tärker vertreten als in den fon(tigen Teilen der Monardiie. In den Bezirken Aachen und Düffeldorf (Inkt der Anteil des Laubes fdion auf 50—60 % der Waldflädie. Man berechnet, daß reichlich ^5 ^^^ Laubwaldungen aus Budien beftehen. Im Rheinland ift feit jeher der Waldkommunalbefitz vorhcrrfchcnd. Fa|t V5 [amtlicher Waldungen find im Befitz der Gemeinden, im Bezirk Trier fa(t die Hälfte, im Bezirk Koblenz, dem alten Waldgcbiet, faß: ^s- In der Eifel ift die größere Hälfte Gemeindewald. In die kleinere Hälfte teilen fich in der Eifel Genoffenfchaften und Private — fo mediatifierte Herren und Großgrundbefitzer, wieder Herzog von Aremberg und Graf Bciffel — fowie mit dem verhältnismäßig klcinften Anteil der Staat, deffcn For(ten begreiflicherweife zum größten Teil im Welten liegen. Nur ziemlich genau V5 fämtlidier Waldungen der Provinz (1910 1667 qkm) gehört dem Fiskus. Vernältnismäßig ftark i(t der Anteil des Staates an den For(tcn in den Bezirken Düffeldorf, Trier und namentlidi Aachen (faß Ys)/ fchwadi in den Bezirken Koblenz und Köln (Vs)/ alfo gerade in den Gegenden, welche die größten Laubholzflächen haben. Wenn auch kein völliges Zufammenfallen, denn audi Gemeinden und Private pflegen den Nadelwald, fo zeigt fidi doch auch hier ein Zufammenhang des fiskalifchcn Bcfitzes mit der Nadclkultur. Die privaten Waldungen wiegen im Bezirk Köln mit rund •*/ß der Gefamtfläche weit vor. Im Rheinland ßnd auch die größten Ziffern ungebundenen Privatforßbefitzes. Am ßärkßen in der Monarchie iß diefer ungebundene Befitz Im Bezirk Köln mit 94,7 % der Privatwaldungen vertreten. Da der anderen Kulturen fpäter gedadit wird, fei hier noch auf die Vcr« breitung des Ödlandes aufmerkfam gemacht. Das Od= und Unland iß im letzten Jahrhundert ganz bedeutend auf Koßcn des Waldes, aber audi des Ackerbaues zurückgetreten. Manches iß fchon angedeutet worden. Der Kreis Prüm z. B. hatte 1831 noch 461 qkm Unland, d. h. genau die Hälfte des Kreisareals war unpro- duktiv. Im lahrc 1907 nahmen die Odländereien nicht mehr 100 qkm ein. Im Jahre 1878 waren in der Provinz 2632 qkm Weiden, Hütungen, Odo und Unland vorhanden, 1900 2532 qkm. In der franzöfifchcn Zeit dehnten fich nicht nur Im Vennhochland und in den angrenzenden Strichen der Eifel, nidit nur in der Hohen Eifel, im Qucllgebiet der Urft und Kyll, fondern auch an Stellen, die heute einem mäßigen Ackerbau gewidmet ßnd, fo im wcßlichcn Vorland des Osburger Hochwaldes, zwifchen Pcllingcn, Lampaden und Pluwig, ferner bei Schillingen und Kell Odländereien aus. Auch das Bitburger Land barg dort, wo heute leidlicher Ackerboden Iß, viel Heideland, z. B. bei Neuerburg und D Volkstum und konfessionelle Zusammensetzung 75 Arzfcld. An vielen Stellen des Niederrheins, fo in der Nachbarfdiaft des Bürge« waldes, waren Odland(lrecken. Im Kempcr und im Gladbacher Land, ja vor den Toren Krefelds, nördlidi im Kliedbrudi und auf dem Hülferberg, füdlich in der beträchtlidien Fifcheler und Wilicher Heide, waren unproduktive Ländereien. Die vielen Bruchlandjtrecken, die heute teilweifc Wald= teilweife Wicfenboden haben, lagen mei(t unbcwirtfdiaftet da. Bemerkt werden mag allerdings, daß aus den älteren Darjtellungen nicht immer zweifelsfrei hervorgeht, ob man es mit geringeren Wcideflädicn oder mit tatfädilichem Ödland zu tun hat. Ebenfo laden fich über die heutige Verbreitung des wirklichen Unlandes in der Rhein» provinz anfcheinend keine einwandfreien Zahlen erbringen, da noch keine volle Qbereinftimmung in der Handhabung der Begriffe hcrrfcht. Die oben mitgeteilte amtliche Stati(tik fchlicßt auch Weiden und Hütungen ein. Soviel (tcht jedenfalls fe[t, daß in denjenigen Teilen der Eifel, die das ausgedehntejte Höhengebiet der Provinz, eine durchfchnittliche Erhebung von über 500 m haben, in den Krcifen Adenau, Daun, Prüm, Sdileiden, Malmcdy und Montjoie, auch das meifle Ödland liegt. Nach der Zählung des Jahres 1900 nimmt im Kreife Malmedy das Unland 18,1 % des Bodens ein, im Kreife Adenau 12,6, Prüm 1 1,4 und Montjoie 9,3 %. Ob tatfächlich diefer Boden im vollen Umfange Ödland iß:, fcheint fraglich zu fein. Jedenfalls ift feitdem der Anteil des Unlandes weiter zurückgegangen, ebenfo wie auch der hierin enthaltene Anteil der Moore, der 1899 nur 1,7 % des gefamten Areals der Provinz und hiermit den klein(ien Anteil am Boden aller prcußifchen Provinzen einnahm. Moore von größerer Aus» dehnung hat noch das Venn, obwohl auch hier die Bewaldung z. B. in unmitteU barer Nähe des höchß:en Punktes, der Botrange, und der belgifchen Grenze fchon beträditlich zugenommen hat. Audi die Schncifel hat noch Moore, die an der Wcftfeite an die Stelle früherer Laubwälder getreten find. Moore von kleinerer Ausdehnung gibt es auch am Niederrhein längs der Landesgrenze, fo bei Straelen und Goch. Manche Stredten, die ihren ehemaligen Moorcharakter nodi in ihren Namen (Weezer, Wember Vecn) fejthalten, find heute dem Ackerbau unter» worfcn. Od= und Unland i(t aber auch dem ö(llidien Niederrhein, den Kreifen Rees und Dinslaken, die an das Münjtcrland mit feinen weit ausgedehnten Strichen unergiebigen Landes (toßen, nidit ganz fremd. Viel Ödland liegt heute noch im Kreife Malmedy bei Büllingen und Losheim, ferner in den anderen Eifelkreifen bei Schmidtheim, Reetz, Tondorf, Aremberg, Virneburg, Leiden» born und Habfeheid (Kr. Prüm). Das Waldgebirge füdlidi der Mofel hat trotz der hödi(ten Erhebungen der Provinz nur geringe Stredten Od» und Unland. Und auch der unfcrcr Provinz angehörige Teil des Wefterwaldes i(i Verhältnis» mäßig begünf^igt. Volkstum und konfeffionellc Zufammenfetzung. Die Bevölkerung unfcrcr Provinz gehört fa|l ganz dem fränkifchen Volksftamm, und zwar der bei weitem größere Teil feinen mitteldeutfdicn Beflandteilen an. Die Südgrenze der nicderdeutfdien Mundarten dehnt fidi von dem füdwcftlidien Vorfprung des ehemaligen kurkölnifchen We(tfalen, dem jetzigen Kreis Olpe, nordweflwärts, fo daß Eckenhagen und mit ihm der Kreis Waldbröl außerhalb, dagegen Bergifch Neuftadt und Gummersbach und hiermit der größte Teil der alten Hcrrfdiaft Gimborn innerhalb des niedcrdcutfchen Sprachgebiets liegen, ebenfo wie der kleinere, nordö{tlichc Teil des Kreifcs Wipperfürth famt der Kreis|tadt. Nur ein fehr kleiner Teil des Bezirkes Köln gehört fomit dem niedcrdcutfchen, und zwar dem wejtfähfchen, Sprachgebiet an. In überwiegend nordwcftliAcr Richtung 76 H. W. Tuckermann, Landeskunde der Rheinprovinz D läuft die Linie, die wejtlidi von Hüd Zählung (1910) waren in der Rheinprovinz 29,46% (2097619) cvangelifch, 69/03% (4 9»6 022) katholifch, 0,41 % (28 997) andere Chrijlen, 0,80% (57 287) Juden und 0,30% (21 215) andere und ohne Angabe. Es läßt (Ich immer noch eine, wenn auch verlangfamtc prozentuale Zunahme der Evangclifchcn, die fich vornehmlich in den wirtfchaftlichen Mittelpunkten vollzieht, fcft(tellcn. 1828 waren 22,24% der Bewohner evangelifch, 1890 fa(t 28, 1905 29,17, 1910 29,46%. Dagegen nehmen Katholiken und Juden ab. Die Abnahme der letzteren i(l verhältnismäßig fehr beträchtlich. In den Bezirken Aachen, Trier und Koblenz gab CS 1910 weniger Juden als 1900, Die einzige große Stadt mit einem etwas ftirkcrcn Anteil jüdifdier Bevölkerung ift Köln. Ferner i(^ in einigen mei(l ganz kleinen Gemeinden des Jülicher Flachlandes, der Mofel-Saargegend, des Huns> D Siedlungsweise und Volksbewegung 79 rüdts und des Wcftcrwaldes der Anteil der Juden, etwas größer. Eine Reihe von Eifelkreifen (Adenau, Montjoic, Malmedy, Prüm, Daun), der Kreis Eupen und die oberbergifdien Kreife haben faß: gar keine Juden. Siedlungsweife und Volksbewegung. In der Siedlungsweife laffen fldh gleidifalls bedeutende landfdiaftlidie Untcrfdiiede feftftellcn. Der Nicdcr= rhein i|l gleidi dem anftoßenden lVlün[terland das Gebiet des Hoffy(tems. Wie weit die Grenze des Hoffy|tems nach Süden rcidit, darüber haben Sdiwerz, Meitzen und Lampredit voneinander abweidiende Anflehten geäußert. Während aber Meitzen die Grenze viel zu weit nadi Süden zieht, läßt fie Sdiwerz bedeutend nördlidier verlaufen. Namentlich i|t es offenbar nicht ganz leicht, die Zuge» hörigkeit des Bcrgifchcn feftzuftellen. Schwcrz läßt es im Gegenfatz zu Meitzen außerhalb des Hoffy(tems liegen. Ohne hier auf Einzelheiten einzugchen, fei bemerkt, daß die Siedlungswcife des Nicderbergifdien nördlich von der Linie Hildcn=Haan=Elberfeld, das noch den politifchen Begriff der Honnfdiaften und Baucrfchaften kennt, dem Hoffyftem einzugliedern i|t. In den übrigen Teilen des Bcrgifchen Landes wird man fchon von einem Vorwiegen des Dorffyftems reden muffen. Freilich find die Siedlungen hier mei(t klein, aber es handelt fich doch, was eben wefentlidi i(t, um ein gefelliges Auftreten der Wohn(tätten. So hat z. B. der fchwer zugängige, aber nicht indu(triearme Kreis Waldbröl etwa 75 Ortfchaftcn über loo Einwohner, aber kaum ein halbes Dutzend über 500 Seelen. Auf der linken Rheinfeite gehören die Umgebungen von Kempen und Krefeld ohne Zweifel zu dem füdlidien Grenzgebiet des Hoffyftems. Bemerkenswert ift, daß in der Rheinebenc auf beiden Seiten das Dorffy|tcm weiter nach Norden reicht als in den (tromabfeits gelegenen Gebieten, etwa bis HombergsDuisburg. An das belgifdie Gebiet des Hoffyßems um Lüttich und Verviers fchließt fich das von Aachen und Eupen an. Eine Mifdiform, die zwar entfchieden mehr Dorfcharakter hat, nidit feiten aber als identifch mit den Hofflcdlungen behandelt wird, ßiid die Brudifiedlungen, die fich namentlich an ehemaligen und jetzigen Flußläufen, aber audi an tertiären Höhenrüdx'ic das Gebiet zwifdicn der oberen Ahr und der Urft die fchwädi[te Befiedlung. In den Randgebieten, in den größeren Flußtälern, die zur Maas und zur Mofcl abwä(Tern, in der Nadibarfchaft des Rheines, im Einflußgebiet der großen Städte i(t entfprediend einer diditeren Befiedlung auch die Zahl der größeren Orte beträditlidier. So in der Südwefteifel, im Bitburger Land, das mit dem benachbarten Luxemburgifchen nidit nur die Gemeinfamkeit der gefchiditlidien Entwicklung in der Tcrritorialzeit teilt. Hier ift im 19. Jahrhundert mandies Land neu befiedelt worden. Kann man diefes Gebiet wie auch das Lieferbecken (Wittlich) nur mit gewiffen Einfchränkungen zur Eifel rcdinen, fo nodi weniger das Maifeld und namentlidi die Pellenz. Hat fdion das Bergland nördlich der Mofellinie Kochem=Hatzenport, füdlidi der Quereifelbahnß;redsladi» dem dann auch nodi der Verfuch Hardenbergs vom Jahre 1820, den gefamtcn preußifchcn Staat von unten herauf durch eine Reorganifation der Landge- meinden, Städte und Krcifc aufs neue aufzubauen und zunächft dicfcn Korpo- rationen ein größeres Maß von Sclbflverwaltung einzuräumen, worauf fich das verheißene Repräfcntativfyftcm des Gefamtftaatcs gründen follte, fehlgefchlagen war, brach die Reaktionszeit herein, in der die Ordnung der Kommunalvcrbände auch im Weften in der Weife vollzogen wurde, daß man die auf die agrarifchen Zuftändc des Olsens zugefchnittencn Einrichtungen einfach dorthin verpflanzte. Zwar ward den Rheinländern die [lädtifche Selbflvcrwaltung in der Form der Vorbemerkungen 91 Stcinfchcn Städtcordnung von 1808 oder der revidierten Städteordnung von 1831 zur Annahme mehrfach angeboten. Aber felb(t die Städte traten für die Einheit= hchkeit der Gemcindeverfaflung ein und lehnten die Selbltverv^altung ab, vor allem, weil man beforgte, daß die Sdicidung von Stadt und Land auch eine vcr» fchiedenc reditlidie Bewertung des Städters und Landbewohners im Gefolge haben könnte. Weder die Provinzialordnung von 1823/24 noch die Kreisord= nung von 1827 entfpradh den Anfchauungen, weldic man fich in den Rheinlanden von örtlidien Vertretungen gebildet hatte. Erwediten fic dodi die Vorrechte der Rittergüter kün(tlid» wieder zu neuem Leben, trotzdem folchein einzelnen Kreifen, ja in ganzen Regierungsbezirken der Rheinprovinz kaum mehr vorhanden waren. Und noch die einheitliche rheinifche Gemeindeordnung von 1845 zog den Kreis der GemeindcgenolTen recht eng, indem fie nur den fogenannten Mei|ts beerbten die Gemeinderechte, das Wahlredit und die Teilnahme an der Ge» meindeverwaltung, einräumte. Was als Kommunalangelegenheiten den Bera» tungen und Befchlüdcn der einzelnen Gemeindeverbände überladen wurde, war überaus gering, insbcfondcrc befchränkte fich die Selb(tverwaltungstätigkeit der Provinzial(tände zunädi(t nur auf die Teilnahme an der Leitung und Ubera wachung einiger Wohltätigkeitsanjtalten. Das dcutfchc Prinzip der Selb(tverwaltung — die Verrichtung jtaatlidier Funktionen durch dem Staate untergeordnete, aber innerhalb ihres Wirkungs= kreifes felbftändige Perfönlichkeiten, wie es allgemein formuliert wird — i(t in den Rheinlanden zuerft durch die Städtcordnung für die Rheinprovinz vom 15. Mai 1856 in größerem Umfange zur Geltung gelangt. Der Provinz und den Kreifen hat dann die nach dem Kriege von 1866 einfetzende Reform der allgemeinen Landcsverwaltung weitergehende Selbftverwaltungsrechte gebracht, durch weldie die Provinzialverwaltung als ein felbftändiges Glied neben die Staatsverwaltung in der Provinz getreten i(t. In der Rheinprovinz kam diefe Neuordnung er|t Ende der aditziger Jahre völlig zur Ausführung, und einen befriedigenden Aus= gleidi zur Beteiligung der lci(tungsfähig(ten und berufenften GemeindemitgUeder an der Verwaltung der Ortsgemeinde hat man hier trotz der immer aufs neue eingeleiteten Verhandlungen über eine Änderung der Gemeindeordnung bis auf den heutigen Tag noch nicht gefunden. Durch die Gründung des Deutfchen Reiches im J. 1871 i|t eine weitergehende Umge(taltung der preußifdien Landesbehörden nidit erfolgt. Nur Poftund Tele» graphie fmd zu Rcidisverkehrsan(taltcn erklärt worden. Ferner wurde das [taat» lidie Bankwefen dem Reidie überwiefen, was die Gründung der Reichsbank im Gefolge hatte. Da diefe Behörden in den dem Wirtfchaftsleben gewidmeten Ab= fchnitten dicfes Werkes eine eingehendere Berüdifiditigung finden, i|t davon abge» fehen, deren Organifation in diefem Abfdinitt näher darzulegen. Das gleiche gilt von den Eifenbahnen, von der Gencralkommiffion und den als Intereflcns Vertretungen eingerichteten Handels», Handwerks» und landwirtfchaftlichen Kammern. Das Reich überläßt im übrigen die Verwaltung der ihm zugewiefcnen Angelegenheiten im Gefundheits=, Heimats=, Verficherungs» ufw. =Wefen mei(^ den Landesbehörden, foweit nicht durdi das Reichsverficherungsgefetz von 1911 die Sdiaffung von neuen Verficherungsftellen — die Oberverficherungsämter fmd den Regierungen angcfchloffen — notwendig geworden ift. 92 III. Th. Ilgen, Organisation der staatlichen Verwaltung und der Selbstverwaltung d Erstes Kdpitel. Die Einteilung und Organisation der Provinz. Der ficgrcichc Feldzug 1813/14, wcldier Deutfdiland vom franzöfifdicn Joche befreite, (teilte Preußen nicht nur in feinen alten Gebietsgrenzen wieder her, fondern bradite ihm audi bedeutende Neuerwerbungen, deren Zuteilung auf dem anfangs November 1814 eröffneten Wiener Kongreß erfolgte. Unter ihnen (tanden die Rheinlande, die fchon in der Übergangsperiode, in der Zeit der Generalgouvernements, zumei(t von preußifchen Beamten verwaltet worden waren, mit an erfter Stelle. Wenn anfänglich diefer weftlidie Befitz von preußifcher Seite nicht fo hoch eingefchätzt wurde, fo lag das vornehmlidi an feiner exponierten Lage auf der Grenzwehr gegen Frankreich. Und es hat der Arbeit von mehr als einem halben Jahrhundert bedurft, um audi die innere Verbindung der Rheinprovinz mit dem preußifdien Staat herbeizuführen; fie i(t recht eigentlich erft durch den deutfchen Einheitskampf von 1870/71 befiegelt worden. Der Länderzuwachs, den Preußen als Lohn für feine gewaltigen Opfer im Befreiungskriege davontrug, machte eine Neueinteilung des gefamten Staats« gebietes notwendig. Sie erfolgte durdi die Verordnung vom 30. April 1815 wegen verbefferter Einrichtung der Provinzialbehörden, welche den preußifchen Staat in zehn Provinzen und fünf Militärabteilungen teilte. Die ^^Rheinländer", wie man fich damals ausdrückte, und Weftfalen bildeten zufammen die Militär« abteilung NiederrheinsWeftfalen. Für die Zivilverwaltung war die Zerlegung der Rheinländer in zwei Provinzen in Ausficht genommen, von denen die eine den Titel Kleve=Berg, die andere den des Großherzogtums Niederrhein führen follte. In der Provinz Kleve=Berg fah die Verordnung zwei Regierungen vor: die eine in Düffeldorf für das ehemalige Herzogtum Berg und einen Streifen auf dem linken Rheinufer, die andere in Kleve für die früher fdion preußifch gewefenen Herzogtümer Kleve und Geldern nebft dem Fürftentum Mors. Daß in dem letzteren Bezirk auch das Nieder(tift des ehemaligen Erzbistums Köln enthalten war, kommt in der Verordnung nicht zum Ausdruck, wie man denn überhaupt bei der offiziellen Nomenklatur auf die früheren geifllidien Fürften» tümer Köln und Trier gar nicht zurückgegriflFen hat. Denn die zweite Provinz, die vorwiegend aus deren ehemaligen Landesteilen beftand, erhielt die Bezeidi* nung Großherzogtum Niederrhein. Mit ihren beiden Regierungen zu Koblenz und Köln follte {ie das Gebiet des früheren Herzogtums Jülich und alles Land, das füdwärts davon bis über die Mofel hinaus lag, umfaffen. Sie crftreckte fich jedoch nur auf die linke Rheinfeite. Als Sitze der Oberpräfidenten diefer beiden Provinzen waren Düf^eldorf und Koblenz in Betracht gezogen. Nachdem am 15. Mai 1815 der Gencralgouvcrneur der vereinigten Gouvernements Nieder« und Mittclrhein, der Geheime Staatsrat Johann Auguft Sack, der 1764 in Kleve geboren war, im Namen des Königs die feierliche Huldigung der Rheinländer in Aachen entgegengenommen hatte, und Juj^us Grüner, der bisherige Gouverneur des Generalgouvernements Berg, am 18. Juni 1815 feines Amtes entbunden und diefes Generalgouvernement aufgelöfi war, begann unter Sacks Leitung die Organifation der neuen Provinzen. Zu diefem Benufe wurden mit einer allgemeinen Inftruktlon für die Oberpräfidenten der Monarchie und einer befonderen Inf^ruktion für die Rheinprovinzen, die beide D I. Die Einteilung und Organisation der Provinz 93 vom 3. Juli 1815 datiert find, als OrganifationskommilTarc Graf Friedrich zu Solms=Laubadi und der Geheime Regierungsrat Philipp von Pcjtel (aus Minden gebürtig) in die Rheinlande entfendet, der er(tere um die nötigen Maf^regeln in Köln zu treffen, von Pcftel als Organifator des Koblenzer Bezirkes. Sadt galt damals als der zukünftige Oberpräfident der Provinz Kleve=Berg. In der Eigen» fchaft eines Beauftragten der ein(tweiligen Oberverwaltung der königlidicn Rheinprovinzen hatte er am 10. Auguft 1815 mit dem Grafen Solms und Herrn von Pe(tel eine Beratung in Koblenz und madite von hier aus audi dem Publikum die geplante Organifation der neuerworbenen Länder bekannt. Die Konferenz diente vornehmlidi dem Zwed<, fidi über die Befdiaffung des nötigen Akten= und Kartenmaterials als Unterlage für die Abgrenzung und Einriditung der Regie» rungen und ihrer Unterbezirke ins Einvernehmen zu fetzen und die Grundfätzc zu vereinbaren, nadi denen diefe zu gefdiehen habe und die Beamten für die neuen Regierungen zu gewinnen und anzu(tellen feien. Da die erwähnte Inftruk» tion die Befetzung der Dircktorpo(ten bei den Abteilungen der Regierungen mit altpreußifdien Beamten und deren Beftallung durdi das Miniß:erium verfügt hatte, handelte es fidi für die Kommiffare um die Regierungsrätc, Landräte und das Kanzleiperfonal. Da|> für deren An(tellung der Indigenat den Vorzug abgeben follte, war in der In(truktion ausdrüddidi betont. Graf Solms hat diefer Frage feine ganz befondere Aufmerkfamkeit gewidmet. Er klaffifizicrt die in Betracht kommenden cinhcimifdien Perfönlichkeiten in folgender Weife. Als er(te Klajlc bezeichnet er diejenigen, weldie zur Zeit der franzöfifchen Hcrrfdiaft kein Amt wieder übernommen oder erhalten hätten. Bei den mei(tcn werde das höhere Alter ein Hinderungsgrund fein, fie für ein Amt aufs neue zu verwenden, das keine Sinekure werden follte. Die fogenannten Cisrhenanen, die zweite Klafle, welche die Selbftändigkeit der Rheinlande anftrebten, wären verbittert, da ihre Hoffnungen abermals getäufdit worden. Tüditige Männer aus diefem Kreife könne man wohl heranziehen, nur dürfe man fie nicht zu mehreren in ein Kolle» gium zufammenbringen. Die dritte Klaffe, die franzöfifchen Angeftellten, würde die größte Zahl von Anwärtern liefern, man müflc jedoch diejenigen, weldic fich durdi ihr Verhalten während des fremdherrlidien Regimes verhaßt gemacht hätten, ab(toßen. Solms wehrt fich auch dagegen, daß man von den höheren Beamten, die übernommen oder neu ange(tellt werden follten, gemäß den altprcußifchen Vorfdiriften die Ablegung eines Examens fordern wolle. Die vorbereitenden Arbeiten der Kommiffare wurden durch Änderungen, die ein Erlaß vom 9. November 1815 für den er(ten Organifationsplan befahl, unterbrodien. Da man die nördliche Provinz nunmehr aus vier Regierungs» bezirken, Aachen, Düjfeldorf, Kleve und Köln, zufammenfetzen wollte, zu deren Oberpräfident jedodi Sadi dcfigniert blieb, wohingegen im Großherzogtum Niederrhein nur zwei Bezirke, nämlich Koblenz und Trier, vorgefehen wurden und der Graf zu Solms=Laubach deren Verwaltung mit dem Sitz in Koblenz übernehmen follte, erhielt diefer, dem inzwifchen noch der Geheime Regierungs» rat von Reiman aus Aachen als Hilfskraft beigegeben war, die Weifung, die Vorbereitungen zur Organifation der Provinz Niederrhein in Koblenz fortzu» fetzen. In Trier war zu diefem Zwedx'altung an das Rcidi. Ferner liegt dem Obcrpräfidentcn die Stellvertretung der oberften Staats« bchörden in bcfonderem Auftrag und bei außcrordentlidier Vcranlaffung ob, fo bei Konflikten der Regierungen untereinander und mit anderen Behörden, in Fällen unvorhergefehcner Ereignilfe, bcfonders wenn Gefahr, fei es im Frieden oder im Kriege, im Verzug i(t. Endlidi waren oder find nodi heute dem Oberpräfidentcn, fofern nidit der Provinzialrat an feine Stelle gcrüdit i(t, aus bcfondercn Rüdkfiditen die Ent» fdieidungen in beftimmten Kommunalangclegcnheiten, das Sparkaffenwefen, Konzeffionen zur Anlage von Apotheken, die Bewilligung von Kram= und Vicha markten, Konzeffionen für Schaufpiclgcfellfchaften, die Genehmigung zur Grün= düng gemeinnütziger Anftalten, die Erlaubnis zu öffentlidien, nidit kirdilidien Kollekten und ähnlidie Gegenj^ände überwiefen. Während in früheren Zeiten bei Krankhcits= oder anderen Behinderungs* fällen der Oberpräfident durdi einen vom Staatsminijterium be(tcllten Sub= ftitutcn vertreten wurde, gehen feit dem Jahre 1888 in foldien Fällen die Gefdiäfte cinfadi auf den hierzu beftimmten Oberpräfidialrat über. Bereits durdi die Verordnung vom 30. April 1815 war am Hauptort jeder Provinz für Kirdicn» und Schulfachen ein Konfiltorium und für die Medizinal^ polizci ein Medizinalkollcgium vorgefehcn, die beide der fpezicllen Leitung der Oberpräfidenten unter(tellt wurden. Sic haben unter dem 23. Oktober 1817 befondere Dienftanweifungen erhalten, die durdi die Order vom 31. Dezember 1825 einige Änderungen erfahren haben. Das Konfijtorium für Kirchen= und Sdiulfachen wurde im Jahre 1825 getrennt; feitdem bcftcht das ProvinzialfchuU kollegium und das Konfi(torium für evangelifche geiltliche Sadien, während von demfelbcn Zeitpunkt ab der Oberpräfident allein als der (taatlidie Vorgefetzte der Vertreter der katholifchen Kirdie in der Provinz gilt. Entfpredicnd der verfchiedencn Verfaffung der evangelifdien und der römifdi=katholifchen Kirche greifen die Befugni(Tc der Staatsbehörden auch in fchr ungleichartiger Weife in das Kirchenlebcn der vcrfchicdcnen Konfcffioncn ein. Während das Konfiftorium Hüter der Synodal verfaffung der evangclifchen Kirchen ift, die Aufficht über den Gottcsdienß: und deffen Anordnung im allge» meinen führt, die Kandidaten für das gci|tliche Amt prüft und ordiniert, die Gciftlichen in ihrer moralifchen Haltung und Amtsführung kontrolliert, gehören derartige BcfugniJTe in der katholifdien Kirdie zum Amtskreis der Bifchöfe. Der Oberpräfident hat vornehmlich die Aufgabe, darüber zu wachen, daß von feiten der oberen Behörden der katholifchen Kirdie keine Bejtimmungen getroffen werden, die in Widerfpruch mit den gefetzlichen Vorfchriften des Staates (tchen. Auch übt er ein Auffichtsrecht über die Anftalten zur Ausbildung der katholifchen Gciftlidikeit und kann nach der neueren Gefetzgebung die über» tragung eines geiftlichcn Amtes an eine nicht genügend qualifizierte Perfönlidikcit Die Rheinprovinz 1815 — 1915. 7 98 III. Th. Ilgen, Organisation der staatlichen Verwaltung und der Selbstverwaltung d bcan|tandcn. Ferner unterliegt die bifdiöflidie Vermögensverwaltung (^aatlidier Kontrolle. Nadidem die Selbftändigkeit der Kirdicn aller Konfeffionen, weldic die VerfafTungsurkunde von 1850 verkündet hatte, durdi die fogenannte Maigefetz« gebung 1873/75 für die katholifdie Kirdie wefentlidi eingefdiränkt worden war, haben die Gefetze der aditziger Jahre dicfe einfdbränkenden Bejtimmungen zum Teil wieder befeitigt. Die Verwaltung der Angelegenheiten der evangclifdien Kirdien i(t, fowcit fie vordem von den Regierungsjtcllen in der Provinz ausgeübt wurde, durdi das Gefetz betreffend die evangelifdie Kirdienverfaffung vom 3. Juni 1876 und die Verordnung vom 5. September 1877 vollftändig an das Konfijlorium übergegangen. Der Oberpräfident hat audi nidit mehr den Vorfitz in dem kollegial zufammengefetzten Konfi|torium; dejlcn Spitze führt vielmehr feit 1910 den Amtstitel „Präfident". Das Konfiftorium reffortiert nunmehr vom Evangelifdien Oberkirdienrat in Charlottenburg. Die Sdieidung der Amtsbefugniffe zwifdicn dem Provinzialfdiulkollegium und den Regierungen hinfiditlidi der Sdiulangclegenheiten beruht auf folgender Grundlage. Die höheren oder, wie man fidi vordem ausdrüdrovinzen darauf an, den DomänenbeOtz überhaupt er[t auszumitteln, was chon dadurch erfchwert wurde, daß infolge der veränderten Verwaltungs- organifation die Befltztitel unter den neuen Behörden ausgctaufcht werden mußten, abgefehen davon, daß bei der Flucht der Franzofen auch darauf bezüg- liches Aktenmaterial mitgeführt worden war. Zu diefem Zweck wurden bei den einzelnen Regierungen Kommifflonen zur Liquidficllung der Domänengefälle n II. Die staatlichen Behörden: Die Regierungen und ihre Unterbehörden 105 und zur Ermittlung verdunkelter, verweigerter oder illiquider Domänengefälle eingerichtet, die ihre Tätigkeit in den er(ten zwanziger Jahren ausgeübt haben. Ihre Gcfchäfte find dann allmählich an die örtlidien Renteien übergegangen. Sie hat man fukzeffive aufgclöft, je nachdem der Domänenbe|tand im Bezirk durch Veräußerung abgejtoßen wurde. Von ehedem 23 Rentämtern im Re= gierungsbezirk DülTeldorf be(tanden 1866 noch je eine in Kleve und Dinsa laken, weil hier noch größere Pachtgüter aus vorfranzöfifciier Zeit erhalten geblieben waren. Heutigen Tages find auch fie aufgelöft, da die Güter in dicfer Gegend ebenfalls verkauft find. In den Regierungsbezirken Koblenz und Trier i(t noch Domanialbefitz vorhanden, der zumei(t aus Weinbergen be(teht. Deshalb hat man der Regierung in Trier eine befondere (taatlidie Weinbaudirektion angegliedert, unter deren Aufficht auch die Domänenkellerei dafelb(t verwaltet wird. Bei der Regierung in Aadicn gibt es ebenfalls eine Domänenadmini|tration für einige größere, zumci(t in der Eifel gelegene Domänengütcr. Son(t haben fidi die Domänenabteilungen der Regierungen nodi vielfach mit den Anfprüchen zu befdiäftigen, welche katholifche Kirdien, infofcrn fi^ ehemalige KJofterkirchen oder Klöftern inkorporierte Kirchen gewefen find, gegen den Fiskus als Befitzer des fäkularifierten Kirchengutes auf Beiträge zur Unterhaltung der Kirchen und Pfarrhäufcr erheben. Zur Zeit macht audi die Feß:(tellung der Fifchereigerechtfame und des {taatlichen Anredits insbefonderc an den Rheinwerdern nicht feiten eingehendere hi{torifAc Unterfudiungen notwendig. Im Zufammenhang hiermit fei der großen Verdienfte der Regierungen um den einheitlichen Ausbau der Deiche gedacht. Die Regelung diefer Angelegenheit geftaltete fich um fo fchwieriger, als die namentlich am Niederrhein beftehendcn Deichverbände oder Deichfehauen — mit die älteften genoffenfchaftlidien Organi« fationen, die in den Rhcinlanden vorhanden find und fich bis heute in der alten Form erhalten haben — beim Beginn der preußifchen Herrfdiaft mci(t fehr (tark verfchuldet waren. Zahlreiche neue Verbände wurden befonders am oberen Rheinlauf gegründet. In diefen handhabt der Deidihauptmann die örtliche Deichpolizei, während die (taatliche Auffidit innerhalb der Regierungsbezirke durch königliche Oberdeichinfpektoren ausgeübt wird. In Regierungsbezirken, in denen eine entfprechende (taatliche For(ifläche vorhanden i(t, leitet das For(twefen ein Oberfor[tmei|ter, dem Forfträte (früher mit dem Titel Forftmeijter), die am Sitze der Regierung wohnen, zur Seite (tehen. Die Forfträte verwalten gleichzeitig eine der Forftinfpcktionen, in welche die einzelnen Regierungsbezirke geteilt find, und führen die Aufficht über die Ober» för(l:ercien ihrer Infpektion fowic die Überwachung des For(thaushalts. Da der fiskalifche For(tbefitz in den Regierungsbezirken Düfleldorf und Köln gering i|t, beftcht hier nur je ein Infpektionsbezirk mit fünf bezw. vier Oberförftereien, von denen bei Düffcldorf vier auf das alte klevifche Gebiet fallen. Dagegen zählt der Regierungsbezirk Aachen drei For(tratsbezirke mit zehn Oberförftereien, Koblenz vier mit elf Oberförftereien und Trier fünf mit 18 Oberförftereien. Den Oberförftern liegt die eigentliche Betriebsverwaltung ihrer Forftrevicre ob, wozu ihnen Förftcr und Forftauf feher beigegeben find. Der Waldbeftand, Holzfchlag und Kulturbetrieb fowohl wie die Jagden find ihrer Fürforge anver« traut. Die Verwaltung der Kommunalforften ift zwar durch die Verordnung vom 24. Dezember 1816 betreffend die Verwaltung der den Gemeinden gehörigen Forften, die am 12. Auguft 1839 erneuert wurde, von der der königlichen Forjtcn 106 HI. Th. Ilgen, Organisation der staatlichen Verwaltung und der Selbstverwaltung □ getrennt, den Regierungen (teht jedodi das Auffichtsredit darüber zu, das gewöhnlidi im Rahmen der Forftinfpektioncn ausgeübt wird, denen die in ihrem Bezirk liegenden Kommunal=Oberför(tereien zugeteilt find. Die Verordnung vom 31. Dezember 1825 hatte zwar auch bei den Regier rungen eine IV. (111.) Abteilung zur Verwaltung der indirekten Steuern vors gefehen, jedodi nur dort, wo nicht eine befondere Steuerdirektion für die ganze Provinz erriditet war. Sie i(t für die Rheinprovinz, wie wir nodi (unten S. 143) hören werden, 1824 in Köln etabliert worden. Mit der Bearbeitung der Kajlcns, Etats= und Redinungsangelegenheiten wurde gemäß der Gefchäftsanweifung vom 31. Dezember 1825 ein Rcgicrungs= KalTenrat betraut, deffen Tätigkeit naturgemäß auch in die Gefchäfte der ein» zelnen Abteilungen der Regierungen eingreift. Er waltet feines Amtes unter fpezieller Leitung des Regierungspräfidcnten. Obgleich die Neuordnung von 1825 die kollegiale Spitze der Regierungen, deren mehrköpfigcs Präfidium, befeitigt hatte, hielt man an der altüberlieferten Kollegialverfaffung, an der Erledigung der Gefchäfte in gemcinfamen Beratungen entweder durdi die Plenarverfammlungen des Regierungskollegiums unter dem Vorfitz des Präfidenten oder durch die Abteilungsfitzungen unter der Leitung der einzelnen Dirigenten fe(t. Den letzteren wurde der Direktorentitel genom» men und dafür der Charakter von Oberregierungsräten verliehen. Ihnen gefeilte man den Oberforjtmeifter als IS/Iitdirigenten zu. Von den Befchlüffen der Abtei« lungen fand für den Fall, daß der Dirigent bei der Abftimmung in der Minderheit blieb, mit Genehmigung des Präfidenten ein Rekurs an das Plenum (tatt. In diefem hatten nur die Ober= und Regierungsräte ein volles Votum. Die tech= nifdien Mitglieder, die geiftlichen, Sd»ul=, Medizinal= und Bau=Räte, ferner die technifchen Forftbeamten waren bloß in Angelegenheiten ihres befonderen Gefchäftskreifes (timmbereditigt. Hätten die organifdicn Gefetze des Jahres 1850, die in Verfolg der Vera faffungsurkundc vom 3 1 . Januar 1850 erlaffen wurden, die Gemeindeordnung vom 11. März 1850 und die Kreis=, Bezirks» und Provinzialordnung von dem gleidien Tage, eine längere Lebensdauer oder überhaupt praktifche Wirkfamkeit gehabt, fo wären tiefergreifende Änderungen auch in der Organifation der (taatlidien Behörden fchon damals die notwendige Folge gewefen, weil jene Gcfetzc das Prinzip der Selbftverwaltung nidit nur für die Gemeinden, fondern audi für die Kreife, Bezirke (Regierungsbezirke) und Provinzen proklamierten. Zu den Bezirksangelcgenheiten follten die Bezirksftraßen und die Inflitute, welche Eigentum des Bezirks waren, gehören und der Verwaltung eines Bezirksrates unterftellt werden. Damit wäre den Regierungen diefer Teil ihrer Gefchäfte fchon damals abgenommen worden, der er(t fpäterauf die Provinzialverwaltungen übergegangen i(t. Indeffen nur die Gemeindeordnung hat ein paar Jahre gegolten; die Kreis», Bezirks« und Provinzialordnung hingegen i|l aus» fchlicßiich Gefctzgcbungsmaterial geblieben, wenn aud> die in ihr enthaltenen Gcflditspunkte bei der fpäteren Regelung der allgemeinen Landesvcrwaltung zum Teil maßgebend geworden fmd. Zuvor mußte der preußifche Staat feine Vormachtfteliung in Deutfchiand mit den WafFcn begründen und im Kampfe mit Frankreich die Weftgrenze dauernd feftlegen, um mit Erfolg an die Reform Im Innern herantreten zu können. Sie wurde eingeleitet durch die Kreisordnung vom 13. Dezember 1872 für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, SchleHen und Sachfen. o n. Die staatlichen Behörden: Die Verwaltungsgerichte 107 Obwohl zunädift der 1873 von der Staatsregierung dem Landtag der Monarchie vorgelegte Entwurf einer Provinzialordnung für den Bereidi der Provinzen der Kreisordnung von 1872 abgelehnt wurde, fo folgten fidi doch nunmehr in kurzen Abftänden die Gefetzc, durch welche die kommunale Ver» waltung in den Provinzen er(t eigentlich neu ausgebildet und als fclb(tändiger Faktor neben die (taatliche Provinzialverwaltung getreten i(t. Seit dicfer Zeit haben die (taatlichen Behörden in den Provinzen vielfach auf das Beiwort „Provinzial" in ihrem Titel verzichtet. Es war naturgemäß, daß bei den Ver» Handlungen über die neuen Gefetze die Stellung und Wirkfamkcit der (laatlidien Behörden in den Provinzen aufs eingehend(te erörtert wurde, um fo mehr, als jene darauf abzielten, deren Gcfchäftsbereich auf verfchiedenen Gebieten einzu» fchränken. Das führte 1875 auch im Abgeordnetenhaufe zu lebhaften Debatten über das Verhältnis der Oberpräfidien und Regierungen zueinander, die an den Streit aus den Jahren 1815 — 1825 anklingen. Faft fämtliche Parteientraten zunäch(t für Abfchaffung der Poften der Oberpräfidenten ein. In der Einrichtung der Regierungen neben dem Oberpräfldium herrfche der Parallelismus zweier den gleichen Zwecken dienenden Behörden, die vielfach die nämlichen Gefchäfte zu erledigen hätten, zu (tark vor. Man hielt es für möglich, die Staatsverwaltung oberhalb des Kreifes in der Provinzialinftanz zu vereinigen. Den Obcrpräfi^ denten follten, wie das fchon in der franzöfifchen Departementalverfaffung der Fall gewefen war, die nötigen technifchen Behörden, Direktoren ncb(t dem entfprechendcn Hilfsperfonal für Domänen und For(ten, Steuern, Sdiulen, Kirchen ufw. beigegeben werden. Die Staatsregierung aber kämpfte mit allen Kräften für die Beibehaltung des bisherigen Zujtandcs, und es gelang ihr denn auch, die Führer der Parteien des Abgeordnetenhaufes zu ihrer Anficht herüber« zuziehen. So kam es nicht zu einer Reform an Haupt und Gliedern der Staats^ behörden in den Provinzen, fondern die vorhandenen Glieder wurden nur etwas gelenkiger gemacht, und für die Anfätze von neuen Gelenken, die fich gebildet hatten, wurden die nötigen Lebensbedingungen gefchaffen. Das verwaltungsrechtlich bedcutfamlie Ereignis war die Errichtung von Verwaltungsgcrichten, die teils an kommunale Injtitutionen, teils an (taatlidie Behörden angefchloffen wurden und im Oberverwaltungsgericht für die gefamte Monarchie ihre Spitze erhielten. Darf man fdion das Gefetz über das Verfahren bei Kompetenzkonflikten zwifchen den Gerichten und Verwaltungsbehörden vom 8. April 1847, durch das eine Kommiffion des Staatsrats zur Entfcheidung folcher Fälle eingefetzt wurde, als eine Anpaffung an den Wirkungskreis des napoleonifchen Staatsrats bezeichnen, fo bedeutet das Gefetz vom 3. Juli 1875 über die Verfaffung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungs(treitverfahren offenbar ein teilweifes Zurückgreifen auf Einrichtungen, wie fie in den Rhein« landen während der franzöfifchen Departementalverfaffung be(tanden hatten. Durch dicfes Gcfetz wurde nicht nur das Oberverwaltungsgericht neu gefchaffen, es ficht auch Kreis=, Bezirks« und Provinzialverwaltungsgerichte vor. Übrigens hatte bereits die Kreisordnung vom ij. Dezember 1872 für jeden Regierungs= bezirk die Errichtung eines befonderen Verwaltungsgerichtes angeordnet, deffen Funktionen einftweilen der betreffenden Regierung übertragen werden follten. Das mit dem Gcfetz vom 3. Juli 1875 ^^ engften Zufammenhang (tchende Gefetz vom 26. Juh 1876 über die Zuftändigkeit der Verwaltungsbehörden und der Ver= waltungsgerichtsbehörden kommt nidit weiter in Betradit, weil es durch das gleichlautende Gefetz vom 1. Augujt 1883 aufgehoben i(l:. Dejfen Vorläufer war 108 III. Th. Ilgen, Organisation der staatlichen Verwaltung und der Selbstverwaltung a das Gcfctz vom jo. Juli 1883 über die allgemeine Landesvcrvcaltung, das eben« falls an Stelle eines Gefetzes gleidien Inhalts vom 26. Juli 1880 gerückt ijt. Da das Gefetz von 1883 jcdodi eine neue Krcis= und Provinzialordnung zur Voraus= fetzung hatte, die für die Rheinprovinz erft in Vorbereitung war, bradite es ihr gemäß § 156 zunädiß: nur die Bildung von Bezirksausfchüffen bei den einzelnen Regierungen. In den Genuß der übrigen Neuerungen der Gefetze vom 30. Juli und 1. Auguft 1883 ift die Rheinprovinz er|t nach Erlaß der Kreisordnung vom 30. Mai und der Provinzialordnung vom i. Juni 1887 getreten, deren Geltungs= dauer mit dem 1. April 1888 begann. Ruhte nach der bisherigen Gefetzgebung der Schwerpunkt der {taatlichen Verwaltung in den nur aus berufsmäßigen Beamten zufammengefctzten Staats= behörden, fo [teilte man jetzt den einzelnen In(tanzen Verwaltungsorgane zur Seite, die nur zum kleineren Teil aus Staatsbeamten, überwiegend jedoch aus Eingcfeffenen der Provinz beftanden und die berufen waren, vornehmlich in Befchlußfachen bei Erledigung der Verwaltungsgefchäftc mitzuwirken und zum Teil zugleich als Verwaltungsgeridite zu dienen. So wurde dem Oberpräfidenten der Provinzialrat beigegeben, dem Regicrungspräfidenten trat der Bezirks= ausfchuß zur Seite, und einen großen Teil der Verwaltung der KreiskommunaU angelegenheiten übernahm der Kreis=(Stadt=)Ausfchuß, wie denn Kreis= und Bezirksausfchuß den Landrat und die Regierung auch in verfchiedenen Ange= legenheiten als Auffichtsbehörde gegenüber den unteren kommunalen Ver= bänden abgelöft haben. Neben Bezirksverwaltungsgerichten hatte das Gefetz vom 26. Juli 1876 noch Bezirksräte angeordnet, die dann aber mit den Bezirks= ausfdiüffen verfdimolzen find. Im Provinzialrat i|t die Staatsregierung durch den Oberpräfidenten oder deffen Stellvertreter als Vorfitzenden und einen vom Minifter des Innern ernannten höheren Verwaltungsbeamten vertreten, wozu fünf Mitglieder nebfi; Stellvertretern aus der Zahl der zum Provinziallandtage wählbaren Provinzial= angehörigen durch den Provinzialausfchußhinzugcwählt werden. Der ProvinziaI= rat wirkt bei wichtigeren, die ganze Provinz betreffenden Angelegenheiten mit und entfcheidet über Befchwcrden gegen Befchlüffe des Bezirksausfchufles in deffen Eigenfchaft als befchließendes Organ der Verwaltung. Ein Verfahren in [treitigen Verwaltungsfachen findet vor dem Provinzialrat nicht (tatt. Die mannigfachen Aufgaben, die dem Bezirksausfchuß als Befchlußbehörde zugcwiefen find, liegen vorwiegend auf dem Gebiete des Polizeiwefcns — Polizeivorfchriften bedürfen feiner Zujtimmung — und in der Regelung kommu» nalcr Angelegenheiten der Kreife und Gemeinden, bei Veränderung von Grenzen der Kreife oder Gemeinden, bei Feftfetzung der Zahl der Gemeindevertreter, in Armcn=, SchuU und militärifchen Vcrpflegungsfachen. In Streitfachen i|t der Bezirksausfchuß nicht nur höhere Inftanz über dem Kreis= oder Stadtausfchuß, er übt auch zugleich die Vcrwaltungsgerichtsbarkeit im Regierungsbezirk aus, foweit dafür nicht der Krcisausfchuß bczw. Stadtausfchuß als zuftändig gilt. Der Bezirks» ausfchuß bcfteht aus dem Regicrungspräfidenten als Vorfltzendcn und fcchs Mit= gliedern, von denen zwei vom König auf Lebenszeit ernannt werden, und zwar je ein Jurift und Vcrwaltungsbcamter. Einer von diefen führt den Titel Vera waltungsgerichtsdirektor und ift Stellvertreter des Vorfltzendcn. Für beide find ebenfalls Stellvertreter dcflgniert. Die vier anderen Mitglieder nebft der gleichen Zahl von Stellvertretern wählt der Provinzialausfchuß aus Einwohnern des Regierungsbezirkes, die zum Provinziallandtag wählbar [Ind. n II. Die staatlichen Behörden: Die Landratsämter 109 Das Gcfctz über die allgemeine Landesverwaltung hat aber für die Bezirks= regierungen nodi eine weitere grundfätzlidie Änderung im Gefolge gehabt, indem das Prinzip der Kollegialität aufgehoben worden i|t, wenigjtens bei der Abteilung des Innern (1). Ihre Gcfdiäfte, alfo die der inneren Landesverwaltung, find auf den fortan perfönlich verantwortlidien Regierungspräfidenten über= gegangen. Statt wie früher in Abteilungsfitzungen werden fie nunmehr zumci|t in Befprechungen des Präfidenten mit den einzelnen ihm unterftclltcn Räten erledigt, denen fie zur Bearbeitung zugefdirieben waren. Unter Umjtänden zieht man Kreis= oder Lokalbeamte, Sadiverftändigc u. a. zur Beratung hinzu. Bei der II. und III. Abteilung der Regierungen hat man zwar das Prinzip der Kollegialität zunäch(t nodi aufredit erhalten, doch foll es, wie erwähnt, nach der geplanten neue(ten Reform ebenfalls dem rein bureaukratifchcn Syjtem Platz machen. Die Landratsämter. Wie in den übrigen Teilen der Monarchie wurden durch die Verordnung vom 30. April 1815 auch in den beiden Rheinprovinzen die Regierungsbezirke in Kreife eingeteilt, an deren Spitze zunächft landrätliche KommilTarien, fpäter Landrätc, traten. Alle in den Grenzen eines Kreifes liegenden Ortfchaften foUten zu diefem gehören, dodi konnten anfehnliche Städte mit den Bezirken, die in wirtfchaftlichen Intereffen mit ihnen enger verknüpft waren, eigene Kreife, befondere Stadtkreife, bilden. Als größter Umfang für die Kreife waren Gebiete vorgefehen, deren Seelenzahl in bevölkerten Gegenden im Durchfchnitt nicht über 36 000 Einwohner hinausging; die untere Grenze war mit 20 000 Einwohnern feftgelegt. Die einzelnen Regierungen machten die neue Einteilung in ihren Bezirken durch ihre Amtsblätter mei(t fchon im April oder Mai 1816 bekannt; nur die des Regierungsbezirkes Trier i(t in deflcn Amtsblatt nicht veröffentlicht. Wenngleich die neue Kreiseinteilung in den Rheinlanden auf die franzö- fifdien Arrondiffements zurüdtgriff, fo brachte es doch fdion die Zuweifung von Teilen einzelner ehemaligen Departements an verfchiedene Staaten mit fich, daß die Bezirke bisweilen geändert werden mußten und die neuen Kreife kleiner wurden als die Arrondiffements, an welche fie fich anlehnten. Und die Grenze zwifchen den beiden Provinzen Niederrhein und lülich=Kleve=Berg durchfdinitt fowohl das Gebiet des vormaligen Roerdepartements als auch das des Groß« herzogtums Berg in der Richtung von 0(^en nach Weften und Nordweftcn. Als Ziel war für die Regierungen bei der Ncucinteilung aufge(tellt, dahin zu jlreben, daß die Kreife mit den Grenzen der älteren Verwaltungsbezirke und Kirchfpiele in öbereinftimmung gebradit würden. Das war in dem konfeffionell gemifchten bergifchcn Land um fo fchwieriger, als hier die kirchliche Zugehörigkeit zum Teil noch durdi die ehemalige Zerfplitterung des Güterbefitzes bedingt war. Natürliche Gebirgsgrenzcn — nidit die Wafferläufe als Sdieidelinien — und herkömmliche Verkehrsverbindungen follten ebenfalls bei der Kreisorgania fation Berückfichtigung finden. Ferner fuchte man den wirtfchaftlidien Zuftänden infofern Redinung zu tragen, als Gegenden mit gleicher Induftrie und engeren Handelsbeziehungen nadi Möglidikeit in einen Kreis zufammengefaßt wurden. Diefem Umftand verdankte der neue Kreis Solingen, deffen Bezirk im Groß= herzogtum Berg zum Arrondiffement Elberfeld gehört hatte, feine Entftehung. Man ließ die ftahlfabrizierende und =bearbeitenHe Gegend: Solingen, Rem» fdieid, Burg und Kronenberg, einen Kreis bilden, von dem das Flachland nadi dem Rheine zu, in dem die Landwirtfdiaft vorherrfchte, als Kreis Opladen 110 in. Tli. Ilgen, Organisation der staatlichen Verwaltung und der Selbstverwaltung d abgetrennt wurde. Jedoch eine Kabinettsorder vom 30. Oktober 1819 vereinigte die Kreife Opladen und Solingen wieder zum Kreife Solingen. Desgleidicn erfolgte durdi Kabinettsorder vom 24. September 1820 die Vereinigung der Kreife Elberfeld und Mettmann. Zufammenlegungen zweier Kreife haben bald nadi der er(ten Kreiscin= teilung ferner (tattgefunden bei den Kreifen Linz und Neuwied, Braunfels und Wetzlar im Regierungsbezirk Koblenz, bei Blankcnheim und Gemünd (Seh leiden), St. Vith und Malmedy im Regierungsbezirk Aachen, bei Leches nich und Rheinbadi, Siegburg und Uckerath (Siegkreis) im Regierungs= bezirk Köln. Im Regierungsbezirk Düffeldorf gab die Vereinigung mit dem Re= gierungsbezirk Kleve 1821 Anlaß, die Kreife Dinslaken und Effen mit Duis= bürg als Kreisftadt zu einem Kreife zu verfchmelzen, was durch Kabinetts= erder vom 27. September 1823 gefchah. Bcfondere Stadtkreife waren 1816 urfprünglich für die Städte Aachen, DülTeldorf, Koblenz, Köln und Trier vorgefehen, indeffen verfchwand der Stadt= kreis Koblenz bereits bei der verbefferten Einteilung des Regierungsbezirkes im Frühjahr 1817 wieder, und Düffeldorf erlitt das gleiche Schickfal. Trier bildete zwar einen eigenen Stadtkreis, aber es waren ihm zugleidi elf Land= gemeinden zugelegt, die ihrerfeits zu einer Landbürgermeißierei vereinigt waren, ein Zuftand, der er(t durdi die neue Kreisordnung von 1887 aufgehoben wurde. So blieben als Stadtkreife nur Aadien und Köln übrig, was auch dadurch zum Ausdrudi kam, daß in ihnen allein — in Köln feit 1816, in Aachen feit 1818 — die örtlidie Polizeiverwaltung einem königlidien Polizeidirektor oder sPräßdenten übertragen wurde, der zugleich die Funktionen eines Landrates des Stadtkreifes ausübte. Zeitweife, von 1831 — 1853, hat man diefe an beiden Stellen wieder von der Polizeidirektion getrennt. Die neue(te Entwidlung der Kreiseinteilung hat indeffen den umgekehrten Weg genommen, den wir für die er(ten Zeiten der preußifchen Herrfchaft am Rhein bcobadjten konnten. Riditunggebend i(t hierfür vorwiegend der indu=> ftriclle Auffdiwung geworden, der im Regierungsbezirk Düffeldorf am früheften cinfetzte. Nachdem zunädift 1856 der übergroße Kreis Geldern in die Kreife Geldern und Mors geteilt war, desglcidien 1857 der Kreis Duisburg in die Land» kreife Duisburg und Effen, begann mit den fediziger Jahren die Periode der NeufchafFung eigener Stadtkreife. Zuerft fchieden 1861 die Städte Elberfeld und Barmen aus dem Landkreis Elberfeld aus, um befondcrc Stadtkreife zu bilden. Ihnen folgten 1872 die Stadtkreife Düffeldorf und Krefeld, 1873 Effen, 1874 Duisburg, 1887 Bonn, Koblenz, Remfcheid und Trier, 1888 M.=Gladbach, 1897 Solingen, 1900 Oberhaufen, 1901 Mülheim=Rhcin, 1903 Mülheim=Ruhr, 1907 Rheydt, 1909 Saarbrücken, 1911 Hamborn. Die übrig bleibenden Reß:e wurden entweder unter anderem Namen zu neuen Kreifen zufammengefaßt — der frühere Landkreis Elberfeld verwandelte fich z. B. in den Kreis Mctt= mann — oder wie bei Mülhcim=Ruhr an Nachbarkrcife aufgeteilt. Und nun fetzte fchr bald das Auffaugungsfyftem der größeren Städte, induftricilc oder Villen»Vororte aus den Landkreifen an fich zu ziehen, ein. Zwar 1886 (träubte fleh die Stadt Köln noch, die umliegenden Orte auf der linken Rheinfeite: Ehrcnfeld, Nippcs u.a., in feine Gemcinfchaft aufzunehmen; es bedurfte zur Eingemeindung, die 1887 (tattfand, cr(t eines (Marken Druckes der Staatsregierung. Köln hat dann aber auch auf das rechte Rheinufer übergegriffen, Deutz, Kalk,Vingft find ihm angegliedert, und die Eingemeindung von Mülheim« D n. Die staatlichen Behörden: Die Landratsämter 111 Rhein und Mcrhcim in Köln fand im Jahre 1914 (tatt. Aachen und Burtfcheid, die {\(h im Anfang des 19. Jahrhunderts geradezu als feindliche Brüder gegen» übcrftanden, umfchlingt feit 1897 das gcmcinfame Städteband. Bonn hat durch Gefetz vom 1. Juni 1904 feinen Stadtkreis erweitert, um [id\ die Villenvororte Poppeisdorf, Keffenich, Endenich und Dottendorf einzuverleiben. Die in dem letzten Jahrzehnt von Düffcldorf, Duisburg, Mülheim=Ruhr, Saarbrüdien und Effen in Ausficht genommenen Einverleibungen von benachbarten Städten und Landgemeinden, die zum Teil nodi nicht abgefdiloffen find, muß man als die Folge der riefenhaften Entwicklung der lndu(trie in ihnen anfehen, durdi die ihr Expanfionsbedürfnis gewaltig ge(teigert i|t. Während 1818 die beiden rhcinifdien Provinzen 66 Landkrcife und 4 Stadtkreife, 1828 die vereinigten Provinzen nur 56 Landkreifc und 3 Stadtkreife aufwiefen, bcjtand die Provinz Anfang 1914 aus 60 Landkreifcn und 21 Stadtkreifen. Das Beftreben cmporgewachfencr Städte, einen befonderen Stadtkreis zu bilden, beruht auch darauf, daß infolgedeffen die Kommunal und Polizeiaufficht des Landrats über fie wegfällt und fie dem Regierungspräfidenten des Bezirks unterjtellt werden. Wenn der Landrat in der Rheinprovinz audi nicht als die Verkörperung altpreußifchen Beamtentums, wie er es in den öftlichen Provinzen tatfäd^lich i(t, gelten kann, fo bildet das Landratsamt dodi hier ebenfalls das wirkfamjte Werkzeug zur Ausübung der (taatlichen Aufficht. Das i|t es natürlich unmittelbar nach der Befitzcrgreifung der Rheinlande in erjter Linie gewefen. Die Verordnung vom jo. April 1815 bezeichnet die Landräte nodi aus« fchließlidi als die Organe der Regierung. Es wird ihnen die Vollziehung der Verfügungen der Regierungen aufgetragen, und infolgedeffen bewegt fich ihr Gefchäftskreis in den gleichen Bahnen (nur im engeren Bezirk) wie der der Regie« rungen, deren Präfidenten {le in ihrer perfönlichen Amtsjtellung untergeordnet fmd. Für beftimmte Angelegenheiten wurde ihnen auch Sitz und Stimme bei den Beratungen der I. Abteilung der Regierungen eingeräumt. Erjt nadidem durdi die Kreisordnung für die Rheinprovinzen und Weftfalen vom 13. Juli 1827 Kreisverfammlungen eingeführt waren, bekamen die Landräte auch in den Rheinlanden wie in den altpreußifdien Provinzen den Nebendiarakter als (tändifche Beamte, dadurch daß ihnen die Vertretung der Kreisverfammlungen oblag. Den Kreisverfammlungen wurde in dem crjten rheinifchen Landtags« abfchied, ebenfalls vom 13. Juli 1827, eine Mitwirkung bei Befetzung erledigter Landratsjtellen eingeräumt. Das Reglement wegen der Wahl der Landratsamtskandidatcn und Kreis« deputierten in den Provinzen Weftfalen und Niederrhein vom 17. März 1828 (teilte als Erfordernis für die Wählbarkeit zum Landrat die Anfäffigkeit im Kreife auf, wobei zunächjt auf die vorhandenen Rittergutsbefitzcr abgezielt war. Da diefe in der Rheinprovinz nicht mehr in genügender Zahl vorhanden waren, fah man fidi genötigt, auf die „Notabeljten" unter den übrigen ländlidien Grund« befitzern zurüdAbwei«» chungen abgefehen. Damit i(l zugleich das Gebiet umfchricbcn, deffen Rechtsgefchichtc wir hier verfolgen wollen, foweit [Ic nicht einfach mit der allgemein preußifchen oder dcutfchen Rechtsgcfchichte zufammenfällt,*) Einer Scheidung zwifchen den I) Namentlid) Mclrd alfo, fobald einmal die Rheinprovinz In irgend welcher Beziehung unter Kemeinpreußifches oder unter gemeindeutfches Recht getreten ift, der gemeinrechtliche Verlauf hier nicht weiter verfolgt werden können: z. B. nicht, wie das Strafgefetzbuch für den Norddeutfchen Bund an Stelle des prcußifchen von 1851 tritt. a Erstes Kapitel (1815—1824), Programm der Regierung 151 beiden urfprünglidien Rheinprovinzen bedarf es dabei nidit; fdion ehe fi^ 1822 zu der heutigen Einheit verbunden wurden, hat man fie in allen Punkten der Redits» und GeriditsverfalTung einheitlidi behandelt. Erftes Kapitel (18 15—1824). Fremdländifdies, aufgezwungenes Redit — zu befeitigendes Redit; nationale Staatszugehörigkeit — nationale Rechtszugehörigkeit: das fmd nahehegcnde Vorftcllungen von überzeugender Sdilagkraft, fo daß man fie ohne weiteres zur Richtfdinur nehmen möchte. Doppelt und dreifadi fo in Zeiten nationalen Aufs fchwunges, unmittelbar nach Abftoßung des Jodies der Fremdherrfdiaft; und in einem zentralifiert=monardiifchcn Staate wie Preußen, wo man auf die friedcria zianifchen Kodifikationen, auf den Weltruf der Gerichte mit Recht (tolz war. So lautete daher, fa(t felb(tver(tändlidi, das Regierungsprogramm für die neuen Provinzen zunächjt: Abfdiaffung des franzöfifchen und Einführung des preu» ßifdien Redits. Diefes Programm i[t für Staats» und Verwaltungsrecht der Staatsorgane fofort mit voller Energie und Folgerichtigkeit durchgeführt worden. Bereits das angeführte Patent vom 30. April 1815 fdiuf die Provinzialverfaffung, die Einteilung in Regierungsbezirke und Kreife, die Verwaltung durdi Regierungen und Landräte, einheitlich für die Rheinlande wie für die alten Provinzen. Die Befctzung mit meijt altpreußifchen Beamten, die (tramme Zentralifation durdi Oberaufficht von feiten des ]Vlini|teriums des Inneren oder auch des befonderen Polizeiminifteriums tat das übrige. Unbezweifelt gilt feitdem die Regel, daß mit der preußifchen Verwaltungseinteilung und Verwaltungsbehörde auch das preußifche Verwaltungs» und Beamtenredit, einfdiließlich der einfchlägigcn Abfchnitte des preußifdien allgemeinen Landrechtes, in den Rheinprovinzen eingeführt worden ift. Aber audi für die fon(tigen Reditszweige war dasfelbe Programm aufgeß:ellt. Zwar für den verwaltungsrcchtlich nächftlicgcndcn Zweig, die Ge(taltung der kommunalen Körperfchaften, befonders der Gemeindcverfaffungen, (teilte man zu» näcbft (1817) nur die Anfrage an die rheinifchen Regierungen, ob die franzöfifchen Zuftände zu belaffen oder zu reformieren feien, und kam dadurch, im Anfdilufle an die von den Regierungen erftatteten Gutachten, zu einem konfervativen Proviforium; aber für alle fonftigcn Rcditsgebiete, Straf» und Zivilrecht eins fchließlich des Handelsrechts, Zivil= und Strafprozeß fowie Gcriditsverfanung ging man ganz anders vorwärts. Hier hatte der Ju(tizmini(ter Friedridi Leopold von Kirdieifen, ein altpreußifdier Richter und Beamter friederizianifdier Prägung, fleh vorgenommen, fofort ganze Arbeit zu madien und den Rheinprovinzen die Wohltat der preußifchen Gefetzgebung möglidift unmittelbar und vollftändig zuteil werden zu laffen. Ob es wirklich eine Wohltat gewefen wäre — diefe Frage konnte ihm gar nicht kommen, fo felfenfeft war feine Überzeugung von der abfoluten und überallhin paffenden Vorzüglichkeit jener Gefetzgebung; und erß; recht lag es feiner Weltanfdiauung fern, deshalb die zu Beglückenden zu befragen. Mag auch fein, daß damals, im er(ten Anlauf, fein Plan ohne allzu* ftarken rheinifchen Wider(tand durchfetzbar gewefen wäre, zu einer Zeit, wo man am Rhein noch von frifchcftem Widerwillen gegen alles Franzöfifdie, von 152 IV. E. Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung d frohc(tcr, faft fdiwärmcrifchcr Erwartung einer prcußifch=liberalcn Acra erfüllt war; wo man dort audi wohl noch kaum fo rcdit wußte, was inhaltlich man mit dem allgemeinen preußifdicn Landredit und mit der preußifchen Gcrichtss Ordnung empfing. Um fo fchlimmer hätte dann freilidi wohl das Erwachen aus Traum und Unwiffenheit gewirkt. Die Unluft, die alsbald ohnehin fchon durdi die preußifdie Verwaltung und namentUdi auch durch ihre Eingriffe in das gcriditlidie Grenzgebiet erweckt wurde, die dann durdi das Ausbleiben einer parlamcntarifdien Verfadung, durch den Eintritt der Reaktion in ihren großen politifdien und in ihren kleinlichen polizeilichen Äußerungen bis zur peinlichen Abneigung ge{teigert wurde, wie weit wäre fie erß: gegangen, wenn man fich des öffentlichen und mündlichen Verfahrens vor Geridit beraubt gefehen hätte, in Straffällen preußifchen Inquiforiaten ausgeliefert, gebunden unter die preu» ßifchcn Vorfdiriften betreffend Standesunterfchiede, Ehe= und Familienrecht, riditcrliche Vormundfdiaftsführung, exemtcn Gcrichtsftand der Beamten, Lockerung der handelsrechtlidien Strenge und Einfchnürung der handelsrecht» liehen Freiheit, endlich gar Möglidikeit körpedicher Züchtigung gegen Sträflinge und fogar gegen bloße Inquifiten? Er(t wenn man fidi diefe Fragen (teilt, crmißt man die Kurzfiditigkeit des Verfahrens, das Kircheifen in bejter Abfidit in die Wege leitete, indem er einfadi meinte, ganz wie in den altprcußifdicn, wiedergewonnenen Provinzen vorgehen zu können. Er fandte zu diefem Behufe als Ju|tiz=Organifationskomminar an den Rhein den Müniterer Oberlandes» gerichtspräfidenten Chriftoph Wilhelm Heinrich Scthe, der cinerfeits preußifcha klevifdicr Geburt, anderfeits aus der bergifchen Magiftratur hervorgegangen, fich zu einem foldicn Auftrage offenbar trefflidi eignete. Er hieß ihn überall in der Rheinprovinz die Einfctzung prcußifdier Stadt= und Landgerichte vor» bereiten und die Einführungspatente für die preußifchc Gefctzgebung, nadi Analogie der für die Provinzen zwifdien Elbe und Rhein ergangenen, fchleunig(t ausarbeiten, allenfalls mit einiger befonderer Berüdifichtigung rheinifdicr LokalvcrhältnilTe; ja er follte fogar fdion vorher minde|tens das prcußifche Straf- recht einführen; indeffen gelang es wenigjtens, den Minifter von der Untun« lichkeit einer folchen überftürzt=vereinzelten Maßregel zu überzeugen. Dagegen [teilte Sethe, wcnnfchon vielleidit ohne rechte inncrlidie Überzeugung, aber doch in getreuem Gehorfam, den Entwurf des Patentes für Abfchaffung der franzö» fifchen Gefetzbücher und Einführung der preußifchen Gefetzbücher bis zum September 1815 fertig. Er fdilug darin eine Reihe tiefer eingreifender, aber doch immer nur vereinzelter Modifikationen, namentlich Abfchaffung aller patri« monialen und cxemten Gerichtsbarkeit vor. Allein nicht einmal hiermit drang er beim Miniftcr durch; ein kaum von dem Patente vom 9. September 1814 abweichender Patententwurf wurde von diefem dem Gefamt=Minifterium vor- gelegt. Da wurde nun der Lauf der Sadie dadurdi aufgehalten, daß felb[t dicfcr Vorfchlag einzelnen der Minifter noch nicht weit genug ging. Sie verlangten befondcrs Einfügung einer Vorfchrift, wonach kirchlicher Abfchluß der Ehe mit rückgreifender Wirkung für die unter franzöfifchem Recht bloß ftandcsamtlidi gefchloffcnen Ehen notwendig geworden wäre. Da das dem gefunden juriftifchen Sinne und der altfricdchzianifdicn Auffaffung Kircheifens unannehmbar war, mußte der Entwurf, mangels Ubereinftimmung aller Minifler, zur Entfcheidung dicfcr Streitfrage durch den Staatskanzler Fürftcn Hardenberg dem König vor- gelegt werden. Hardenberg aber, fo mit ihm befaßt, hielt ihn an und bean- D Erstes Kapitel (1815—1824), Immediat-Justiz-Kommission 153 tragtc nun fcincrfcits beim Könige zunäch(l: Einfetzung einer rheinifchen Imme= diatsjuftizkommiffion behufs Vor[tucIiums der ganzen rheinifdien Gefetz= gebungs=Angelegenheit. Nicht von rheinifcher Seite her, wo fich dafür nod» keinerlei Bewegung ausgebildet hatte, wo die öffentlidie Meinung nodi ungeklärt und ganz ohne Organ war, i(l: alfo die er{te Hemmung des Kirdieifenfchen Programms erfolgt, fondern von der politifchen Zentralinftanz der Regierung. Hardenberg, der dabei hauptfächlich von feinem Kabinettsrat Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (dem fpäteren Minifter, berühmt als Gründer des Zollvereins) beraten war, dürfte dazu durch verfchiedene Zufammenhängc bewogen worden fein. Haupt» fädilich und in überwiegendem Maße durdi fachliche Erwägungen, die namentlich Eichhorn betonte, da fein Blick weder durch altprcußifdic nodi auch durch abltrakt=unifizierende Vorurteile im Sinne des 18. Jahrhunderts befangen war. Vielmehr ftand er der jungen romantifdien Richtung in Redits= und Staats= auffaffung nahe und war deshalb bereit, örtlichen Wünfchcn und Bedürfniffen Rechnung zu tragen, wie er folchc Wünfche und Bedürfniffe als für die Rhein= lande befonders naheliegend von vornherein annahm. Deshalb wünfchte er deren unbefangene Unterfuchung durdi die Kommiffion, damit wirklich das fachlich Befte gefchehe. Dazu kamen dann die politifchen Rückfiditen, die wohl bei Hardenberg felblt vorgewogen haben mögen und von denen ßch endlidi ein gcwiffer perfönlicher Gegenfatz gegen die konfervativen Elemente des Minifteriums, namentlich gerade gegen Kircheifen, nicht ganz trennen läßt. Zweifellos hegte damals Hardenberg noch den aufrichtigen Wunfdi, die Stein» fchen Reformen im Sinne einer parlamentarifchen Verfaffungsgefetzgebung fortzuführen; dafür aber konnte er Anlehnung und Unter(tützung gegenüber der altprcußifchen Partei, die feit Jena und Tilfit nichts vcrgeffen und nidits gelernt hatte, gerade in Anlehnung an die öffentliche Meinung der Rhein» provinz, an die dort fdion gegebenen freiheitlichen Anfätze und Einrichtungen finden. Namentlidi entfpradi ja Mündlichkeit und OffentHchkeit des Gerichts» Verfahrens und Entfcheidung der fchweren Straffachen durch Gefdiworene durch» aus den Tendenzen der Steinfchen Städteordnung, dem Wunfche, den Staat von innen heraus durch (taatsbürgerliche Erziehung und Betätigung feiner Bürger zu kräftigen. So waren es die heften Überlieferungen der großen Zeit, aus denen hervor Hardenberg fich für diefe Einrichtungen des franzöfifchen Prozcffes befonders intereffieren mußte; und handelte es fidi auch nur darum, fie einjtweilen für kommende beffere Zeiten ficherzujtellen, wie es denn auch gerade eben noch vor dem Siege der fchärfften Reaktion, unter deffen Drohung [ich all dies abfpielte, gelungen i(t. Dagegen auf dem Gebiete des materiellen Rechts hatte Hardenberg foldien Anlaß nicht, für franzöfifchcs Recht einzu» treten ; hier hat darum auch ihm wohl noch zunächft der Erfatz durch das preu» ßifche Recht als felb(l:ver(tändlich gegolten. So erging die Kabinettsorder vom 20. Juni 1816, die die Immediat=Juftiz= kommiffion einfetzte und ihr vorfdirieb, das Gute, überall wo es fich finde, zu benutzen und das Rechte anzuerkennen. Dazu kam, auf Grund befonderer königlicher Ermächtigung von Hardenberg erteilt, die Inftruktion für diefe Kommiffion vom 8. Juli 1816, die ihre Aufgabe in großzügiger Weife abfteckt. Ihr Sitz wird ihr in Köln angewiefen, alfo in den Rheinlanden felbft, deren Verhältniffe und Bedürfniffe in allen gefetzgeberifdien Richtungen fie, unter Heranziehung der Gerichte und fonftigen Erkundigungsquellen, erforfdien follte. 154 IV. E. Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung a Zu ihrem Präfidenten wurde Scthc ernannt, als Bcifitzer wurden ihm bei« gegeben die beiden Rheinländer Fifdienich und Bölling, aber auch ein Altländer, der um dic]wi(Xenfdiaftliche Bearbeitung des Materials zum preußifdien Land» redit hodiverdiente Oberlandesgeriditsrat Hcinridi Simon, wozu dann fpätcr noch zwei weitere Mitglieder von geringerer Bedeutung gekommen find. Namentlich aber wurde fic angewicfen, fich für ihre Arbeiten ins Einver» nehmen zu fetzen mit dem eben dem preu[}ifchen Staatsdien(l;e gewonnenen berühmten franzöfifdircchtlichen Juriftcn Kölnifcher Geburt Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels, der zuer(t Profeffor an der alten kurkölnifchen Univcrfität Bonn, dann franzöfifcher und darauf wieder niederländifcher General(taats= anwalt gewefen war und nun dem prcußifchen Staatsrate angehörte. Seine Mitwirkfamkeit, feine mitreißende Überzeugungskraft und feine durchfchlagende Autorität find im Sdioße der Kommiffion maßgebend geworden, befonders nadi langem Schwanken für die Entfdieidung zugunften der Gefchworenen. Für öffentliches und mündlidies Verfahren im Strafprozeß und für Mitwirkung eines öffentlichen Minifteriums dabei war freilich Simon trotz urfprünglicher Gegnerfdiaft fdion vorher gewonnen worden, aus eigener befferer Einficht hervor, was nach allen Seiten einen (tarken Eindruck madien mußte, wenn er audi in zivilprozeffualen Fragen mehr auf dem altländifdien Standpunkte bcharrte. So entftanden die fünf Hauptvoten der Kommiffion, die fich für die Öffentlichkeit und Mündlichkeit im Strafverfahren und im Zivilverfahren (hier mit Simonfchem Separatvotum), für die Beibehaltung des öffentlichen Mini(l:e= riums in allen feinen franzöfifch=rechtlichen Funktionen (hier für die nicht Itraf= reditliche Seite Simonfehes Separatvotum) und ausführlichft für die Gefchwore= nengerichte, außerdem, in einer kürzeren Zufammenftellung der Ergebniffe, für eine Reihe weiterer franzöfifdbrechtlicher Einrichtungen bei der Gerichtsverfaffung und dergleichen mehr entfchicdcn. Dagegen in bczug auf das materielle Recht meinte die Kommiffion fidi doch noch wefcntlich an das preußifche Recht halten zu muffen; die „ErgcbniHc" fchlagen darum da, offenbar in einer Art von Not= (tand, eine kaum durchführbare Verbindung von preußifchcm Landrecht und Code civil vor: mit dem Perfonen=, Sachen=, Obligationcn= und Handelsrecht des erfteren follte das Familienrecht und Erbrecht des letzteren ganz unor= ganifdi verbunden, aber auch das preußifche Strafrecht an Stelle des franzöfifdien Straf rechts gefetzt werden. Das waren die Vorfchläge, die die Kommiffion im Februar 1818, alfo nach etwa anderthalbjähriger Tätigkeit nach Berlin abgab. Sie wurden dort unter der Leitung des Großkanzlers von Beyme, eines durch= aus liberalen Mannes und Gegners von Kircheifen, als Gefetzgebungsminiftcrs durchgeprüft und in matcriellrechtlicher Beziehung noch (tark zugunßien des preußifchen Rechts umgejtaltet; das Ergebnis follte zur Grundlage einer könig= liehen Verordnung nach Hardenbergs Plan gemacht werden, während man hoffte, Kircheifen ausfchaltcn zu können. Als diefer dann aber doch mit einem Gcgen= Gutachten eingriff, gab das nur zu einem neuen Vorftoß Daniels' Anlaß, der über die Kommiffionsvorfchläge abermals weit hinausführte. Daniels ging dabei aus von der Notlage, in die die rheinifche ]u(l:iz all- mählich, mangels Erledigung aller fchwebenden Fragen, geraten war. Die Gerichtshöfe, ungenügend und mangelhaft befetzt mit Richtern, die nur ver» droffcn unter der hcrrfchcndcn Unfidierheit aller Dinge ihres Amtes walteten, drohten der völligen Auflöfung entgegenzugehen. Die materiellrechtlichen Vorfchläge der Kommiffion würden eine juriftifche Unmöglichkeit, eine Chimäre a Erstes Kapitel (1815—1824), Kompromiß von 1818 155 von Rcchtsmifchung herbeiführen. Die weitergehenden Vorfchläge Beymes aber gar würden das Rheinland mit dort unerhörten Einrichtungen, z. B. der leiditcn Ehefcheidung nadi preußifdiem Syftem, beglücken. Das Rheinland, in den letzten Jahrzehnten aus einem Proviforium ins andere geworfen, würde nun wieder an dem proviforifchen Zu(tand audi noch des preußifchen Rcdits teil= nehmen muffen, wenn man diefes, das felbß; doch eben umfaffender Revifion unterliege, noch vor deren Abfdiluß am Rhein einführe. Alle diefe Unerträg= lichkeiten aber würden wegfallen, wenn man fidi zunädift mit einer gründlichen Reorganifation der Gerichte in großem Stil — einheitlidier Revifions= und Kaffationshof, einheitliches Oberlandesgcricht, fcdis große und leiftungsfähige Landgerichte an den Regierungsfitzen, fo viele Friedensgerichte wie landrätliche Kreife — begnügte, dabei ferner für das Verfahren Mündlichkeit und Öffentlichkeit, Gefchworcne und Staatsanwaltfchaft beibehielte, die Einführung der gefamtcn preußifchcn Gefetzgebung aber bis nach Abfchluß der für diefe ohnehin im Gange befindlichen, nunmehr unter Mitberückfichtigung der rheinifchen Vers hältniffe durchzuführenden Revifion auffchiebe. Allenfalls könne man ja, um den Stein des fchlimm(ten Anftoßes aus dem Wege zu räumen, eine überfetzung der fünf franzöfifchen Gefetzbücher ins deutfche, etwa unter Einfügung einiger Reformen in der preußifchrechtlichen Richtung, anordnen, und wenn diefe Arbeit, wie in einem halben Jahre möglich, gefchehen fei, diefe deutfchen Texte formal als Gcfctze an Stelle der franzöfifdien einführen, wozu dann etwa nodi fon(t das eine oder andere reformierende Sondergefetz treten könnte. Dann möge man getroß; die Fertig[tellung der Revifion der preußifchen Gefetzc abwarten. Was konnte klarer, einleuchtender, gewinnender und — bequemer aus* zuführen fein, als diefe Vorfchläge Daniels'? Sie finden nun in fchleunigftem Tempo, während bisher alles fo zögernd und ftockend verläuft, unmittelbar hintereinander die Zuftimmung v. Beymes, des Gefamtmini(teriums, Hardcns bergs mit Eichhorn und des Königs; während diefer mit Hardenberg und Bcyme in der Rheinprovinz weilt, ergeht ganz in dem Sinne, wie Daniels vorgefchlagen hatte, die königliche Kabinettsorder vom 19. November 1818, gewiffermaßen ein königliches Gaftgefchenk an die Rheinländer. Mit ihr war die Grundlage der rheinifchen Rechts= und Gerichtsverfaffung für die ganze folgende Zeit gelegt. Namentlich für die Gerichtsverfaffung, die danach alsbald tatfächlidi aus= geführt wurde. Nachdem bcfonders die darauf bezüglidien Punkte der Order (die im übrigen lediglich als Dien(tanweifung für v. Beyme behandelt und daher nicht ganz publiziert wurde) durch Vermittlung der darin aufgelößien Immediat* Ju(tizkommiffion veröffentlicht worden waren, wurde zunächft der rheinifdie Revifions= und Kaffationshof zu Berlin, unter Sethes Präfidium, gebildet, befetzt und am 15. Juli 1819 feierlich eröffnet. Daran fchloß fich die Errichtung des Rheinifchen Appellationshofes, für deffen Sitz Köln in lebhaftem Wett= kämpf den Sieg über Düffeldorf davontrug, unter dem Präfidium von Daniels, der damit feinem Wunfche gemäß in feine Vaterftadt zurückkehrte. Nun mußten auch die dreizehn kleinen Kreisgerichte zugunftcn der fechs lei(tungsfähigen, großen Landgerichte Aachen, Kleve, Coblcnz, Köln, Düffeldorf und Trier ihre Pforten fchließen; die gleichfalls beibehaltenen Sondcrverhältniffe des o(t= rheinifch=gcmeinrechtlichen Gebietes wurden ähnlich geregelt; und endhch erfolgte in den Jahren 1821 — 1823 die vollftändige Reorganifation der Friedens= gerichte auf dem geplanten Fuße. Damit war eine Gerichtsverfaffung gc» 156 IV. E. Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung d fchaffen, die fidi auf die Dauer durdiaus, wcnigftcns in den Grundzügen, be« währt hat und deren Ergcbnide, in Sicherheit und Schnelligkeit der Rechts sprediung, denn aud» den berechtigten Erwartungen durchaus entfprochen haben. Von allen, felbft dem franzöfifchen Recht wenig geneigten Seiten, i(t feitdem immer zugegeben worden, daß die rheinifdien Gerichte in der Zuverläffigkeit ihrer Rechtspflege fleh durchaus würdig den altpreußifchen gefeilt haben, in der Fähigkeit, größere Prozeß=Zahlen rafcher und billiger zu erledigen, aber die Segnungen der Mündlidikeit deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Mündlichkeit und Öffentlichkeit, Staatsanwaltfdiaft und Gcfchworenen= gcrichte waren damit denn auch gefiebert, gerade noch bevor, etwa Mitte 1819, die fdiarfe Wendung zum Siege der fchrofF(ten Reaktion eintrat, die fich in dem Rücktritte der Mini|ter v. Boycn, v. Humboldt und v. Beyme äußerte, während Hardenberg fich nur unter Preisgabe feiner Grundfätze im Staats« kanzleramt erhielt. Die Leitung der rheinifchen Juftizangelegenheiten wurde nun einer befonderen Ju(tiz=Organifationskommiffion übergeben, deren haupt» fädilich|tes Mitglied Daniels war und die die focbcn näher gefchilderte Gerichts^ Organifation durdiführte. Dagegen ift Daniels an eine reformierende Ubers fctzung der franzöfifchen Gefetzbücher, wozu das andere Kommiffionsmitglied, der Geheimrat Diederidis, ihn dringend mahnte, nicht einmal herangetreten. Diefcn Teil feines eigenen Plans und des ihm erteilten königlichen Auftrages hat er, obfchon bekanntlich längft eine wörtliche überfctzung aus feiner Feder, aber nur privaten Charakters, umlief, kaltblütig und ungeahndet einfach auf Seite gefchoben, offenbar wenig geneigt, um den Lorbeer des Badifchen Staats= mannes und Jurijten Friedrich Brauer zu wetteifern. Während deffen hat von Beyme, der audi nach der Niederlegung feines Minifteriums mit der Revi= fion der Gefamtgefetzgebung betraut blieb, diefe umgekehrt nur allzutreulich und fleißig im Sinne der Kabinettsorder vom 19. November 1818 fortgeführt, indem er nämlich preußifche und franzöfifche Gefetzbücher Paragraph für Paragraph miteinander verglich, fo Aktenberge zufammenfchrieb, aber die Sache nicht im mindcften förderte. Indem auf diefe Weife die „Revifion" der preu= ßifchen Gefetzgebung fich unabfehbar hinzog, wie fie denn auch nie zu Ende kommen follte, ward tatfächlich der „proviforifche" Fortbeftand des franzöfifchen bczw. des gemeinen Redits in den Rheinlanden zu einem Definitivum, wenig= (tcns fo lange, wie man an der Vorbedingung der Rcvifionsvollendung für feine Befeitigung fefthielt; cbenfo vollends der Fortbeftand der franzöfifchen Ge= meindevcrfaffung, fo lange man für deren Abänderung bis zur Verfaffungs= cinführung zu warten gewillt war. Infolgedeffen herrfdite auf diefem Kampfplatze während der Jahre 1819— 1824 eine Art von WafFenftillftand: das franzöfifche Recht in feinem franzöfifchen Wortlaute ift gültig geblieben. Eine Reihe von Sondergefctzen, Notariats» Ordnung, Gebührenordnung und dcrgleldien mehr bringen ihm hier nur weitere Beftätigung und Durchführung. Nur auf hochpolitifchem Gebiete reißt die Kabinettsorder vom 20. Auguft 1819 0 und erft recht die vom 6. März 1821 •) Unveröffentlicht in der Gefctz-Sammlung, aber von den Behörden gehandhabt in den polizeilichen Demagogen-Verfolgungen, z. B. gegen Arndt und die beiden Brüder Welcker, aber auch fpüter wieder gebilligt durch Refkript der Nlinifter von Kamptz und von Brenn vom 26, lanuar 1853 und zur Anwendung gebracht in einem Falle felbfl noch 1847, vgl. Hanfemannfche Denkfchrlft In den Verhandlungen des 8. rheinifchen Provinziallandtags (1846) S. 306. — Ahnlich wirkte auch in der Rheinprovinz der allgemeine Grundfatz des prcuffifchen Staatsrechts, wonach Straferkenntniffe fchwcr(ter Art crjt durch königliche Bc» n Zweites Kapitel (1824-1830), Angriffe auf das rlieinische Reciit 157 eine tief und herb empfundene Lüd riats und Gerichtsvollftredter-Wefens, zugunjten der Öffentlichkeit und Münd- lichkeit in Zivil« und Strafverfahren, auch zugunften der Erhaltung der Ge» fchworenengerichtsbarkcit und der Fricdcnsgcrichte (cinfchlicßlich der Leitung des Familienrats) fowie endlich cinftimmig für Erhaltung der Handelsgerichte fc(^gclcgt. Auf diefe Verhandlungsergebniffc gcftützt, konnten die beiden Abgeordneten des dritten und vierten Standes, der Rechtsanwalt Dr. Bracht zu Bllk bei Düffeldorf und der Fabrikherr und Kaufmann Kamp zu Elberfeld, D Zweites Kapitel (1824-1830), Provinziallandtag von 1826 161 gctrolt zu der Tagung der Rcvifionskommifflon Ende April 1827 nadi Berlin abreifen. Traten ihnen audi an Zahl gleidi die beiden Abgeordneten der erjtcn Stände, der gegen das franzöfifdie Recht von geradezu fanatifdiem Haß erfüllte Freiherr von Mirbadi zu Harff und der wefentlidi gemäßigtere Freiherr V. Bodelfdiwingh=Plettcnberg zu Geretzhaufen, gegenüber, fo ßiand es nun dodi fe(t, daß jene zwei bürgerlidien Männer die nadi Zahl, Befitz, Regfamkeit und Leiflungsfähigkeit weitaus überragende Maffe der Rheinprovinz hinter fich hatten. Und fie waren bereit und fähig, für ihre Aufgabe fidi mit aller Gewandtheit und Entfdiiedenheit, ja felb(i nicht ohne diplomatifche Feinheit einzufetzen. Es handelte {\d\ dabei im Schöße der Kommifflon um ein Doppeltes. Einmal darum, über die ausdrücklich durdi den königlichen Willen gezogene formale Grenze hinwegzukommen, wonach die Kommiffion nur untergeordnete Einzelheiten zu behandeln hatte, die großen prinzipiellen Fragen aber als bereits entfchieden im Sinne der fofortigen Einführung des preußifchen Rechts anfehen foUte; und ferner fachlich darum, die vieldeutigen Ausdrücke des Propofitionsdekretes, namentlich die Wörter „individuelle Eigentümlichkeiten der Rheinprovinz", fo ausdehnend auszulegen, daß fchließlidi die Geltung des ganzen rhcinifchsfranzöfifchen Rechts als derartige Eigcntümlidikeit in Anfprudi genommen werden konnte. Beides haben Kamp und Bradit mit nie erlahmendem Eifer, gegen die Gefchäftsführung des Präfidenten und gegen die entrüfiete Abwehr der beiden Freiherren, die ihrerfeits einzelne Adelswünfdic vorbraditen. Immer wieder unternommen ; und fie haben dabei, auffallender Weife, bei allen anderen Komiffionsmitgliedcrn folche Unterfliützung gefunden, daß fie damit die Majorität erzielten. Und zwar, obfchon diefe anderen Mitglieder aus> fchließlich von der Regierung berufene hohe Jujlizbeamte, auch ausfdiließlidi Altpreußen von Geburt waren: Der Geh. Oberrevifionsrat, Oberlandesgeridits» Vizepräfidcnt Mühler in Breslau, der fpätcre Minijter, der fdion damals von den Vorzügen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit im Zivil= und Strafprozeß offenbar überzeugt war; der Chef-Präfident des Oberlandesgerichts In(terburg, Böttidicr; der Präfident des Landgeridits zu Köln, Oswald, und der Koblenzer Oberprokurator Lombard. So nutzte es nichts, daß Fifchenich und Simon, als zu Gunften des rheinifchen Rechts partciifdi, der Kommifflon abfichtlidi fern» gehalten worden waren; es nutzte nichts, daß der Minifter immer wieder Be» fchränkung auf Einzelwünfche vorfdirieb; ihr Majoritätsergebnis, zufammen» gefaßt in dem Schlußbericht vom 20. November 1827, entfpricht durdiweg in allen Punkten den Wünfchen des er(ten rheinifchen Provinziallandtages. Mag fein, daß Dankelmann und Kamptz dadurdi nicht erfdiüttcrt worden wären; aber Bracht und Kamp hatten außerdem auch verftanden, das Ohr des Königs unmittelbar zu gewinnen, namentlich mit der unmittelbar an fein landes» väterliches Herz appellierenden Bitte (Bittfdirift vom 25. Oktober 1827), „daß CS Eurer Königlidfien Maje(tät gefallen möge, die Einführung der preußifchen Gcfetze in die Rheinprovinz bis dahin zu verfdiieben, wo foldie revidiert fein werden, und die Provinz mit einem Proviforium zu verfdionen, deffen gewiffe Naditeile bei dem feit jo Jahren mehrmals (lattgefundenen Wedifel der Gefetzgebung nur allzuoft und allzutief empfunden worden fmd''. Und darauf antwortet der Herrfdier, der eben nodi, im Landtagsabfdiiede vom 13. Juli 1827, die Provinzial(tände fajt fchroff durch bloßen Hinweis auf das Propofitionsdekrct vom 21. Oktober 1826 bcfchieden und namentlidi die Veröffentlidiung der ein« Die Rheinprovinz 181 5 — 191 5. 11 162 IV. E. Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung a fchlägigcn Verhandlungen und Abftimmungcn in einzelnen Blättern ungnädig vermerkt hatte, nunmehr aufs wohlwollendfte, wobei er fidi fogar (5. No» vcmber 1827) zu der Zufage bewegen läßt: „Was Ihren Antrag betrifit, die Einführung der preußifdien Gefetze in die Rheinprovinz bis zur vollendeten Revifion zu verfdiieben, fo können Sie vertrauen, daß Idi diefe Einführung nidit befehlen werde, folange ein für die Provinz als naditeilig zu erachtendes Proviforium dadurdi herbeigeführt werden würde." Das i[t allerdings, wenn man ganz genau zufieht, fa(t nichtsfagend ; denn CS behält fidi ja wohl der König danadi die Prüfung gerade der Hauptfrage immer nodi vor, ob nämlidi gerade dasjenige Proviforium, das dcmnächft vor vollendeter Revifion eingeführt werden foll, als naditeilig zu eraditen ifl. So war es denn wohl audi gemeint, wie fich fdion daraus ergibt, daß die ganze Aktion, die zu einem foldien Proviforium führen follte, nun in Berlin keines« wegs cingeftellt wird, fondern, wennfdion in etwas verlangfamtem Tempo, fort» geführt wird ; fo erklärt fidi denn audi, daß Mirbadi auf feine Gegenvorftcllung feinerfeits (3. Dezember 1827) dahin befchicden werden konnte, „daß der den beiden anderen Abgeordneten gegebene Befdieid nidit auf Verfdiiebung der Einführung der prcußifdien Gefetze bis zur Vollendung der Revifion gedeutet werden könne, fondern daß vielmehr nur die Verhütung eines der Provinz naditeiligen Proviforiums zugefidiert worden fei". Gewiß, fo ließ es fidi ver(tehen; aber konnte man den Rheinländern übelnehmen, wenn fie es fo nidit verftehcn wollten? Wenn fie ein Königswort eben nidit als niditsfagend fich hinwegdeuten laffen wollten? Und dafür, daß diefes Wort fofort in der ganzen Rheinprovinz bekannt wurde, die es mit lautem Jubel aufnahm, hatten natürlich Kamp und Bracht umgehend geforgt. Mochte nun felbft der hinkende Bote nadifolgen und eine formale offizielle Beftätigung ausbleiben — innerlich war die Autorität des Regierungsvorfchlages unwiderruflich durch diefe Vorgänge gebrochen. Dazu kam, daß fich auch eine Reihe fonftiger Gutachten, die von der Re- gierung eingefordert worden waren und die teils fchon 1825, teils bis zum Früh» jähr 1827 eingelaufen waren, ganz im Sinne der Kommiffionsmajorität ausa gefprochen hatten. Befonders die beiden Gutachten eines hervorragenden Juriften, des früheren Kölner Generalprokurators, jetzigen dortigen Regierungs= präfidenten Ruppenthal, die fidi gefondcrt auf die oftrheinifdien Teile des Regierungsbezirks Koblenz (Beridit vom 7. April 1825) und auf die franzöfifdi» rcditlichcn Lande bezogen. Sogar für jenes gemeinrechtliche Gebiet, für das doch anerkanntermaßen die proze(Tualen Verhältniffe fich wenig erfreulich geftaltet hatten, weift da Ruppenthal das preußifche Recht, fo wie es heute liege, ent» fchieden zurück, indem er fchonungslos deffen Mängel, Unklarheiten, Verworren« hciten, Selbftwiderfprüche und Rückftändigkeiten aufdeckt, aber auch im allge» meinen vor der formalen Rechtseinheitsidee als einem inhaltlich nur fchäd» liehen Einförmigkcitsftrcben, mit ganz romantifcher Begründung warnt. Danach kann man [Ich vollends vor(tellen, wie die Gutachten von Daniels, der diefe Dinge eben noch erlebte ^), und von Ruppenthal für das franzöfifchrcchtlidic Gebiet ausfielen. ^slamentIich aber erhoben nun auch die rheinifchcn Handelsa kammern, die Ruppenthal in Dandelmanns Auftrag um fchleunige Äußerung über den Gefetzcsanderungsplan in bezug auf das Handelsrecht crfucht hatte, ihre warnende Stimme. Am gründlichften und ausführlich(^en die zu Koblenz, *) Gc(iorben zu Köln am 28. März 1827. G Zweites Kapitel (1824—1830), Verhandlungen in Berlin 163 für die ihr Präfidcnt Pfendcr („der zwei Jahre als Riditer und dreizehn Jahre als Präfident fungiert", fetzte er feiner Unterfchrift hinzu) das Wort führte. In klaffifcher Darftellung weift er darauf hin, wie die ganze Blüte des rheinifdien Handels und Gewerbes mit den Grundfätzen des Code de commerce ftehe und falle, während Handels=, Wedifel= und Konkursred^t des preußifchen Land= rechts fich nur daher erklären laffen, daß bei feiner Emanation der Gefetzgeber in Altpreußen „Handel und Manufakturftand nod» auf den Stufen der Kindheit fand". „Soll daher die durdi die bisherige Gefetzgcbung fo hodi begünftigte, während der letzten 20 Jahre in den Rheinprovinzen begründete, früher nie gekannte hohe Regfamkeit im Verkehr aller Volksklaffen, vorzüglidi in Handel und Manufakturen mit dem Auslande, und der dadurdi erzielte Wohlftand nidit allmählich wieder dahinwelken, dann muffen wir bitten, daß in dem künftigen Handelsgefctzbuche die bisher im Rheinlande geltenden Rechtsgrundfätzc fe(t= gehalten würden." Daran fchließt fich dann, immer wieder, mit bcfonders beredten Worten hier vorgetragen, die flehentliche Bitte gegen Auferlegung eines abermaligen, „verderblichen" Gcfctzesproviforiums im allgemeinen. Trotzdem kam es nun noch zur Abfaffung eines Einführungspatentes durch Sadi, der es mit Votum vom 27. Januar 1828 dem Minifterium vorlegte und dabei fleh felb(t noch für Beibehaltung des Forum exemtum und der Prügeljtrafe ausfprach, letzteres fdion deshalb, weil diefe Strafe bei Übertragung des preu» ßifdien Rechtes auf die Rheinprovinz ausnehmen, heißen würde, die Bewohner diefer Provinz als „in Hinficht auf Bildung und Ehrgefühl höherftehend" denn die übrigen Untertanen anerkennen ! Nachdem dann nodi über all dies zwifdien Ruppenthal und Sack Bemerkungen und Gegenbemerkungen ausgetaufcht worden waren, auch der Finanzminifter von IViotz ein Separatvotum zu Gun(ten des beftehenden Rechtszujtandes, auf dem der blühende Zuftand des dortigen Handels wefentlich beruhe, eingereidit hatte, fand die entfcheidende Sitzung des Staatsminifteriums unter Anwefenheit des Kronprinzen am 5. März 1828 (tatt. In ihr fand man, zwifchcn allen dicfen Gegenfätzen und Bedenken, den Ausweg, daß man auf die baldige Vollendung, etwa binnen zwei Jahren, der Revifion folgender Gefetze flcher zählen könne: nämlich der Gerichtsordnung, der Hypothekenordnung, des Kriminalredits, der Kriminalordnung und der drei erß:cn Titel des zweiten Teiles des Allgemeinen Landredits. Daher könne die Einführung diefer Gefetzesbe(tandteile in der Rheinprovinz bis nach voll= endeter Revifion verfchoben werden; der Re|t des Allgemeinen Landrechts aber fei, unter den der Eigentümlichkeit der Rheinprovinz entfprechenden geringeren Modifikationen'), fofort dorthin zu übertragen; von alledem feien die Provinzial(tändc, bei ihrer bevorftehenden zweiten Tagung, zu verjtändigen und über einzelne folcher Modifikationsmöglichkeiten zu hören. Da diefes Pro» gramm dem Könige immer noch zu beltimmt zukünftige Entwicklungen fejts zulegen fchien, er es vielmehr in redit bezeichnender Weife perfönlich für wünfchenswert hielt, fich etwas freiere Hand vorzubehalten, fo wurde es noch in diefcm Sinne leicht umge^ialtet, bevor es durdi königlidics Propofitionsdekret vom 20. April 1828 den Ständen überwiefen wurde. Von diefcn wurde das Erreidite natürlich mit lebhaftem Dank anerkannt, zugleich aber aufs neue gebeten, doch audi jenen Re(tbc(tand des Allgemeinen Landrechts erlt nadi dcffcn Revifion, unter Abßiand von jedem Proviforium, in •) Davon fanden 12 nach dem Vorfchlage der Kommiffion Annahme und wurden im allgemeinen auch von dem 2. Provinziallandtage ratifiziert. 11* 164 IV. E. Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung a die Rheinprovinz überführen zu wollen, ein Befdiluß, der nun mit übcrwäl» tigcndcr Mehrheit (70 von 79 Stimmen) gefaßt wurde und dem dann nodi, mit Einftimmigkeit, auf Antrag MerkenssKöln^), die befondere Bitte gefeilt wurde, in die Neugefetzgebung für die Rheinlande jedenfalls den ganzen dort geltenden Handelskodex einfadi übernehmen zu wollen. Indem ähnliche Bitten von dem dritten Provinziallandtage^) wiederholt, durdi die Landtagsabfchiede aber (vom 15. Juli 1829 und vom 30. Oktober 1832) nur ausweichend beantwortet wurden, ging für diefes Mal die Angelegenheit ohne fefte Entfcheidung über die nidit refervierten Abfdinitte des Landredits aus, aber audi ohne daß irgend etwas pofitiv zur Einführung des preußifchen Rechts durdigefetzt worden wäre. Immerhin war der allgemeine Eindrud< der Rheinprovinz wohl der, daß der König, gemäß der natürlidi=unbefangencn Deutung des den bürgerlidien Deputierten gegebenen Wortes, fdiließlidi jedes Proviforium von der Rhein« provinz abzuhalten wifien werde, während man allerdings, wenn die Revifion zu Ende geführt fein werde, deren Ergebnide werde annehmen müflen. Bis dahin modite nodi viel Zeit vergehen, jedenfalls viel längere Zeit, als das Mini* flerium 1828 angenommen hatte; einß:weilcn arbeiteten Richter und Rechts« anwälte, Staatsanwälte und Notare mit Luft und Liebe an dem weiteren Aus» bau eines rheinifdisfranzöfifchcn Redits auf der gegebenen Grundlage, im nahen Anfd^lufle an die Bedürfniffc des praktischen Reditslebens und in rechts« fortgeftaltendcr Freiheit, die ihnen den Mangel reditsreformierender Gefetz» gebung wenigltens auf dem Gebiete des bürgerlidien Redits und des Prozeffes volU (tändig erfetzte. Namentlich erwies fich das „Rheinifdie Archiv" auch auf die Dauer als ein geeigneter Sammelplatz zur Aufnahme und Änderung der Ergebniffe diefer rheinifchen „Jurisprudenz". Alks das trug mäditig dazu bei, in diefen Jahren reicher friedlidier Entwidx'ieder ausfchlienlich aus Adeligen; bef. das Separat-Votum von Solms'Braunfels verlangt ,,deutfches Recht in deutfchcn Landen gelten zu fchen, an Stelle der bis jetzt noch in Kraft beliebenden franzöfifchen Rechte, Uberbleibfel einer ver« hafttcn Zwangsherrfchaft und einer grauenvollen Revolution, deren Prinzipien diefe Gefetz« fCDung mehr oder minder huldigt". D Drittes Kapitel (1831 — 1839), Justizminister v. Kamptz 165 Drittes Kapitel (1831 — 1859). Am 29. November 1830 (tarb Dand fiditigung des Juftizmini(ters Mühler einer Kommiffion anvertraut werden foll, zu weldier audi^) der Direktor im Juftizminifterium, der Wirklidie Geheime Oberjuftizrat Ruppenthal, zugezogen werden wird. Da inzwifdien endlidi audi die Angelegenheit der neuen Gemcindevcrfaffung keinerlei Fortfdiritte gemadit hatte, namentlidi die den rheinifdien Städten freigeftelltc Übernahme der revidierten Städteordnung vom 17. Nlärz 1831 an dem Wider|tande diefcr Städte gcfdieitert war, und der Landtagsabfdiied vom 3. März 1835 den auf Beibehaltung des bisherigen Zuftandes geriditeten (tändifdien Wünfdicn Rechnung zu tragen verfprodien hatte, fo (teht damit, zu Ende der Regierung König Friedrich Wilhelms III., die rheinifch=franzöfifdie Riditung durdiaus fiegreich da. Der ganze Be(tand des rheinifdisfranzöfifdien Rechtes ift erhalten und feinen mei(ten Teilen Fortgeltung auf unbeftimmte Zeit gefiebert. Auch in den gemeinreditlichen Gebieten i(l alles beim alten geblieben. Daß diefer Sieg wefenthdi gerade durch die unwürdige Kampfesweife desMiniftersv. Kamptz ermöglicht wurde, wird man mit Befriedigung fcltßiellen dürfen. Man wird aber auch fachlich das Ergebnis nidit zu fehr beklagen dürfen. Gewiß wäre es viel erfreulicher in (taatlichem und kulturellem Sinne gewefen, wenn der andere der beiden Wege, die der Oberpräfident von Bodelfchwingh zuerft zur Auswahl (teilte, hätte mit irgendwelcher Ausficht auf Erfolg eina gcfdilagen werden können. Nicht aber wird man bedauern dürfen, daß die mehr umfang= als inhaltsreichen Gefetzgebungs=Vorarbciten von v. Kamptz fämtlich gefcheitert fmd. Im Gegenfatz zu einem fortfch rittlich reformierenden, alles Gute der Neuzeit in fich aufnehmenden Gefetzbudie, wie es von BodeU fchwingh vorfchwebte, blieben diefe Entwürfe hinter allen befferen Einfichten ihrer Zeit zurüd<, (teilten, wie es Berner für den Kamptzfchen Entwurf eines Strafgefetzbuches gefagt hat-^), „zurüdtrevidierte" Faffungcn der altpreußifchen, ohnehin von der Zeit überholten Gefetze dar. Da war es felb(l: für die alten Provin= zcn beffer, daß fie mit diefer Flut von revidierten Gefetzbüchern und ProvinziaU gcfetzbüdiern verfchont blieben, die nichts gefördert und dem Fortfehritt ihre fchwer beweglichen Maffen cntgegenge(taut haben würden, während nunmehr ein Quell der Anregung zu folchcn Fortfehritten ihnen von feiten der Rheins provinz her erhalten blieb. Um wie viel fdilimmer wäre gar für diefe die Über» fchwemmung mit v. Kamptzfdien Gefetzgebungserzeugni(Ten gewefen ! Das wird nidit nur bezeugt durch die einhellige Stellungnahme aller rheinifeh=bürgerlichen Stände, Juriften und Laien, Kaufleute und Landbewohner, wobei man ja immer wieder an blindes Vorurteil denken mag, fondern audi durch das fa(t ebenfo einhellige Zeugnis zahlreidier einfiditiger altpreußifcher Staatsmänner und Juri(ten, die die Verhältniffe der Rheinprovinz an Ort und Stelle kennen gelernt hatten, z. B. des Finanzminiftcrs v. Motz, des Oberpräfidenten v. Bodel« fdiwingh und des Ju(tizminiftcrs Mühler. 1) So vom Gefamtminifterium befchloffen gegen die Stimme von v. Kamptz, der dies feinem Minifterium vorbehalten \x/iffen wollte. *) Diefes faft peinlich kapitulierende Verfprechen wurde nicht vom Minifterium vor« gcfchlagen, fondern erft im Kabinett zugefügt, *) Vgl. darüber auch Hälfchner, Gefchichte des brandenburgifch=preuf)ifchen Straf rechts S. 268 ffg. 174 IV. E. Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung Viertes Kapitel (1840 — 1855). Mit dem Landtagsabfdiiedc von 1839 und der Thronbe(tcigung Friedrich Wilhelms IV. war die Gefahr vorüber, daß das rheinifdie Redit einem zurüdß gebliebenen, altpreußifdien Redit wcidicn müßte. Die Frage konnte nur nodi die fein, ob audi einer neuen, fortgefdi ritten en preußifdien Gefetzgebung gegen» über fich die Sonderftellung des rheinifdien Redits würde aufrediterhalten lajjen, oder ob durdi jene das rheinifche Redit allmähhdi aufgcfaugt wurde. Anfangs beftand man ja wohl, befonders leidenfdiaftlidi im Rheinlande, fdion aus dem nunmehr eingewurzelten Mißtrauen gegen Berliner überrafdiungen, auf der Sonderung; man hatte fidi daran gewöhnt, politifdien Fortfdiritts= und Freiheitsdrang vor allem durch Fcithalten an dem rheinifdisfranzöfifdien Redit zu betätigen, die Sadie fa(t ausfdiließlich als politifche Madit= und Ehrenfrage, (tatt als Nützhdikeitsfrage anzufehen. So bildete man das rheinifdie Redit immer nur mehr aus, fetzte fidi nur immer entfchiedener ein für feinen unver= fehrten Be(tand und felb|t für feine Reinigung von einzelnen Eindringlingen, und fand jetzt fogar damit bei der Zentralregierung, im Intereffe der politifdien Ruhe, Erhörung. Die Angltlidikeit, (törcnd in die rheinifdien Dinge einzu* greifen, ging dort fo weit, daß die Rheinlande aus dem Gefdiäftskreife des neuen Gefctzgebungsminifters v. Savigny durdi deffcn Einfetzungsorder vom 28. Februar 1842, die allerdings nidit veröffentlidit wurde, im wefentlidien geradezu ausgefdiloffen wurden.^) Je mehr nun aber von den Grundfätzen des rheinifdien Redits umgekehrt in die preußifche Gefetzgebung überging, je entfcheidender fidi fogar dann die EinflüJTe jenes Redits auf dicfe Gefctz» gebung geltend machten, de(to mehr mußte die andere Möglichkeit zur Ver= wirklichung kommen. Sobald es fidi um eine wahrhaft großzügige, in der Richtung der Zeit liegende neue inländifdie Kodifikation handelte, mußte ihr das fremde Redit doch fdiließlidi, im nationalen und im Einheitsintereffc, weichen. Infofern hat fich das rheinifchsfranzöfifche Redit, indem es nunmehr auf die preußifche Gefetzgebung hinüberwirktc, fein eigenes Grab gegraben. Namentlich tritt diefe Entwicklung auf dem Gebiete des Strafrechts hervor, fowie überhaupt im Zufammenhange mit der politifdien Strömung, die in der unmittelbar nachmärzlidien Zeit rheinifche Anfchauungen und ihre rhein= ländifdien Vertreter an die Spitze der Regierung führt. Dagegen tritt auch hiergegen wieder ein Rückfchlag oder wenigftens ein Stilljtand ein, fobald die politifche Gegenftrömung der fünfziger Jahre, vollends feit Olmütz überwiegt. Wie politifch, fo auch juriftifch wird die Hochflut der revolutionären und der erften parlamentarifchen Zeit langfam vorbereitet durch die nicht ganz unbe» träditlidien, aber dem Drängen der Zeit nidit mehr genügenden Maßregeln der crften Regierungsjahre König Friedrich Wilhelms IV. Da gelingt es, was unfcr Gebiet anbetrifft, den Vorftellungen Ruppenthals {31. Juli 1840) und einer entfprechenden Petition des fechften rheinifdien Provinziallandtages um Auf- hebung des verfehlten Gefetzes vom 6. März 1821, diefes wenig(tens zum großen Teile, nämlich in feinen prozcffualen Vorfchriftcn und in der ausge- dehnteren Bedeutung feiner materiellrechtlichen Vorfchriftcn, zu befcitigen (Gcfctz vom 18. Februar 1842). Einen fo leichten und zweifellos empfehlens- ') Man beachte den Gegenfatz der Gebietsfcheldung früher zwifchen v. Kamptz und Mühler, i«t tember 1848 und ihre Revifion durdi das Gefetz zum Schutze der perfönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850. Erfterc Akte hatte, in Anlehnung an das von den rheinifchen Ständen auf Hanfemanns Anregung hin Geforderte (vergl. oben Seite 175), die Durdiführung der im Intereffe des Strafprozeffes und der Polizei unentbehrlichen Frcihcitseinfchränkungen nicht nur in bedcnklidier Weife an das Vorliegen eines richterlichen Befehls gebunden, fondern namentlich audi, im Sinne der franzöfifdisrheinifchen Trennung zwifchen Juftiz und Verwaltung, lediglich dem Richter und der unter deffen Leitung flehenden gerichtlichen Polizei zugewiefen. Demgegenüber führte das Gefetz von 1850 unter Vor» fichtsmaßrcgcln, die im wefcntlichen den nodi heute auf Grund unferer Straf- prozeßordnung gültigen entfpredien, wieder erweiterte Möglichkeiten der Ver» haftung und Hausfudiung, und zwar unter Mitwirkungsmöglidikcit aller Polizei- beamten ein, fo daß der Abgeordnete Peter Reichcnsperger dagegen vom Stand- punkte des rheinifchen Redits aus lebhaften Einfpruch zu erheben für erforderlich hielt. Aus diefen beiden Gefctzen hat fich bis heute noch in unmittelbarer Geltung erhalten die von ihnen gcfchaffcnc, bis dahin den Rheinlanden als gefetzliche Einrichtung fremde Schutzhaft in Fällen, wo die polizeilidie Ver- wahrung zum Schutze des Verwahrten fclbjl erforderlich crfdjeint. In ähnlichem Vcrhältniffc zueinander, wie die beiden zuletzt erwähnten Gefetze von 1848 und 1850, ftehen auch wieder die Vorfchriften der Verord- nungen vom 6. und 15. April 1848, die für politifche und Preßverbrechen in dem Bezirke des AppellationsgeriÄtshofes Köln die Gefchworenengerichts« barkeit einführen, einerfeits und der Gefetze vom 25. April 1853 fowie vom 6. März 1854 andercrfeits. Das Gefetz vom 25. April 1853 weilt die Unter* fuchung und Aburteilung in allen Fällen von Hoch- und Landesverrat, von Täthdikeitsverbredien gegen den König oder gegen Mitglieder des königlichen Haufes und von (trafbaren Handlungen gegen befreundete Staaten ausfchließlich dem Kammcrgerichtc zu, eine Maßregel, die fogar nodi 1867 auf die neuer- worbenen Landesteile ausgedehnt worden i(t, wie fic auch fdion ausdrüdx'ar; audi in vielen kleinen Städten lebte fchon im Jahre 1820 ein hodientwickelter induftrieller Geift, und in manchen von ihnen gab es alte Induftrien von größter Be* deutung. Denken wir nur im Regierungsbezirk Aadien z. B. einmal an die vielen und bedeutenden Tudifabriken in Burtfchcid, Cornclimünltcr, Stolberg, Eupen, Malmedy, Montjoie, Imgenbroidi, Roetgen, Düren; an die Papicr= fabriken in Düren, Birkesdorf, Birgel, Merken, Stodiheim, Lammersdorf, Brachein, Heinsberg, Hambach, Malmedy; an die Glashütten in Stolberg, an die Bleihüttenwerke in Cornclimünfter, GrelJenidi, Bleibuir, Keldenich, Sdilciden, Anjtoß, Schcvcn ; an die Eifcnhüttenwerke in Walheim, Birgel, Lammersdorf, Marmagen, Hellenthal, Cronenburg, Call, Gemünd, Keldenich, Sdileiden, VulTen, Wollfeiffen, Montjoie, Düren und Gemünd; und ergänzen wir fo für jeden der anderen Regierungsbezirke, teils in geringerer, teils in größerer Zahl die Indu(trieorte; ergänzen wir ferner die Arten der Betricbfamkeit und des Gewerbcfleißes nach allen Richtungen damals bekannter Indu(triczweige, fo erhalten wir ein in aller Buntheit und Mannigfaltigkeit wimmelndes Bild induftrieller Regfamkeit fdion damals. Wie aber Städte, wie Köln, Aaciien, Elberfeld=Barmen und andere, als größere Zentren wirkten, von denen aus fich eine Organifation der menfchliciien Arbeitskräfte weit ins Land hinaus er(tredx'eit gediehen i(t, daß fie durdi die Einfuhr fremder Manufakturen und durc^ den Mangel an hinlänglichem Abfatz für ihre Produktion in ihren weiteren Fortfehritten aufgehalten und behindert wird, find Schutzmaßregeln zu redita fertigen". — War die Nation fchon fo weit? Zweites Kapitel (1840 — 1870). Induftrie, Bergbau, Geldwefen, Handel, Organifation des inneren Marktes, Intereffenvereinigungen, Gefe^gebung, Wirtfchaftspolitik. Bei der Thronbe(tcigung Friedrich Wilhelms IV. betrug die Gefamt= bevölkerung des preußifchen Staates annähernd 15 Millionen. Sie war gegen 1817 um 4V2 Millionen gcwachfen (1817: 10319993 Einwohner). Mit den im Jahre 1866 neugewonnenen Provinzen ftieg fie dann auf 24 Millionen, eine Einwohnerzahl, die ungefähr der ganzen Bevölkerung von Deutfchland im Jahre 1816— 50 Jahre früher — gleichkam, um bis 1900 zu 34 1/2 Millionen anzuwadifen. Von jenen 15 Millionen im Jahre 1840 entfielen auf die beiden Weftprovinzcn Rheinland und Weftfalcn 2 591 650 und 1 383 197, zufammen 3 975 847 Ein= wohner, alfo mehr als ein Viertel der Gefamtbevölkerung, ein Verhältnis, das dann bis zum Ende des Jahrhunderts ziemlich konftant blieb: 31490315: 7714270. Aber während in We(tfalen 1816 fchon 52 Einwohner auf dem Quadratkilometer faßen, im Rheinland 1820: 77, entfiel auf ganz Preußen er(t die Durdifchnittszahl von 35 Einwohnern auf den Quadratkilometer, und erft zu Ende der fiebziger Jahre erreidite die Bevölkerung in ganz Preußen eine Dichtigkeit, wie fie die Rhcinlande fchon 60 Jahre früher hatten. Aber nicht nur die Einwohnerzahl wudis in den erftcn dreißig Jahren preußifcher Herrfchaft um jährlidi rund 1 %, fondern es war in Preußen auch die Viehzucht vorangefch ritten. Die Zahl des Rindviehs war gewachfen, und die der Schafe gar erreichte mit dem Jahre 1867 ihren Höhepunkt, von dem fie er|t gegen Ende des Jahrhunderts auf den ehemaligen Beltand von 1816 zurückfank, während dieRindviehvermehrung bis zumSchluffe des Jahrhunderts und darüber hinaus fleigend blieb. Dicfe Parallele, fo merkwürdig fie auf den erften Blick erfdieincn mag, zeigt dodi zweierlei: kam auch in den Rheinlanden der weitaus größte Teil der Bevölkerungsmehrung den Städten zugute, fo fchr, daß neue Städte von Hundert= taufenden von Einwohnern entftanden, wo ehedem ein Dorf, eine kleine Stadt= gemeinde oder gar öde Heide fich befand; bezogen diefe Städte felb(t einen nidit geringen Teil der ihnen zuwandernden Einwohner aus dem deutfdien Often, fo lief der deutfdien Landwirtfdiaft doch durdiaus nidit alles davon ; fie hielt fidi nicht nur auf früherem Stande, fondern wudis in ihrer Produktion und Produktiv» kraft weit über die ehemaligen Zahlen hinaus. Wie fie das vermochte, werden wir gelegentlich fehen. 214 V. M. Schwann, Grundlagen und Organisation des Wirtschaftslebens d Wie aber (tand es allgemein im Jahre 1840? Preußen i(l unfertig, man fühlt und fieht es an allen Enden; der Zollverein i(t unfertig; Deutfdbland nidit minder — denn der Deutfdie Bund — für das wirklidie Leben kommt er gar nidit in Betradit. Man erwartet nichts von ihm, fpürt nur gclcgentlidi feine Hemmungen. Die Nation bildet kein politifdies Gefamtwefen. Der Zollverein hatte einen Anfang gemadit, aber feine Entwidtlung ftodit nun. Freien Handel braudit man für die Einfuhr der Rohftoife; die Spinner bedürfen der Baumvx'olle und Seide und der Wolle, die Zuckerinduftrie bedarf des Rohzuckers — er|t in den vierziger Jahren vollzieht fich der Umfdiwung zur Rübenzudicrinduftrie — die Lederfabrikation der Häute, die Mafdiinen= und Werkzeugefabrikation des Eifens, und teilhaben will das Leben des Zoll= Vereins an den allenthalben neu aufkommenden Handelsartikeln. Verdrängte doch er(t von 1830 ab die Öllampe allmählich das Talglidit und den Kienfpan gar in den Bauernhäufern. Da kam das Palmöl auf neben dem hcimifdicn Rüböl (1826), dann das Kokosöl und beide drangen als Erfatz des Talges in die Scifcn= fabrikation. 1822 (teilte Pelletier das Chinin her, 1825 kam es zuerft in den Handel, bald darauf das Chinoidin. 1827 entdeckte Lampadius den SchwefcU kohlen(tofF, der fchnell eine tedinifchc Verwendung zum Ausziehen von Fetten gewann. Dann wurde Brom gewonnen aus der Mutterlauge der Salinen, und 1831 gelang die Hcr(tcllung von Naphthalin. Es war der erfte Verfuch der fpäter fo intereffant gewordenen Reihe von Produkten der trockenen Kohlendeftillation. 1833 folgte das Kreofot (Reidienbadi), 1834 das Veratrin, die Einführung des Isländifchen Moofes, 1835 die derCapsules gelatineuses, 1836 die Dar(tellung des ätherifchen SenfsOls im großen; 1840 dann begann die Maffenherftellung von Cyankali infolge der Erfindung der Galvanopla(tik ufw. ufw. Aber nidit nur freien Handel braudite man, audi Schutz der Indu|trie wurde begehrt. Ganz Preußen befaß im Jahre 1837 erft 421 Dampfmafdiincn ; neun Jahre fpäter find's ihrer fchon 1139. Das neue Organ des Handels und Verkehrs, die Eifenbahn, (teht noch in den Anfängen mit ihren umwälzenden Wir= kungen. Man braucht Sdiicnen, Lokomotiven, Waggons. Da gibt England die Mafchinenausfuhr frei. Aber fdion find unfere eigenen Eifenfchmiede an der Arbeit. 1824 hatten die Remys auf Raffelftein bei Neuwied das er(te Puddcl= werk errichtet. Im folgenden Jahre erbaute Höfch in Lendcrsdorf Puddelöfen und ein Stabeifenwalzwerk. Das Werk zu Efchweiler Pumpe und die Quinthütte an der Mofel folgten 1830; die Familie Stumm crriditete 1831 das erfte Puddela und Walzwerk und 1840 den erften Kokshochofen; ihnen fchloß {id\ 1836 das große PuddeU und Walzwerk Gutehoffnungshütte von Jacobi, Haniel und Huylfen an. Raffelftein lieferte die er(ten deutfchen Sdiienen für die erfte deutfche Eifenbahn zwifchen Nürnberg und Fürth; Höfdis Werk bei Düren begann 1838 mit der Schienenlicfcrung für die Rhcinifchc Bahn, die Gutehoffnungshütte 1844 für die Köln=Mindener und die Hermannshütte des Hörder Eifenwcrks 1848 für die Prinz Wilhelmbahn. Aber gerade zu Anfang der vierziger Jahre fanden in der Eifenproduktion rafche Wandlungen (tatt. Die Einfuhr überftieg die Produktion jäh, bis von der Mitte der vierziger Jahre an die Produktion langfam die Einfuhr zurückdämmte. Der crftc Kokshochofen — das war die neue Ausflcht. Erft wenn Eifcn und Kohle zufammenkommen, ift die deutfche Eifenproduktion imftandc, den Bedarf zu decken. Mittlerweile aber hören wir: im Siegcriandc wird um 1840 noch ganz handwerksmäßig gcwirtfchaftct, und während anderswo die Eifeninduftrie a Zweites Kapitel (1840—1870): Schwerindustrie, Kohle, Eisen, Eisenbahnen 215 zur kapitaliftifdien Organifation vorgcfdiritten war, war „die wirtfdiaftlidic Organifation der Siegerländer Gewerken völlig veraltet". Um die gleidie Zeit „ging die alte Eifenindultrie der Eifel rettungslos zu Grunde''. Weiter: Koks= induftric und Koksproduktion im Ruhrrevier waren unbedeutend, bis Ende der vierziger Jahre Eifenbahncn und Hodiöfen als Großkonfumenten hervor= traten. 1840 betrug die gefamtc Produktion des Reviers erft 16000 t (320000 Zentner). — 1837 hatte der Regierungsbezirk Düjleldorf erft zwei kleine Holz= kohlenhochöfen, 1850 er[t einen Kokshodiofen, 1851 aber fdion ihrer drei. Immerhin find die Zahlen ganz gering. Von 1850 ab aber (tiegen fie. 1852 befitzt der Oberbergamtsbezirk Dortmund 12 Hodiöfen mit einer Gefamtproduktion von 446 342 Zentnern, von denen 271 273 Zentner mit Koks, 89 691 mit Holz« kohle, 85 378 mit gemifditer Feuerung hergcftellt wurden. Im Jahre 1861 waren der Hodiöfen 44 vorhanden, mit einer Gefamtproduktion von 3 018 272 Zentnern, von denen nahezu drei Millionen nur mit Koks gewonnen wurden. In den glcidien Jahren (1851) zählte man für den Oberbergamtsbezirk Bonn dagegen fchon 87 Hodiöfen mit einer Gefamtproduktion von nahezu 1 ^ Million Zentnern . 1858 erreidite hier die Zahl der Hodiöfen (111) mit fa(t 3 Yz Millionen Zentnern den Höhepunkt, fank dann bis 1861 auf 83 Hodiöfen mit einer Pro« duktion von 3,7 Millionen Zentnern, von denen allerdings nur nodi 469 503 Zentner mit Holzkohlen hcrgeftellt waren. Immerhin wurden im Jahre 1850 von der Gefamterzeugung der Hodiöfen im Zollverein er(t 17,7% bei Koks oder gemifditem Brennmaterial erblafen. Sieht man nun, daß die Kohlen» Produktion des Jahres 1834 in ?3nz Preußen erft 1,2 Millionen Tonnen = 24 Millionen Zentner und des Jahres 1843 in ganz Preußen 3,1 Millionen Tonnen = 62 Millionen Zentner, dagegen die des Jahres 1900 in den Rhein» landen allein 73 Millionen Tonnen = 1460 Millionen Zentner und 1910 die Produktion der drei Rheinlandbezirke (Ruhr, Saar, Aadien) 105,7 Millionen Tonnen = 2114 Millionen Zentner betrug, alfo nahezu fidi verhundertfaditc, fo erkennt man audi hier deutlidi : Deutfdiland war nidit fertig, und ein unge« heurer Weg, eine ungeheure Arbcitsleiftung war erforderlidi, um das Ziel der Produktion zu erreidien, das heute erreidit wurde. 1840 gab es in Deutfdiland er(t 469 km Sdiienenftränge, 1900 gegen 50000 km, in Europa 1898: 265000 km. Dazu befitzt Preußen allein um 1900: 95 945 km Kun(t(traßen. Die geringe Zahl der Eifenbahn(treden von 1840 vermehrte fidi natürlidi nicht in einem oder zwei Jahren fo, daß eine gleidimäßigere Verteilung des Verkehrs und der Verkehrsmöglidikeit über das Land zuftande gekommen wäre, fondern dazu bedurfte es der Jahrzehnte. Diefe Ungleidiheit der Verkehrs» möglidikeiten fdiuf alfo zunäch(t eine wachfende Ungleidiheit der Lebens« möglidikeiten. Die Verbilligung des Lebens hier, die Verteuerung dort wirkte hier vermehrte, dort reduzierte Erwerbsmöglidikeiten. Thünen hat das Bild von einem im ifolierten Staate gelegenen Marktzentrum gezeidinet und feine wirtfdiaftlidien Folgen entwidclt. Diefes Bild aber ift nidit nur Theorie und Hypothefe, fondern es (tedt ein Stüd< Wirklidikeit darin. Nur muffen wir uns das Marktzentrum nidit etwa als Punkt in der Mitte denken, fondern als Stridi als eine Linie quer durdi ein Gebiet. Und fo ein Zentralß:ridi war damals eine Eifenbahnlinie in einem Landgebiet. Sie bildet das Marktzentrum, wonadi alles nahe und fernere Leben hin(trcbt. Haben Güter und Perfonen erft die Eifenbahn erreidit, fo fmd fic auch fchon im Lebens= und Marktverkehr. Je 216 V. M. Schwann, Grundlagen und Organisation des Wirtschaftslebens n höher aber hier die Welle des Lebens trägt, um fo tiefer finkt fie in tler Ferne von diefer Zentrallinie. Und das bedeutet eine wadifende Ungleidiheit der Lebenshaltung und Lebensführung, die nur der Ausbau des Verkehrsnetzes beheben kann. Zunäd»(t aber wirkten die Eifenbahnen audi nodi in anderer Weife kon= zentrierend. Ihr Bau und Ausbau kojtete enormes Geld und enorme Arbeit. Alfo Geld und Arbeit drängten zu ihnen hin. Geld bedurfte aber audi die wadifende Induftrie, und das um fo mehr, als fic mehr und mehr Anlagen erforderte, die der einzelne aus eigenen Mitteln allein nidit mehr lei(ten konnte. Da mußten andere helfen. Die Gefellfdiafts» Unternehmung wurde zur Notwendigkeit. Das Wefen der Erwerbsgefcllfchaften zu regeln, wurde in Preuf^en mit dem Eifenbahngefetz von 1838 zuerft vcrfudit; ihm folgte das Gefetz vom 9. November 1843 für die Aktiengefellfdiaften. Die Gefetze gaben die Gründung keineswegs frei, fondern banden fie an die ftaatliche Genehmigung und an die (taatlidic Auffidit. Aber beides hinderte eine rafdiere Zunahme der Gefellfdiaftsunternehmungen nidit. Denn bei induftriellcn Unters nehmungen wirkt ein anderes Element entfcheidend mit herein, das intellektuelle, die geijtige Reizung, die eine neue Erfindung nidit ungenützt laffen will und kann. Diefes geiltige Heizelement aber fteigt zu immer größerer Höhe und Kraft. Nicht nur, daß eine Erfindung der anderen folgt, daß in der Werkjtatt der Tcdiniker und IVledianiker, in den Laboratorien der Chemiker und Phyfiker der Faden fchon bald gar nidit mehr abreißt, fondern durch die Entwicklung des Nachriditen= und Zeitungswefens erfahren die Menfdien auch fofort davon. Und da vollzieht fich nun ein folgcnfdiwerer, merkwürdiger Wandel : man wird neugierig, man wird es immer mehr trotz dem Grundfatze der alten Pädagogik, die den Mcnfdicn die Neugierde als ein La(ter verbot. Und diefe Neu= und Wißbegier findet eine weitere Pflege in den Vereinen. Die Zeit ift da, wo die fogenannten „polytechnifchen Vereine" gegründet werden, verbunden mit einer — Sparkaffe. Die Notwendigkeit der Zeit findet da einen er(ten kindlichen Ausdruck: Mehrung des fadilichen und fadilidien Wiffens und Sparen, um zur rechten Zeit zu „können'' und zu „vermögen". Die Zeitung aber fpricht von allen Dingen zu allen Menfchen : fie rückt ihnen das noch Ferne greifbar nahe, und fo gewöhnt fich die Maffenpfyche lang» fam an die Betraditung von Zukunftsausflditen und Zukunftsmöglichkeiten. Zukunftsphantapcn fteigcn auf; die Ungeduld zieht bei den Massen ein, und Forderungen beginnen laut zu werden, als wäre das er(t zu Schaffende fdion da und fiebere Wirklichkeit. Das i(t eine Wirkung nadi der fozialen Seite hin. Aber wirtfchaftlich trat eine andere Wirkung längft in Funktion. Die Kauf« leute bedürfen der Nachrichten von den fernen Handelszentren. Schon i(t es fo, daß ihr Gewinn und Verluft von der Stunde früher oder fpäter abhängig wird, wo eine Nachricht [ie erreicht. Das drängt zur Organifation des Nachrichten- dienftes, zur Entwicklung des Zeitungswefens im großen Stile. Köln fah in den dreißiger Jahren fchon neben der [tctig wachfendcn Kölnifchen Zeitung mit ihrer Schncllpreffe die Entfiehung eines „Allgemeinen Organs für Handel und Gewerbe"; es fah in den vierziger Jahren zweimal die Entftehung einer Rhei« nifchen Zeitung, wo die radikaleren Elemente zum Worte firebten, jene, die den Samen der Ungeduld in ihre jungen Fcucrfeelcn aufgenommen hatten; und nicht zu Ende ging das vierte Jahrzehnt, ohne daß auch auf „liberaler" Grundlage die ultramontane Preffe hier erftand. Zweites Kapitel (1840—1870): Zeitungswesen, Nachrichtendienst, Sozialwirtschaftliche Lage 217 Aber die Entwicklung fdircitct fort, fie dringt tiefer in das Volksleben ein ; fic padit den Bauer auf dem Lande an und bedroht ihn in feiner Exiftcnz oder rüttelt ihn auf aus feinem Traumdafcin. Und audi hier ift die Wirkung eine durdiaus ungleidie. Während z. B. um Efdiweiler der Hektar Land im Jahre 1853 mit 3000 bis 3600 Mark bezahlt wurde und 1904 nur 4000 Mark von den Hüttenwerken vergütet wurden, die Bodenprcife alfo fa(t gar nicht geftiegen waren, erzählt Banfield im Jahre 1846 aus Oberhaufen: „Es ift nodi nidit lange her, da war alles Haide, und Land war billig zu haben." Jedes neue Walzen» gerüft verteuere nunmehr fchon jeden Morgen Land, und fünf Jahre fpäter war der Preis des Bodens in der näch(ten Umgebung der Hermannshütte fdion fo hoch, daß man von der Erwerbung eines größeren Gebietes zur Neuanlage von Hochöfen abfchen mußte. „Die ftädtifdien Terrains Krupps in Effen wären heute für die Indu(trieunternehmen abfolut unbezahlbar." Ging nun Land aus dem Befitze des Bauern in Hände über, die mehr aus ihm hcrauszuwirtfchaften wußten, fo war dies nidit fchlimm. Aber der Bauer, der nebenan lag und fein Land behielt, oder gar der zweite Bauer, der es von ihm zu dem hodige(tiegenen Preife übernahm, wie follte er auf feine Rechnung kommen? Alfo die Bodenpreife (tiegen, das Leben wurde teurer, und das [tuftc [ich nun von foldien Zentren aus ab bis in weite Umkreife, bis dahin, wo fidi die Preiswelle im „platten Lande" verlief. Im fich immer dichter befiedelnden Rheinlandc aber gab es folchc fich verlaufende Krcife kaum mehr. Da über» fchnitten fich die Umkreife der didit gepflanzten wirtfdiaftlichen Zentren bald von vielen Seiten. Der Bauer aber, der da mitten drin faß, war der Gefahr aus» gefetzt, in Schulden zu verkommen, und der Bauer, der draußen faß, wohin die Induftrie nodi nicht kam, war nidit minder bedroht. Wer follte da helfen? Wer den bedrängten billigen Kredit verfdiaffen? Wie der Bauer, fo der Handwerker. Aber wie dem Bauer nodi die Methode fehlte, die fein Stüdi Land in voller Ertragsfähigkeit zu erhalten vcr» mocht hätte, fo dem Handwerker der kleine, „individuelle" Motor, der es ihm ermöglicht hätte, der großen Mafdiine der Fabrik zu begegnen. Und nun fehe man die lange Reihe rückwärts: der Eifenbahnbau braucht Geld, enormes Geld; man kann nicht davon laffen, will man die Rheinlande, Preußen, Deutfdiland nicht wirtfchaftlich aus der Konkurrenz mit den anderen Ländern und Völkern ausfchaltcn. Die Induftrie braucht Geld, enormes Geld, um die Aufgaben zu Iciften, die ihr gcftellt werden. Der Handel braucht Geld, um Deutfdiland in Mitgenuß der täglich neu auftretenden ko(tbaren Güter des Weltverkehrs zu bringen. Die Landwirtfchaft braudit Geld, um die wachfende Bevölkerung ernähren zu können. Und das Handwerk bedarf nicht minder des Geldes. Es ift eine ungeheuere Notlage, worin man fidi (tetig befindet, denn das Geld fließt zu allcrerft den großen Unternehmungen des Verkehrs zu; ohne ihr rafchcs Fortfchrcitcn wäre ja alle Mühe umfonft. Die Induftrie — ßieht da erft an zweiter Stelle. Und die anderen Betätigungen folgen je nach dem Grade ihrer größeren oder geringeren Ausficht oder Ausfichtslofigkeit. Diefe Lage ift da. Man braucht fie den Leuten nicht klar zu machen durch lange theoretifche Erörterungen, denn jeder fühlt fic am eigenen Leibe, und jeder fudit nadi einem Wege oder Auswege, der die Befreiung bringen könnte. Was Wunder, daß fich da die Blid^e rüdiwärts riditeten? Daß man nadi Wiedereinführung von Zünften und Gilden zu rufen begann auf der Seite des Handwerks, daß ganze Fluten von Bitten und Anträgen, die Mafchinen abzu» 218 V. M. Schwann, Grundlagen und Organisation des Wirtschaftslebens a fdiaflFcn, ihren Bau zu verbieten, die Verfammlung der Handwerker in Frankfurt am Main im Jahre 1848 überfdiwemmten. — Und die Induftrie — konnte man fich wundern, daß fic feit dem Ende der dreißiger Jahre immer dringlicher nadi dem Sdiutz der nationalen Arbeit begehrte? Aber durfte, konnte man ihr will= fahren? War nidit vielmehr gerade das Gegenteil notwendig: dem Zollverein den Ruf der Handels* und Gewerbe* und Verkehrsfreiheit zu erhalten, um fo fremden Untcrnehmerkräften, fremdem Gcldc die Tore offen zu halten? Sie zu lod" Betriebe und über 40% ihrer Fläche. Die Zufammenlegung wurde cr(t in den achtziger Jahren, der großen Reformperiode der rheinifchen Landwirtfchaft, nach andauernden weiteren Kämpfen durchgefetzt. Der einzige weitere Fortfehritt der Landes» kulturgefetzgebung in jenen früheren Jahrzehnten war das rheinifdie Vorflut» gefetz vom 14. Juni 1859, das im wefentlichen die Beftimmungen des prcußifdicn Vorflutgefetzes von 1811 nun auch in die Rheinprovinz einführte. Sechftes Kapitel. Die Agrarreformen der fiebziger und achtziger Jahre (Eifelfonds, Landes" Bank, Zufammenlegung). Die Rheinprovinz befitzt zwifchen vielen von der Natur ärmer ausgef^atteten Landesteilen eines der reichften Getreideproduktionsgebiete, des alten „römifchcn Reiches Kornkammer", in der fruchtbaren Ebene, die fich, etwa mit Jülidi und Die RheinproTÜ» 1815 — 1915. 18 274 VI. W. Wygodzinski, Die rheinische Landwirtschaft a Düren im Mittelpunkt, nördlich der Eifel vorlagert. Der Gctreidcübcrfchuß bot dem Kölner Handel Gelegenheit zu vorteilhaftem Export nach England, der nach der Aufhebung des englifdien Getreideeinfuhrverbots im Jahre 1826 lebhaft wieder einfetzte. Allmählich mußte jedoch mit der (teigenden |tädtifch= indu(triellcn Bevölkerung des Rheinlands diefer überfchuß aufgezehrt werden. Im Jahre 1848 erklärte freilich der Landwirtfchaftliche Verein noch energifch die Aufhebung jedes Zollfatzes für Getreide wie die anderen Rohprodukte der Landwirtfchaft cinfchließlich Vieh für wünfchenswcrt, da der Zoll angefichts der Tatfache, daß Deutfchland im allgemeinen auf den Export von Getreide ange^ wiefen fei, für die Landwirtfdiaft fchr nachteilig werden könne; nur für Wein wurde die Beibehaltung des Schutzzolls verlangt. Die Zollfrage fcheidet dann längere Zeit aus dem Intereffenkreis der rheinifdhen Landwirtfchaft aus; erft 1870 befchwert fleh der Landwirtfchaftliche Verein über den neu eingeführten belgifchen Getreidezoll, deffen Aufhebung er verlangt; alfo auch jetzt noch Ver= tretung des Exportintereffes. Die große Vcrfchiebung erfolgt erft in den ficb= ziger Jahren, als die (teigende amerikanifche Einfuhr dem europäifchen Getreide» bau eine immer drückender werdende Konkurrenz zu machen beginnt; 1878 zum crften Male wird der Verein fdiutzzöllnerifch und fpricht fich dahin aus, daß er eine Befferung der notorifchen Notlage des Grundbefitzes nur in der Einführung von indirekten Steuern und niedrigen Zöllen auf landwirtfchaftliche Produkte erblicke. Von da an geht die Stellungnahme des Vereins und der nunmehr ent(tehendcn anderen Vertretungskörpcrfchaften der rheinifchen Landwirtfchaft mit der der gefamtdeutfchen parallel, zumal das breite Einfallstor des Rheins hier im Weften diefe amerikanifche Konkurrenz bcfonders empfindlich macht. Gleichzeitig mit der Abwehr der ausländifdien Konkurrenz ging nunmehr eine energifche Steigerung der einheimifchen Produktion. Eine wefentliche Bedeutung hierfür hatte die durch das Dotationsgcfetz von 1875: erfolgte über» tragung der Förderung des Meliorationswefens an die Provinz, die wiederum weit über die ihr vom Staat übcrwicfene Rente hinaus ganz außerordentliche Summen für diefen Zweck aufwandte. Es handelte fleh um Landeskulturvera bcfferungcn jeder Art, wie Drainagen und fonftige Be= und Entwäfferungs» anlagen, Flußregulierungen, Deichbauten, Umwandlung von Odlandflächen in Acker oder Wiefen, Feldgras= und Vichwcidcanlagen, Förderung des Obft=, Gemüfe= und Korbweidenbaus, Brückenbauten, Wege und Wafferverforgungs= anlagen, Auffor(tungen, Verbefferung von Stalleinrichtungen und Dungl^ätten, Befchaffung von Futtermitteln, Streumaterial, Saatfrucht, Förderung der Zucht der einzelnen Tiergattungen ufw. Aus diefer Aufzählung geht zugleich hervor, wie mannigfaltig die Aufgaben fmd, deren Löfung der modernen Landwirtfchaft obliegt und deren Vieifachheit für den Kleinbauern ohne die (tetige Anleitung durch die Wanderlehrer und finanzielle Unter(tützung des Staates und der Kommunalverbändc zu bewältigen nicht möglich ift. Das Eintreten der Provin» zialvcrwaltung für die Landwirtfchaft i(t aber damit noch nicht erfchöpft. Abge« fchcn von den bereits erwähnten, nunmehr immer gewaltiger fteigenden Zu« fchüffcn für die landwirtfchaftlichen Winterfchulcn hat die Provinz fclbft drei Unterrichtsinftitute befonderer Art, nämlich Weinbaufchulen zu Trier, Kreuz« Oflch und Ahrweiler, mit bedeutenden Mitteln im Laufe der nächftcn Jahrzehnte (1897, '900 und 1902) gegründet. Vor allem aber hat fic in der großen Aktion zur Hebung des Not(^andes in der Eifel von vornherein in dem gleichen Um» fange wie der Staat ihre mildtätige Hand aufgetan. VI. Notstand in der Eifel und Eifelfonds 275 Die Eifcl war das Sdimerzcnskind der rhcinifdien Verwaltung. Die Wald« verwüftung in der napolconifchen und den erften Zeiten der preußifchen Herr« fchaft hatte die an und für fidi recht ungünftigen klimatifchen Verhältniffe nodi mehr verfchlcchtert; der Eifenbahnbau vermied im Anfang die Gebirge und entzog damit der Eifel einen Teil des früher nidit unbeträchtlichen Durchgangs« Verkehrs von Nord nach Süd. Zwar waren die Wege — audi fchon aus napoleo« nifcher Zeit — im allgemeinen gut, aber nicht genügend, um den Eifeler Land« Wirten den Anfchluß an den großen Abfatzmarkt im Indu(trierevier möglich zu machen. Diefe Zuftände wurden unerträglich, wenn, wie nicht feiten. Miß« ernten eintraten, denen die an und für fich fchwerfällige Bevölkerung hilflos gegenüberftand. Solche Mißernten wiederholten fich in den fiebziger Jahren mehrfach; im Jahre 1882 wurde der Notjtand zur Kataftrophe. Aus einer ganzen Reihe von Eifelkreifen meldeten die Verwaltungsbehörden, daß Mitte No« vcmbcr fchon die Hälfte der Bevölkerung ohne Subfi(tenzmittel und ohne Saat« gut für das kommende Jahr fei. Es wurden nunmehr von der Staats= und Provin« zialverwaltung große Mittel bereitge(tcllt, die einmal der Behebung des äugen« blicklichen Notftandes gewidmet wurden, dann aber dazu dienen follten, das Übel an der Wurzel zu packen und die Vorbedingungen und Urfachen jener fich immer wieder erneuernden Not(tände zu beheben. Das Verdienjt, zu diefer nunmehr mit Nachdruck und beträditlichen Aufwendungen einfetzenden Aktion gedrängt zu haben, gebührt neben derProvinzialverwaltung dem Oberpräfidenten v.Naffe ^1890—1905), der in feiner ganzen Amtstätigkeit in der Rheinprovinz un« ermüdlicn gerade für die Eifel fich eingefetzt hat. Seit dem Jahre 1884/85 ftand im Extraordinarium des preußifchcn Etats eine Summe von 200 000 Mark, zu der die Provinz alljährlich weitere 100000 Mark zufteuerte; aus diefem foge« nannten Eifelfonds, der bis 1900 beftand, find den verarmten Eifelkreifen rund 5Y2 Millionen Mark zugefloffen. Diefe beträchtlichen Summen wurden plan« mäßig zur Hebung der Landeskultur aufgewendet. Durdi umfangreidie Ent« wäfferungen und Bewäfferungen wurde verfumpfter oder ertraglofer Boden fruchtbar gemadit, das in großem Umfang vorhandene Ödland wurde teils der Acker= oder Wiefenkultur zugeführt und teils aufgefor|tet. Viehzucht und land« wirtfchaftliche Technik wurden gefördert, neue Kulturen eingeführt. Es find im ganzen nach der Angabe des früheren Generalkommiffionspräfidenten Brummer in der Eifel rund 500 öffentliche Waffergenoffenfdiaften mit einem genoffen« fchaftlichen Areal von 35 000 ha gebildet worden. Das Ödland i|t im Umfange von 8000— 10 000 ha nunmehr Grasland geworden, der Waldbeftand wurde durch Aufforjtungen um mehr als 10% vermehrt. Der Rindviehbeftand i(t feit Anfang der achtziger Jahre um fa(t 50 ^/q gewachfen, unter gleidizeitiger Ver« mehrung des Lebendgewichtes um zwei bis drei Zentner. Die Technik der Wirtfchaft in ihrer Hebung im einzelnen zu verfolgen, i(t hier nidit möglich; berufene Beurteiler erklären, daß wer die Eifel zu Anfang der fechziger Jahre gekannt hat und fie jetzt mit offenem Auge wiederfieht, fie kaum wiedererkenne, fo fehr habe überall der wirtfchaftliche Fortfehritt ihr Antlitz verändert. Hier liegt einer der fchönften Ruhmestitel der preußifchen Verwaltung. Der Eifelfonds hat fich derart bewährt, daß die Regierung feit 1897/98 auch für andere Landesteile, wobei in der Rheinprovinz Hochwald, Hunsrück, VJC^efterwald, Bönninghardt und Bergifches Land in Betracht kamen, Fonds für die gleichen Zwecke einftellte. Mit dem „ We|tfonds" ift der Eifelfonds 1 900 verbunden worden ; die Verwendung des Weltfonds erfolgt nach den für den Eifelfonds bereits mitgeteilten Grundfätzen. 18* 276 VI, W. Wygodzinski, Die rheinische Landwirtschaft a Zu dicfcm Ergebnis trugen freilid» noch eine Reihe weiterer Umßiände und Maßnahmen bei. Die Durchführung der neuen Kultur wäre vor allem nidit ohne die unermüdlidic Aufklärungsarbeit derWinterfchuldirektoren und Wander- lehrer möglidi gewefen, deren Zahl immer weiter vermehrt wurde; in gleichem Sinne belehrend und antreibend wirkte die landwirtfchaftliche Vereinstätigkeit. Die allmählidie Erfchließung der Eifel durch Eifenbahnen hob die Abfatz» gelegenheit; die Entwicklung der MolkereigenolTenfdiaften gejtattete die zweck= mäßige Verwertung eines Hauptproduktes der Viehzucht, auf welche die Eifel nadi ihren klimatifdien Verhältniflen immer in erfter Linie angewiefcn ijt. Vor allem aber traten eine Reihe gefctzgeberifcher und Verwaltungsmaßnahmen hinzu, welche die wirtfchaftlidien Vorbedingungen der technifch=landwirtfchaft= lidien Arbeit völlig neu regelten. Es i(t bereits von der Kreditnot der rheinifchen Landwirtfdiaft die Rede gewefen. Für den Perfonalkredit forgten mehr und mehr die fich immer weiter ausbreitenden KreditgenofTenfchaftcn ; Hypothekarkredit war bis in den Anfang der achtziger Jahre den rheinifchen Landwirten fo gut wie unzugänglich. Die Hilfe kam von dem Kreditinftitut der Provinz. 1881 wurde die Rheinifche Provinzialhilfskaffe als felbftändiges Provinzialin(titut mit juriß:ifcher Perfön« lichkcit mit der Provinzialftändifchen Hauptkaffe vereinigt, nachdem ihr 1880 zum erften Mal die Emiffion von Rheinprovinzanleihefcheinen zum Zweck der BefdiafFung von Betriebsmitteln geftattet worden war; feitdem erft ijt fie als ein bankmäßig organifiertesBodenkreditinftitut zu bctraditen. Zugleich wurde endlich ihr Gefchäftskrcis allgemein auf den landwirtfchaftlidien Kredit ausgedehnt, und zwar wurden 1882 Darlehen an ländliche Grundbefitzer zur Erhaltung des ererbten Befitzes in der Familie und 1885 folche zur Verbefferung und Hebung der wirtfchaftlichcn Lage der Grundbefitzer im allgemeinen zugelaffen. Die jetzt in Düffeldorf ftationicrte „Landesbank der Rheinprovinz", wie fie feit 1888 heißt, ift das wichtigfte Hypothekarkreditinftitut der rheinifchen Landwirtfchaft geworden. Wenn fie auch deren Intereffe nicht fo ausfchließlich dienen kann wie die ,,landfchaftlichen" Kreditinftitute in anderen Provinzen und zudem keine Darlehen unter 1 500 Mark gibt, fo gewährt fie doch ihren Kredit unkündbar und amortifabel, was die zweite Kreditquelle der rheinifchen Landwirtfchaft, die kommunalen Sparkaffen, nicht vermögen. Doch konnte die Landesbank eine umfangreichere Kredittätigkeit auf dem Lande erft nach Verbefferung der bereits gefchilderten vorfündflutlichen Hypo= thckarrechtsverhältniffc entfalten. In diefem Jahrzehnt der Reformen vollzog fich nun endlich auch deren Neuregelung. Zu der Einführung der preußifchcn Grundbuchgefetzgebung konnte man fich allerdings noch nicht fofort cntfchließen ; doch wurde endlich durch Gefetz vom 20. Mai 1885, das bereits am 1. Juli des gleichen Jahres in Kraft trat, der Übergang des Grundeigentums an gerichtliche und notarielle Beurkundung gebunden und die Aufhebung der (tillfchwcigcndcn und Gcncralhypotheken in die Wege geleitet. Wenige Jahre darauf, am 12. April 1888, wurde endlich das preußifche Grundbudigefetz eingeführt und damit die endgültige Grundlage für einen billigen und geordneten Realkredit gefchaffen. Das wichtige Jahr 1885 brachte endlich mit dem Zufammcnlcgungsgefetz vom 24, Mai für das Gebiet des rheinifchen Rechts den Fortfehritt, um den die cinflchtigen Kreifc bereits ein halbes Jahrhundert gekämpft hatten. Der Eifel« notrtancT hatte gerade in dicfcr Beziehung wieder eindringliche Lehren gegeben; «s Hatte [Ich gezeigt, daß die ungeheure BeOtzzerfplitterung dort eines der Q VI. Landesbank — Zusammenlegung 277 fchlimmften Hindcrniffc jedes wirtfdiaftlichen Auffchwungs war. Wie follte ein Bauer, delTen Durchfchnittsbefitz von lo— u ha in hundert und mehr Parzellen oft (tundenweit auseinanderlag, zumal bei den fchlcchten Wegeverhältniflen die Zeit zu mehr als einer kümmerlichen Bejtellung der Felder finden? Wie follten fo größere Kulturmaßnahmen wie Ent= und Bcwä{Terungen einigermaßen rationell durchgeführt werden? Wie follte ein tüchtigerer und ver(tändigerer Mann, der als Vorbild für die anderen hätte dienen können, zur Geltung kommen, wenn ihm der tatfächliche Flurzwang jede vom Schlendrian der Nach» barn abweichende Wirtfchaftsweife unmöglich machte? Trotz der unbezweifcU baren und auf der Hand liegenden Vorteile des in den anderen Landcsteilcn fchon feit mehr als einem halben Jahrhundert bewährten Verfahrens regte fich in der rheinifchen Bevölkerung ein außerordentlich heftiger Widerftand. Zwar fprach fich der Landwirtfchaftliche Verein für den im Jahre 1884 von der Re= gierung vorgelegten Entwurf, feiner traditionellen Stellung gemäß, entfchieden aus; aber diefe Haltung ko(tete ihn einen guten Teil der bisherigen Sympathien und führte dem neubegründeten Rheinifchen Bauernverein eine große Anzahl von Mitgliedern zu. Die Agitation gegen den Entwurf überfchritt jedes Maß; die überhitzte Phantafie der Kleinbauern hielt fich an das unfinnige Gerücht, daß bei der Zufammenlegung die kleinften Befitzer ganz ausfallen follten. Es i(t nicht zu bezweifeln, daß diefe Agitation zum großen Teil einfach auf Un= kenntnis der gefetzgeberifd^en Abfichten beruhte; doch i(t der Eigentumsfinn und das Freiheitsgefühl des rheinifchen Bauern, wenn audi in bedauerlich falfcher Orientierung, ein nicht minder (tarkes Hemmnis jedes Staatseingriffes in die be(tehendcn Bcfitzvcrhältnine. Als das Gefetz trotz diefes Widcrftandes angenommen war, hatte die neubegründete rheinifdie Generalkommiffion in Düffeldorf gegen diefe pfychologifchen Hemmniffe, die fich bisweilen in draftifche Handgreiflichkeiten umfetzten, aufs fdiwerjte zu kämpfen; Klara Viebig hat in einem ihrer Romane einen foldien „Zufammenlegungskrieg" in der Eifcl anfchaulich gefchildert. Auch heut noch i|t eine neue Zufammenlegung keines= wegs leicht durchzuführen. Es hat fich gezeigt, daß der Bauer am leiditcften zu gewinnen ijt, wenn ihm die Vorteile des Verfahrens ad oculos demonß:ricrt werden; wenn man fich die Karte der Zufammcnlegungcn anfieht, kann man deutlich beobachten, wie von einzelnen Punkten aus die Zufammcnlegungen allmählich vorfch reiten. Das Verfahren wurde felbftverftändlich nicht nur durch den Einfluß der allgemeinen Landesverwaltung und insbefondere die Bemühungen zahlreicher Landräte und Bürgermeiftcr, fondern auch durch Geldmittel, und zwar fowohl für die Ko(ten der Zufammenlegung felb(t wie für die Folgeeinrichtungen (Meliorationen ufw.) untcrftützt; der Eifelfonds hat zum großen Teil diefem Zwecke gedient. Der Zwedi der Zufammenlegung (Erfetzung der großen Zahl kleiner Parzellen eines Betriebes durch eine kleine Zahl großer und zweckmäßig geformter Parzellen, Zugänglichmachung aller Parzellen vom Wege aus) ift überall erreicht worden; fämtliche zufammengelcgten Gemeinden haben einen fofortigen wirtfdiaftlichen Auffchwung genommen, wie er fich auch in erhöhten Grundjtückspreifen ausdrückt. Leider beginnt in manchen zufammcngelegten Gemeinden die leidige Teilung der Grundftücke von neuem. Bis 1910 find in der Rheinprovinz rund 600 dörfliche Feldmarken mit etwa 170 000 ha zufammen« gelegt; davon entfallen auf die Eifel genau 100 Gemeinden mit im ganzen etwa 150 000 Morgen. 278 VI. W. Wygodzinski, Die rheinische Landwirtschaft a Siebentes Köpitel. Selbfthilfe der Lcindwirte (Bauernvereine, Genoffenlchaften). Wie eben erwähnt, hatte der Kampf um das Zufammcnlegungsgefetz eine Stärkung des Rheinifdicn Bauernvereins zur Folge, Diefer Verein wurde am 8. November 1882 zu Kempen unter dem Vorfitz des Freiherrn Felix von Loe gegründet. Während der Landwirtfchaftlidic Verein für Rheinpreußen politifdi gänzhdi farblos war und Anhänger aller politifchen Parteien vereinigt, lehnte fleh der Rheinifdie Bauernverein wie fein Vorbild, der große, ungemein fegens= reid» wirkende Weftfälifche Bauernverein und deffcn weitere Nachbildungen in anderen Provinzen, an das Zentrum an. Er wollte „auf chri(tlich=fozialer Grund» läge den Zufammenfchluß des landwirtfdiaftlichen Berufsftandes zur Wahrung der gemeinfamen Intereffen" herbeiführen und ergriff zu diefem Zwecke auch in den politifchen Tageskämpfen lebhaft Partei. Doch befch rankte er fleh nicht auf die politifdic Organifation, fondern fuchte auch den rein wirtfchaftlichen Intereffen feiner Mitglieder gerecht zu werden. Schon zeitig (1883) fchuf er eine eigene Verfuchsftation in Kempen, förderte das Genoffenfchaftswefen durch Erriditung eines befondercn Verbandes, errichtete fpäter eine Rechtsfchutz« abteilung, eine Bauftelle, eine Bank, einen Viehverficherungs= und einen Haft» pfliditverfldierungsverband und zahlreidie andere Einrichtungen zur direkten Förderung des landwirtfchaftlidien Gewerbes. Seine Haupttätigkeit liegt jedoch auf dem Gebiete der politifchen Intereffen Vertretung, wobei er in der Rhein= provinz die gleidie Rolle fpielte wie im Ojten der Bund der Landwirte, der infolgedeffen er|t in den letzten Jahren und nur in bcfchränktem Umfange in der Rheinprovinz Anhängerfchaft gefunden hat. Es kam dabei gelegentlidi zu Zufammenftößen, die zum Teil recht heftig waren, mit dem Landwirtfchaftlichen Verein und fpäter auch mit der Landwirtfchaftskammer. Wenn vielleicht dadurdi bisweilen Kräfte verbraucht wurden, die zweckmäßiger der pofitiven Arbeit zugewendet worden wären, fo hat die „Konkurrenz" doch hier wie überall ihr Gutes gehabt, indem die Förderung der landwirtfchaftlichen Intereffen der Rheinprovinz aus der durch den Wettkampf verftärkten Hingabe aller Teile den größten Nutzen zog. Der er|te kraftvolle und von den rheinifchen Bauern hochverehrte Vor- fitzende des Vereins (tarb 1896, fein Nachfolger, Graf Friedrich von Loe, fchon 1899. Das Präfidium übernahm Graf Anton von Spce, der es im März 1903 niederlegte. Seitdem leitet Clemens Freiherr von Loe die Gefchäfte des Vereins. Der Rheinifche Bauernverein i[t nicht der einzige geblieben. Außer dem kleinen, von dem evangelifchen Pfarrer Ortel geleiteten Hunsrücker Bauernverein entfaltete im Süden der Provinz der Trierifche Bauernverein eine größere Wirkfamkcit. Er wurde 1884 in Trier durch Kaplan Dasbach gegründet, der fich fclbft zunächft mit dem Poften eines Schriftführers begnügte, während den Vorfitz Gutsbcfitzer Limbourg übernahm. Erft nach deffen Tode übernahm Dasbach auch formell die Leitung, die er bis zu feinem Tode 1907 beibehielt. Sein Nachfolger war der jedoch bald verftorbene Gutsbefitzer Commes, während jetzt der Abgeordnete Wallenborn an der Spitze des Vereins fteht. Der Trie- rifche Bauernverein l(^ in feinem ganzen Wirken dem Rheinifchen ähnlich, mit dem er auch mehrfach zufammengearbeitet hat. Doch legte er fein Haupt- augenmerk auf die praktifdie Tätigkeit. In der Bekämpfung des Wuchers durch D Vn. Bauernvereine — Genossenschaften 279 Rcditsfchutz und Prozeßübernahme fowie durch pofitive Hilfe in Genodcna fchaftcn und Verficherungen hat er hervorragendes geleijtet; die von ihm gegründeten Tochteran(talten, namentlidi ein Viehverficherungsvcrband, ein Genoffenfchaftsverband und der „Trierifche Winzerverein", eine Großhandels= gefellfchaft zum Abfatz der Weine der Winzer, haben viel Segen geftiftet. Im übrigen war auch er, namentlich unter Dasbachs Leitung, recht (treitbar. Die achtziger Jahre fahen die Entftehung noch weiterer Selb(thilfeorgani= fationen der rheinifchen Landwirtfchaft. Es i(t gefchildert worden, wie die Raiffeifenbewegung unter dem Schutze des Landwirtfchaftlidien Vereins gedieh und endlich, als die Spar= und DarlehnskafTenvereinc Raiffeifens die Grenzen der Rheinprovinz zu überfchreiten begannen, fich felbftändig machte. Der Neuwieder Generalanwaltfchaftsverband unter Raiffeifens perfönlicher Leitung dehnte fich immer weiter aus, blieb dabei aber immer die eigenfte Schöpfung feines Begründers. Seine (tarke und eigenwillige Perfönlidikeit, der die Förde» rung des Genoffenfchaftswefens befonders viel verdankt, konnte aber in diefer nunmehr ungehinderten Entfaltung bald keinerlei Sdiranken mehr vertragen, insbefondcre wehrte ßch Raiffcifen gegen jede Becinfluffung von außen. Mit feiner Gründung fo verwachfen, daß er ganz für fie lebte, bekam er allmählidi etwas von der Unduldfamkeit des Sektcnbilders. Es waren aber in dem draußen „im Reich" auffteigenden landwirtfchaftlichen Genoffenfchaftswefen zwei Strö= mungen immer ftärker geworden, die fchließlich auch in die Rheinprovinz übcr= fchlugen. Einmal verlangten die anderen Landesteile eine gewiffe Selbftändig» keit; bei aller Dankbarkeit und Verehrung für den rheinifchen Propheten wollte es ihnen nicht einleuditen, daß ihre Gefchicke von Neuwied aus gelenkt werden füllten, wo man ihre befondercn Umftände und Bedürfniffe kaum kannte. Raiffeifcn aber hielt mit Hartnäckigkeit an der (trenglten Zentralifierung feft und duldete nidit die leifefte Abweidiung von feinen Prinzipien. Zu diefen gehörte die alleinige Anwendung einer einzigen Genoffenfchaftsform, der Spar« und Darlehnskaffe. Alle anderen genoffenfchaftlichen Zwecke wollte er entweder überhaupt nicht als berechtigt anerkennen oder fie, wie z. B. die gemeinfamc Befchaffung von landwirtfchaftlichen Bedarfsartikeln, einfach den Darlehns« kaffenvcreinen mit übertragen. Die Revolution bradi in den ficbziger Jahren in Heffen unter Führung des um die fpätere Entwid fdion ausgebildet hatte. Vor allem folche Werke, die nicht aus altbeftehenden Betrieben heraus entwickelt, fondern gleich mit dem großen Arbeitsprogramm der damaligen Gegenwart neu errichtet werden, wählen faft ausnahmslos die neue Unternehmungsform. Sic gehen auch fogleich mit ihrem Anteil an die Börfen — Köln, Frankfurt a. M. und Berlin — , die dadurch eine ftarke Be= lebung ihres Verkehrs erfahren und fich über die Bedeutung von Wechfel= markten und von Vermittlern (taatllchcr Kreditbedürfnif^e zu allgemeinen Kapitalbefdiaffern erheben. Altbeftchende Unternehmungen dagegen, wie etwa die Gutehoffnungshütte und Krupp, fcheuen fleh noch, fremden Kapitals eignem einen Einfluß auf ihr Werk einzuräumen, und nehmen lieber die ganzen Umftändlichkeiten und häufigen Störungen auf fich, die mit den alten Formen des privaten Kredits bei den viel größer gewordenen Kreditbedürfniffen nun» mehr notwendig verbunden find. Was hat nicht ein Alfred Krupp z. B. immer wieder Mühe gehabt, von feinen Bekannten oder auch von Banken im Kredit= wege die Kapitalien zu erhalten, die -er zur Durchführung feiner Verfuche und feiner Erweiterungen nötig hatte! Der Kredit wurde ja, wie es feinem Wefen entfpricht, nur auf beftimmte kurze Zeit und gegen bcftimmte Sicher« heiten (vor allem Bürgfchaften anderer Familienangehöriger) gegeben, und doch mußten die Kapitalien dauernd dem ganzen Rifiko des Gcfamtunter* nehmens eingefügt werden. Die Familientradition aber und das Bedürfnis nad^ uneingefchränkter Selbftändigkeit waren doch in diefcn alten Unternehmer« krcifen ftärker, als die rein fachlichen Rückfichten der leichteren Kapitalbe« fchaffung. Die Aktiengefellfchaft kann geradezu als die Form bezeichnet werden, in der fich kapitalarme und fogar völlig kapitallofe Kenner der Technik die erforderlichen Mittel verfchaffen, neue Unternehmungen zu ihrer Leitung aufzubauen. Das Organifieren des Werks und feine Führung, alfo die ganze Gcftaltung des technifchen und wirtfchaftlichen Rifikos, ift dann die Volkswirt« fchaftlichc Funktion diefer Dircktoren=Elemente, denen man füglich von der Aktivität ihrer Tätigkeit her die Bezeichnung des Unternehmers beizulegen hat; ihnen treten die Aktionäre gegenüber, die eine eingehende Kenntnis vom Werk nicht befitzen und deshalb auf feinen Gang keinen Einfluß ausüben können, die nur das von jenen geftaltete Rifiko zu tragen haben und nur mit Kapital rechtlich, nidit mit Arbeitsleiftung tatfächlich beteiligt find man wird [Ic Kapltallften nennen dürfen. In der Aktiengefellfchaft treten alfo Unter- nehmer und Kapitaliften mit getrennten Funktionen deutlich auseinander. Zweites Kapitel (1840—1870): Das Gesamtbild der Organisation 343 Die Form der Aktiengefcllfchaft i(t für die rhcinifche Montaninduftric nodi befonders widitig und tragfähig dadurdi geworden, daß durdi diefen Kanal in großem Umfang ausländifche Kapitalien in fic hineingeflofTen fmd. Eine ganze Menge von Bergwerken und Hütten find in den fünfziger und fedizigcr Jahren mit belgifchem, hoUändifdiem, franzöfifdiem und englifchem Geldc erriditet worden; Zediennamcn wie Hibernia, Shamrod<, Erin halten noch heute die Erinnerung an jenen Kapitalurfprung fe(t, während allerdings die fremdländifchen Firmcnbezcid»nungen, wie etwa Socictc anonyme des Char= bonnages du Rhin oder Rheinifche Gefellfdiaft für Bergbau und Hüttenbetrieb Ch. Detilleux u. Co. oder Socictc des Forges de Sarrebruck und andere mehr völlig vcrfchwundcn find. Dicfe Kapitalhilfe war damals um fo wertvoller, als Deutfdiland noch ganz überwiegend agrarifches Gepräge trug und deshalb nur mit geringer und langfamer Kapitalbildung rechnen konnte. Er|t durch die Ausbildung der Schwerinduftric bekam der Kapitalprozeß auch in Deutfdi» land ein lebhafteres Tempo. Dazu den Anftoß zu geben, waren die fremden Mittel unentbehrlich. Auch am Rhein waren damals noch läng(t nicht genügend Kapitalkräfte vorhanden, um fo viel frifche Kapitalien immer wieder zu bilden, wie fic für den rafchen Ausbau der neuen Werke erforderlidi waren. Dagegen ift die Zahl der leitenden Pcrfonen, der Unternehmer alfo, die das Ausland ge(tcllt hat, auffallend niedrig, Cockerill, der zum Belgier gc^ wordene Engländer, und vor allem Mulvany, der ganz zum Deutfchen ge^ wordene Irländer, find da in erfter Linie zu nennen; einige andere, die nicht fo hervorgetreten find, kommen ficher audi noch in Frage. Aber man muß fleh hüten, alle Träger franzöfifcher Namen etwa hier heranzuziehen; denn bei weitem die meiften Familien diefer Art, die übrigens mehr noch aus Belgien und aus Luxemburg als aus Frankreich (tammen, find fchon im 18. Jahrhundert oder allenfalls in der Revolutionszeit nach Deutfchland gekommen und waren längft in deutfchem VC^efen aufgegangen, ehe fie in der neuen Montaninduß:ric fleh betätigt haben — fo Piedboeuf, Charlier, Guillcaume und andere mehr. Es fcheint, daß für die Unternehmerrolle doch die perfönlichc Kenntnis der lokalen Verhältniffe, vor allem auch die Kunft, den Arbeiter richtig zu behandeln, eine allzugroße Bedeutung hat, als daß der Fremde fich da leicht genug zurecht» findet; zumal in Betrieben, welche fo große Arbeitermengen erfordern, wie die der Montaninduftric. Jedenfalls haben hier die ausländifchen Unternehmer nicht in annähernd fo hohem Grade als Stützen diefer crftcn Entwidtlung zu gelten, wie das vom ausländifchen Kapital und auch von den ausländifchen Werkmeiftern gefagt werden muß. Die perfönlichc Initiative zum Aufbau der neuen Verhältniffc liegt cbenfo überwiegend bei deutfchen Unternehmer«: Perfönlichkeiten, wie dicfe es find, die dann das Ganze gcftaltet haben. Die Namen eines Matthias Stinnes, Hugo Haniel, Alfred Funke und Friedrich Grillo in der Kohlen» und Hüttcninduftric, eines Wilhelm Lucg und Alfred Krupp in der feineren Eifenindu(trie find am Niederrhein und an der Ruhr von cbenfo hohem Klange, wie es die Namen der Böcking, Rödiling, Stumm von jeher an der Saar gewefen fmd; und auch der Aachener Bezirk mit feinen Beißel, Guaita, Paftor, Talbot — das Bergifche Land mit den Bökcr, Hcnckels, Mannesmann ftcllen eine Fülle kräftigftcr Unternehmertypen, die alsbald das Neue der Technik und der Abfatzmöglichkeit erfaßt und zur wirtfdiaft« liehen Tat gemacht haben. Von der Rolle, welche das Bankentum der Stadt Köln — allerdings ausnahmslos von Nicht«Kölncrn getragen, allen voran ein 344 VII. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe a Guftav Meviffcn — im Neuaufbau des gefamtcn Wirtfchaftslcbcns der Rhein» lande gcfpicit hat, ift an anderer Stelle (vgl, unten S. 530) die Rede. Ganz allgemein darf gefagt werden : So kräftig die Kapitalhilfe des Aus» lands in jenen Jahrzehnten für die Neugeftaltung der rhcinifchen Montan» induftrie in Anfpruch genommen worden ift, eine ausgeprägt deutfche In» duftrie ift fie auch damals gewefen dank den ftarken Perfönlichkeiten, die ihr trotz allen fremden Kapitals den Stempel aufgedrückt haben. Das Untcr= nehmertum hat fich dem Kapitaliftentum überlegen gezeigt. Drittes Kapitel. Die volle Durchfetzung der neuen Zeit (1870— 1915). 1. Die allgemeinen Neuerungen. — 2. Neue Techniken. 3. Die Standorte und Handels» Beziehungen. — 4. Die Untcrnehmungsorganifation. — 5. Kapital und Unternehmertum. 1 . In den allgemeinen Grundlagen der Montaninduftrie find Neuerungen von glcidi grundfätzlidier, das Bisherige umftürzendcr Art, wie fie im Menfdien= alter von 1840 bis 1870 die Entwicklung getragen haben, in den letzten Jahr= zehnten nicht mehr eingetreten. Es find faft nur die Fortfetzungen der fchon vorher durchgebrochenen Erfcheinungen, die fleh jetzt geltend machen. Immerhin bedeutet es für die Montaninduftrie auch des Rhcinlandes eine recht wefentliche Ausweitung ihrer Abfatzmöglichkeiten, wenn niditnurinDeutfchland das Eifenbahnnetz von 19 600 auf rund 75000 km zwifchen 1870 und 1915 anwächft, fondern auch die fremden Erdteile in immer ftärkerem Maf)c den neuen Maffentransportmitteln fich zuwenden und demgemäf) das Gcfamteifenbahnnetz der Erde von 210 000 auf 1,1 Millionen km fich erhebt. Da* mit geht Hand in Hand eine folche Zunahme der Dampferverbindungen, daß in der Gegenwart ein Bcftand von rund 30 Millionen Reg.=Tonnen Dampfern, gegen= über 2,4 Millionen Reg.=Tonnen im Jahre 1870, erreicht worden ift und daß die regelmäßigen, fahrplanmäßig verkehrenden Linien, die im Jahre 1870 noch eine feltene Ausnahme bildeten, heute als die eigentlich tragende Stütze des ganzen Seeverkehrs anzufprechen find; auf Deutfchland allein entfällt ein Dampferbefitz von rund 3 Millionen Rcg.=Tonnen, gegen rund 70 000 Reg.= Tonnen im Jahre 1870. Hiermit auch nur auf dem befchränkten Felde der unregelmäßigen Rohftofftransporte den Wettbewerb aufrecht halten zu können, hat fich auch die Scgelfchiffahrt zur Ein(tcllung von großen Stahlfchiffen ge= zwungen gefchen; und ein beträchtlicher Teil der heutigen Seglerflotte, die allerdings feit 1 870 im ganzen von 1 5,3 auf rund 4 Millionen Reg.=Tonnen zurück« gegangen ift, bildet jetzt ebenfalls ein Abfatzgebict für die Eifcninduftrie, deren rheinifcher Teil davon um fo mehr Vorteil ziehen konnte, als die Schiffs» werften fleh — dem Verkehr entfprechend — in Deutfchland mehr und mehr von der Oftfee nach der Nordfee hinübergezogen haben. In ganz dcrfelben Weife hat die Verwendung von Eifcn in ziemlich allen Wirtfdiaftszwcigen immer weiter um fich gegriffen. In der Produktion gefchah das um fo mehr, als die Ausbildung der clektrifchen Kraftmafchinen und der Exploflonsmotoren die Verwendung mechanifcher Kraft felbft folchen D Drittes Kapitel (1870—1915): Absatzgeslaltung, Handelspolitiit 345 r Betrieben ermöglicht hat, die wegen der Geringfügigkeit oder Unregelmäßigs keit ihres Bedarfes an die Einftcllung von Dampfmafchinen nie hätten denken können; und an diefe neuartigen Kraftquellen laffen fidi auch in den Klein= betrieben Werkzeugmafchinen anfchließen, deren mafdiinelle Beanfpruchung ebenfalls Eifen als Bauftoff erfordert. Die elektrifchen Mafchinen find dabei, weil in Deutfchland die Benutzung von Wafferkräften nur verhältnismäßig wenig in Betracht kommt, zugleich große Kohleverbraucher geworden. Und was wird heute nicht alles von Eifen im Bereich der Konfumartikel hergeftellt, was früher aus Holz gefertigt wurde? Der eiferne Träger verdrängt den hölzer= nen Balken immer mehr, genau wie die Eifenkette an die Stelle des Hanffeilcs tritt. Holz und Holzkohle als Feuerungsmaterial kommen in Deutfchland fo gut wie gar nicht mehr vor. Bis in den privaten Haushalt hinein dringt das eiferne Gerät in immer (tärkcrem Maße vor. In Deutfchland werden daher auch nicht mehr nur 40 kg Eifen wie im Jahre 1870, fondern jetzt 250 kg auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht. Um fo bedeutfamer war es für die deutfche ]Vlontanindu(trie, daß ihr nach einer kurzen Epoche der Zollfreiheit im Jahre 1879 wieder ein Sdiutzzoll gewährt worden ift. Befonders die rheinifchen Teile haben davon wefcntlichcn Nutzen gehabt; ihr Abfatzgebiet liegt dank dem Rhein ziemlich offen und leicht erreichbar vor der englifchen Konkurrenz» Induftrie, die aus der Infelgeftalt ihres Gebiets in den Transportkojten der einzuführenden Erze einen beträcht» liehen und durdi andere Produktionselcmcnte nicht ausgeglichenen Vorfprung bcfitzt, und andererfeits find die rheinifchen, zumal die Saarbetriebe durch die Nähe der politifchen Grenzen in ihrer Abfatzausdehnung räumlich fehr eingeengt. Daß trotzdem der Schutzzoll nicht fchon bei den Kohlen und Erzen cinfetzt, hat bekanntlich feine Urfache in dem allgemein feftgehaltenen Grund» fatz, die indu(triellen Roh(toffe auf alle Fälle zollfrei zu laffen; das i[t auch im Sonderfall der rheinifchen Induftric um fo richtiger, als diefe zu beträchtlichem Teile ihre Erze aus dem Ausland heranführen muß, ihre Kohle aber in beträcht= liehen Mengen nach außen abführt. Beim Roheifen — und ebenfo bei den entfprechendcn Stufen der Metallinduftrie — beginnt dann der Schutzzoll und findet hier feine eigentliche Grundlage, wo es fich um den Ausgleich natür= lidier, von Menfchen nicht zu ändernder Produktionsbedingungen gegenüber dem Ausland handelt. In den höheren Stufen der Fabrikation i(t dann der Zoll nur die unabweisliche Konfequenz=Erfciieinung; es gilt zu verhindern, daß das Ausland, dem der inländifche Wettbewerb in Roheifen, Rohzink, Rohblci crfchwert ift, nun etwa mit den Fabrikaten höherer Ordnung ihn aufnimmt. Am Syjtem der Eifen= und Metallzölle i(t denn auch durch die Handelsverträge der Jahre 1892/94 und 1905/06 nicht gerüttelt worden. Wohl aber bedeuten diefe Handelsverträge eine wichtige Feftlegung der im Ausland geltenden Zölle. Seit der Mitte der fiebziger Jahre, als allenthalben in der Welt die Schutzzollbewcgung wieder cinfetzte, hat fich die deutfche und mit ihr die rheinifche, befonders [tark auf den Export eingcjtellte Montan» induftrie unabläffig von der Gefahr bedroht gefehen, daß die Importgebiete ihre Abwehrzölle ganz beliebig veränderten. Infolgedeffen war es fchwcr, die Ausfuhr auf eine auch nur einigermaßen fiebere Kalkulation der Zollfpcfen einzurichten, und man wußte nie recht, wie lange tatfächlich der Export in diefcs oder jenes Land noch möglich fein würde. Darunter litt die Eifcninduftrie befonders fchwer, weil es fich bei ihrer Ausfuhr einerfeits um Waren handelt, 346 Vn. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe a die nodi nidit wertvoll genug find, den Zoll als Ncbenfädilidikcit empfinden zu lajlcn, und als andererfeits ihre Artikel fo (tark in den internationalen Wctt» bewerb allenthalben hineingeftellt find, daß ein regelmäßiger Abfatz fich nidit ohne eine fe[te Handelsorganifation bewerkjtelligen läßt; deren Aufbau er« fordert aber ftets beträditliche Kapitalien, die fidi nidit leidit verfchieben laffen, und madit deshalb langfriftige überfiditlichkeit der Abfatzgelegenhciten in hohem Grade wünfdicnswcrt. Diefem Bedürfnis kamen die Handelsverträge entgegen: jeweils auf 12 Jahre konnte fidi der Export einriditen, ohne Ande= rungen der fremden Zollfätzc befürchten zu muffen. Die Langfrijtigkeit der Vertragsdauer war ungleidi widitiger, als die Höhe der Zölle, die man vom Ausland hinzunehmen hatte. Deshalb find auch die letzten Bülowfchen Ver= träge trotz der Erhöhung, welche einige Zölle des Auslandes erfahren haben, mit Recht als Fortfetzungen der Caprivifchen Verträge bezeichnet worden. Seit dem jähre 1892 hat unfere induftrielle Ausfuhr und fo auch die der rhei= nifdien Montaninduftrie wieder mit feftcn Zollverhältniflcn rechnen dürfen. War das auch nicht gleidibedeutend mit dem freien Handelsfyftem der fediziger und erftcn ficbziger Jahre, fo wurde doch die Einfchränkung der Zollfreiheit in ein Maß gebannt, mit dem die Ausfuhr fich abfinden konnte, während es andererfeits im Inland beim Schutz des nationalen Marktes verblieb. In ähnlicher Weife hat fich die Induftrie in gewiffen Einfchränkungcn der Gewerbefreiheit wieder zurecht finden muffen. So ift bekanntlid» die Verwendung von Frauen« und Kinderarbeit, die allerdings am Rhein tatfädilidi in der Montaninduftrie fchon längft nicht mehr üblich war, gcfetzlich zur Unmöglichkeit geworden. Auch die Arbeitszeiten der Männer find über und mehr noch unter Tage an be(timmte Grenzen gebunden. Vor allem i(t ein fcharfcr Eingriff in die Freiheit des Lohnvertrages vorgenommen, indem beträchtliche Verficherungspflichten zwangsrechtlich auf die Arbeitgeber gelegt worden find; von zahlreichen Einzelheiten nicht zu reden, die für die Aufrcdits erhaltung dauernder Leiftungsfähigkeit der großen, in der Montaninduftrie befchäftigten Arbeitermaffen und für die Sicherung ihrer fozialen Selbftändig« keit erforderlich fchienen. An den Grundlinien der Gewerbefreiheit ift jedoch nicht gerüttelt worden : der Betriebsaufbau und die Produktionstechnik find ebenfo wie die Unternehmungsorganifation und die Regelung der Markt" ftellung nach wie vor dem völlig felbftändigen Entfeheiden der Werkseigen« tümcr übcrlaffen. Diefe Freiheit des Organifiercns hat fogar in der letzten Periode nodi eine befonders tragfähige Unterlage erhalten: die Gründung von Aktiengcfelle fchaften ift durch das Akticngefctz von 1870/71 aus der Konzeffionspflicht herausgehoben, und ferner ift durch Gcfctz von 1892 die Errichtung der Gcfcllfchaft mit befchränkter Haftung ermöglicht worden. Allerdings muffen die Aktiengefellfchaften bekanntlich gcwiffe Mindeftbedingungcn erfüllen, und die Aktiennovellc von 1884 hat diefe noch verfdiärft. Aber von materieller Bedeutung Ift darunter in der Tatfächlichkcit nur die eine Vorfchrift, daß im allgemeinen die Aktien auf mindeftens loooMark Nennwert gcftellt fein muffen; denn dies fchränkt den Kreis der Kapitaliften, die zur Übernahme von Aktien herangezogen werden können, immerhin beträchtlich ein und läßt die Induftric-Unternchmungen nicht fo rückflchtslos zu Spckulationszwcckcn mißbrauchen, wie es in England mit feiner i-£-Aktie vielfach gcfchieht. In derfelben Richtung wirkt - - aller- dings nur fchr unvollkommen das Im Börfcngcfetz von 1896 enthaltene a Drittes Kapitel (1870-1915): Gewerbefreiheit, Kapitalmarkt 347 Verbot, Induftricaktien zum Gcgcnitand des Börfcnterminhandcls zu machen. Im übrigen |^eht heute nichts im Wege, die Form der Aktiengefellfchaft für jedes Unternehmen zu wählen, mag es welchem Zweck immer zu dienen haben und großen oder nur kleinen Kapitalbedarf entwickeln; es kann unmittelbar auf den Befitz der Produktionsmittel ge(l:ellt fein oder auch auf den Befitz von Anteilen anderer Unternehmungen; es kann fich aud» um die Erfüllung von Zwecken handeln, die im Kern genoffenfchaftlichen Charakters find. Vollends kennt die G. m. b. H. tatfächlich keine Grenze der Betätigung; bei ihr fällt fogar die Pflicht öffentlicher Rechnungslegung fort, die bei der Aktiengefellfchaft doch wenigftens auf dem Papier — allerdings auch nur da — rechtlich befteht. Nur eine gefetzliche Einfchränkung i[t von wirklich tief einfchneidender, aber mehr in die Zukunft weifender, als fchon die Gegenwart berührender Bedeutung: die Aufhebung der Bergbaufreiheit für Steinkohle, wie fi^ in der Lex Gamp vom Jahre 1905 vorbereitet und im Berggefetz von 1907 end= gültig ausgefprochen worden i(t. Jetzt hat nur noch der Staat das Recht, die Steinkohle aufzufuchen und zu gewinnen; und wenn er auch nach dem Gefetz die Ausübung des Rechts in der Regel auf Private übertragen foll, fo i(t ihm dodi durch die Befugnis, die Übertragung an fefte Bedingungen zu knüpfen, ein fehr weitgehendes Bejtimmungsrecht vorbehalten worden, wie ihm auch über feinen fdion recht erheblichen Befitz an Steinkohlenfeldern hinaus ein Voraus von 250 Maximalfeldern, das heißt von 550 Quadratkilometern ein» geräumt i(t. Die endgültige Regelung der Übertragung jenes Rechts, die einem befonderen Gcfetz vorbehalten blieb, i|t bisher nicht erfolgt; dagegen hat der Staat am Niederrhein und im Ruhrgebiet in der Tat 523,6 Quadratkilometer, Steinkohlenbefitz fich neu übertragen laffen. Das ift gewiß eine fcharfc Antwort des Preußifchen Staates auf die — mit fehr häßlichen Begleiterfcheinungen verbundene — Vereitelung feiner Abficht, die große Steinkohlengefellfchaft Hibernia zu verftaatlichen. Aber es war eine notwendige Konfequenz diefer Vorgänge, wenn Preußen an der Grundauffaffung feines Staates fefthalten wollte, wonach der Staatswille — wohlgemerkt nicht der Wille der ftaatlichen Behörden — niemals vor den Auffaffungen und erft recht nicht vor den Rechts» fchlichen der Einzelnen zurücktreten darf. Dabei i(t jedoch zu betonen, daß das Gefetz nicht etwa rückwirkende Kraft befitzt: die fchon vor dem Gefctz verliehenen Bergwerksfelder und damit der ganze, jetzt in Betrieb ftehende Bcrgwerksbcfitz bleiben in ihrer Selbftändigkeit völlig unberührt. Erze aber und Braunkohle werden auch in Zukunft nicht betroffen. Endlich dürfen unter den Allgcmeinerfcheinungen des Wirtfchaftslebens die Vcrichiebungen nicht unerwähnt bleiben, die fich auf dem deutfchen Kapitalmarkt feit 1870 geltend gemacht haben; fie ftehen zudem gerade mit der Entwicklung der wcftdcutfchen Montaninduftrie in cngftcm Zufammen= hang. Gleich die franzöfifchen Milliarden find zu gutem Teil in diefe Induftrie hineingefloffen ; denn fie dienten natürlich dazu, zunächft einmal das verbrauchte Kriegsmaterial zu erfetzen, und brachten fo direkt vom Staate her der Eifcn= und Metallinduftrie, dadurch auch dem Kohlebergbau fehr erhebliche Aufträge. Das wurde noch dadurch ge(teigert, daß auch die Eifenbahnen fich gezwungen fahen, alsbald nach dem Krieg ihr (tark beanfpruchtes Sdiicnen= und Transport« material großenteils zu erneuern; was wiederum um fo mehr der we{tlidien Indu(trie zugute kam, als ja die weftlichcn Bahnen in allererP:er Linie die Kriegstransporte hatten leiften muffen. Kein Wunder daher, daß auch die 348 VII. K. Wiedenfeld, Die iMontanindustrie und ihre Annexe □ Kapitalien, die durch die übereilte Rückzahlung der Staatsfchulden in großem Umfang auf einmal zu neuen Anlagen frei wurden, mit Vorliebe gerade in der Montanindu(trie ihre Befchäftigung fuchten : die Gründerzeit hat fich in ihr bekanntlidi in allererfter Linie betätigt. Die neuen Montanwerke fchoffen wie die Pilze aus der Erde empor, und aufs Vielfache gegenüber dem Jahre 1870 fchnellte die Produktionsfähigkeit bis 1873 in die Höhe. Dazu trat bald danach die Verftaatlichung der preußifchen und anderen deutfchen Privatbahnen, von 1875 bis 1885 im wefentlichcn reichend. Sic wurde allerdings in der Form durchgeführt, daß die Aktionäre nur verfchwindend geringe Barbeträge, zumeift vielmehr (taatliche Schuldverfchreibungen er= hielten, und fetzte deshalb zunächft nicht fehr erhebliche Kapitalien frei. Aber fic nahm doch dem Privatkapital das bis dahin wichtigjte Betätigungsgebiet. Dadurch lenkte fie alle jene Kapitaliften, die fich nicht mit der feften Vcrzinfung der Staatspapiere begnügen wollten, auf das induftrielle Gebiet hinüber und führte diefem wenigftens vom neugebildeten Kapital einen großen Teil zu. Für die rheinifche NIontaninduftrie machte fich das namentlich von der Mitte der neunziger Jahre ab in fehr erheblichem Maße geltend; denn feit diefer Zeit arbeiteten die ftraff gewordenen Kartelle auf Erhöhung und Gleichmäßigkeit der Preife, damit auf große Sicherheit der Gewinne hin, und da andere Indu(trie= zweige aus natürlichen Gründen für derartig ftraffe Zufammenfaffungen nicht in gleichem Maße in Betracht kamen, fo ftrömte das freie Kapital nunmehr der Montaninduftrie fo ftark zu, daß für fie der Begriff des Kapitalmangels eine unbekannte Erfcheinung geworden ift. Keine technifche Erfindung und kein Erweiterungsplan brauchten deswegen unausgeführt zu bleiben, weil die erforderlichen Mittel nicht zu bcfchafFen gewefen wären. Diefem Zuge haben fich dann auch die Großbanken angefdiloffen. Sdion als wirklidie Kapitalvermittlcr können fie nicht leicht gegen Strömungen auf» kommen, die in ihrer Kundfchaft fich fo ftark geltend machen. Dazu haben fie als Kapitalverwalter, die ihre eigenen Mittel großenteils in anderen Unter= nehmungen arbeiten laffen und außerdem die Einlagen der Kunden auf eigene Verantwortung befchäftigen muffen, ein lebhaftes Intereffe daran, die über» fichtlichkeit iher Kapitalanlagen auch bei fehr großen Gefamtfummen fidi noch dadurch zu erhalten, daß fie — bei aller Verteilung des Rifikos — doch möglichft große Einzelfummen in einem und demfelben Unternehmen anlegen und dabei fo^che Induftriezweige bevorzugen, in denen die Gewinnunierlagen, vor allem alfo die Spannungen zwifchen Produktionskoften und Verkaufs« pfeifen, nur verhältnismäßig geringen Schwankungen unterliegen. Die Montan» induftrie Weftdeutfchlands bot hierzu in ihren gewaltigen Werken und mit ihren Kartellen die erwünfchte Gelegenheit. Sie trat mit den Banken in ein um fo engeres Verhältnis, je mehr die großen Zentralinftitute die alten Bankiers und kleineren Banken fich angliederten und dadurch jene Tendenz der Zen» tralificrung der Kapitalanlagen auch auf die Kleinmachte übertrugen. Der Konzentrationsprozeß im Bankcntum ift dem Kapitalbedürfnis der Schwer« induftrie zugute gekommen, während er allerdings anderen Induftriezweigen den Weg zur Kapitalquelle erfchwert hat. Audb von der Kapitalfeite her ift alfo der rhcinifchen Montaninduftrie In den letzten Jahrzehnten eine fehr wefentliche Verbreiterung ihrer Betätigungs- baOi gewährt worden. D Drittes Kapitel (1870-1915): Die Produktionstechnik 349 2. In der Welt der Technik handelt es fleh bei der Entwicklung der letzten 40 Jahre ebenfalls überwiegend um Neuerungen, die nur eine Fort= fetzung der fchon in der Vorperiode eingefchlagenen Richtung, eine quantitative Steigerung oder qualitative Verbedcrung der früher erreiditen Lciftung in fich bergen. Aber einige Erfindungen find doch auch von grundfätzlich neuer Bedeutung und dadurch zu Unterlagen wefentlicher Verfchiebungen in der rheinifchcn Montaninduftrie geworden. In allererftcr Linie i|t da die Erfindung des Thomas=Gildiri|t=Ver= fahrens zu nennen. Es macht bekanntlich zur Stahlbereitung in der Beffemer= Birne die phosphorreichen Erze tauglich, über welche Weftdeutfchland mit Luxemburg in fehr großem Umfang verfügt, und die auch verhältnismäßig leicht mit Hilfe des Rheins aus Schweden in befonders guter Befchaffenheit und in großen Mengen herangeholt werden können. Durch feine Einführung i(t der technifche Vorfprung, den bis dahin England aus feinen eigenen phos» phorarmen Erzen und aus dem Bcfitz der wichtigften fpanifchen Gruben in der MalTenherftellung von Fluß[tahl gezogen hatte, zugunften Dcutfchlands gewandelt worden; und zwar im befonderen zugunften der wcftdeutfchen Stahlproduktion. Das neue Verfahren — 1878 gefunden — ift daher fchon im Jahre 1879 an der Ruhr zur Anwendung gelangt: die Rheinifchen Stahl= werke bei Duisburg und der Mörder Verein bei Dortmund haben die er(ten Chargen Thomasjtahl am 24. September 1879 erblafen. In der Gegenwart hat die Thomasbirne alle anderen Stahlgewinnungswcifen in den Hintergrund gedrängt. Daneben hat fich das Siemens=Martinverfahren immer mehr Boden errungen. Zwar iß: es fchon in den fechziger Jahren vereinzelt eingeführt worden; aber zur Allgemeinerfcheinung wird es doch erjt langfam von den fiebziger und rafch von den neunziger Jahren an, von welcher Zeit ab es dasPuddelverfahrenfaß völlig verdrängt. Seine wirtfchaftliche Bedeutung liegt darin, daß es einen ßarkcn Zufatz von Altmaterial zu verarbeiten erlaubt, alfo gleichfam einen neuen Rohßoff neben das aus frifchen Erzen erblafene Roheifen ßellt; auch ßcht es den verfchiedenen Erzfortcn nicht fo wählcrifch gegenüber, wie das Thomas= verfahren. Außerdem i(t der einzelne Ofen nur auf die Verarbeitung kleinerer Mengen geßellt, als die Thomasbirne fie liefert, und deshalb auch im kleineren Betrieb rentabel verwendbar. Damit hängt dann zufammcn, daß man das Endergebnis des Stahls fefter in der Hand behält und den einzelnen Prozeß beffer der jeweilig wechfclnden Aufgabe anpaffen kann. Eine Zwifchenftellung zwifchcn dem ausgeprägten Maffenverfahren des Thomasprozeffes und der Individualbehandlung des Puddelns einnehmend, vereinigt das Siemens= Martinverfahren den Vorzug der Qualitätsleiltung und eines verhältnismäßig geringen Anfpruches auf gelernte Arbeiter. Beide Gewinnungsweifen aber, in crfter Linie der Thomasprozeß, werden mit der Vorftufe der Roheifcnherftellung und mit dem nachfolgenden Stadium des Walzens in ganz unmittelbare Verbindung gebracht durch die Erfindung, das flüffig aus dem Hochofen kommende Material ohne erneute Erwärmung „in einer Hitze" zu Stahl zu verarbeiten und dann auch noch unter die Walzen zu bringen. Diefes Verfahren bedeutet eine wefentlich beffere Aus= nutzung der im Hochofen erzeugten Hitze, das heißt alfo : des dort verbrauchten Kokfes, und damit eine auch volkswirtfchaftlich wichtige Erfparnis an Kohle. Die Anfänge feiner Ausbildung fallen in das Jahr 1882, in dem die Wärme» 350 VII, K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ilue Annexe a ausglcichgrubcn erfunden werden; aber wirklich ausgenutzt ift dicfc Errungcn= fchaft dodi erft von der Mitte der neunziger Jahre an. Zu einer ähnlichen Erfparnis führt die neuartige Verwendung der Koks« und der Hodiofengafe in Kraftmafchincn. Damit ift ein crhcblidi höherer Wirkungsgrad gegenüber den älteren Verwendungsarten gegeben. Namentlich die Gichtgafe der Hochöfen kommen dafür in Betracht; rechnet man doch im großen Durchfchnitt, daß bei der Erblafung von einer Tonne Roheifen für etwa 30 PS. Gas gewonnen und davon nur für 7 PS. beim Hoch= ofcn verbraucht wird. Der gleichen Verwendung der Koksgafe (teht dagegen noch die Sdiwierigkeit im Wege, fie dauernd auf fo hohem Grade der Reinheit zu halten, daß die Mafchinen nicht ver(topft werden. Für fie bedeutet es daher einen widitigen Erfatz, daß fich die Koksgafe feit der Erfindung des Glüh= (trumpfes auch zur Beleuditung verwenden laffen. Die Eignung der Abfallgafe, in befondcren Gasmafchinen direkt zur Kraft verwandelt zu werden, hat zufammen mit der Erkenntnis, daß die elck= trifdie Kraft fich auf weite Entfernungen von einer Kraftquelle her übertragen läßt, die Einführung von elektrifdien Motoren gewaltig gefördert, Ins= bcfondere hat man in großer Mannigfaltigkeit gelernt, die elektrifchen Kraft= vermittler von fehr hohen bis zu fehr niedrigen Leiftungsanfprüchen herzu= (teilen und dadurch Mafchinen zu fchaffcn, die allen Betriebsgrößen und Betriebs= arten fidi anpaffen laffen. Die Einfchiebung des elektrifchen Motors zwifchen die eigentliche Kraftquelle und den Kraftverbraucher ermöglicht es zudem, die Kraftabnahme in beliebiger Unregelmäßigkeit an die gleichmäßig arbeitende Krafterzeugung anzufchließen. Neben den elektrifchen Motor find mit gleichem Effekt die verfdiiedenen Explofionsmotoren getreten, die ebenfalls für die Bc= friedigung des kleinen und fchwankenden Bedarfs fich eignen. Für die Kohlcninduftrie war es weiter bedeutfam, daß man lernte, aus Kohlenftaub Briketts herzuftellen. Bei der Steinkohle kamen damit Abfälle zur Verwertung, die fon(t zu nichts nutze waren. Für die Braunkohleninduftrie aber bedeutete diefe Erfindung, die von den aditziger Jahren an ausgenutzt wird, nicht weniger als die Unterlage ihrer ganzen neuzeitlichen Entwicklung. Jetzt erft kam die Heizkraft der Braunkohle zum Gewicht und Umfang in ein foldies Maß, daß auf größere Entfernungen ein Transport fich lohnte, und jetzt konnten die vorteilhaften Eigenfchaften gerade des rheinifchen Stoffes, feine gleich» mäßige Vcrgafung vor allem, weit außerhalb des Gewinnungsbezirks zu immer höherer Geltung gebracht werden. Der Gedanke der Abfallverwertung hat fich noch weiter als fruchtbar er» wicfen. in der Steinkohleninduftrie hat die Erzeugung der im befonderen Sinne fogcnannten ,, Nebenprodukte der Kokerei" einen fo großen Umfang angenommen, daß er für die Rentabilität der einzelnen Werke fchon oft größeren Wert hat, als die Gewinnung der Kohle und des Kokfes felbft. Beim Hoch» ofen wird die Schlacke, die vordem wegen ihres gewaltigen Raumanfpruches ein arges Hindernis immer gewcfen war — die Schlackcnhalde der Gutehoff» nungshütte z. B. war größer als der Umfang der Infel Helgoland - zu Schladtcn» (deinen und zu Schlackenzcment verarbeitet; auch wird fic zur Ausfüllung der unterirdifchen Leerräume in den Bergwerken im neuen Spülvcrfatzvcrfahren benutzt. Die Schlacke aber, die aus der Thomasbirne kommt, dient dank ihrem hohen Phosphorgehalt als wertvolles Düngemittel. Und fchlicßlich gehört es auch in diefen Bereich, daß alle Abfälle, die irgendwo bei der Eifcnherflellung o Drittes Kapitel (1870— 1915): Die Produktionstechnik 351 oder Eifcnverarbcitung entfallen, im SicmcnssMartinofcn wieder zur Stahl« bercitung herangezogen werden können. Endlich ilt noch anzuführen der gewaltige Aufwand, der allenthalben für die Einrichtung mcchanifcher Innentransportmittel gemacht worden ift. Wo täglich in einem einzigen Werk Roh(toffma|l"en bis zu lo und 12 000 Tonnen und mehr, in entfprechendcm Umfang die Halbfabrikate und Fabrikate bewältigt werden müfl"en, da kann die menfchliche und ticrifche Kraft nidit mehr ausreichen. Hier (teht daher heute in buntcfter Vielfzitigkeit ein Trans= portapparat zur Verfügung, der fich unmittelbar an die eigentlichen Fabrikations= mafchinen anfchließt und den Menfchen nur noch einen kleinen Rejt von mecha= nifcher Arbait übrig läßt — mag es fich um die großen Greifer handeln, die den Rohjtoff aus dem Schiff und vom Lagerraum zur Verarbeitungsjtättc tragen, oder um die Rollen und Zangen, die den Walzblock zur Walze führen und dort in alle gewünfchten Lagen drehen, od^r um die clcktrifdi betriebenen Krane, die für alle möglichen Zwecke benutzt werden. Haben wir es bei allen diefen Erfindungen mit ProzcITcn zu tun, die etwas grundfätzlich Neues in den Aufbau der Montanindu(trie hineintragen, fo laufen daneben in gewaltiger und dem Laien kaum übcrfehbarcr Fülle alle jene Neue* rungen einher, welche die früher gewonnenen Richtungslinien fortfetzen. Daraus mag etwa für den Bergbau erwähnt werden, daß die zunehmende Leiftungskraft der Dampf= und Gasmafchinen und der Elektromotoren, die fidi in immer (tärker wirkende Bohr= und Schachtbau=Apparate fowiein gewaltige Wadcrhebungs» und Luftzuführungs=Mafchinen umfctzt, die Kohle= und Erz« gewinnung in immer größere Teufen heruntergedrückt hat; bis auf 1200 m i|t man jetzt im öjtlidicn Ruhrgebiet bereits gekommen, und ein Abbau auf 800 — 900 m Tiefe i(t auch in den rheinifchcn Kohlenrevieren fchon recht häufig. Dazu hat die Erfindung des Gefrierverfahrens felbft folche Schichten durchjtoßbar gemacht, die früher wegen ihres Walferreichtums ein unüberwindliches Hindernis abgaben. Die Hochöfen find zu gewaltigen Riefen angewachfen, die es bei mehr als 30 m Höhe fchon auf Tageslei(tungen von 600 Tonnen Roheifen bringen und völlig medianifch bedient werden. Eine ganze Anzahl von Winderhitzern pflegen einen folchen Ofen zu umgeben, und oft i(t es dem Laien fchwcr, aus der ganzen Fülle des Beiwerks den eigentlichen RohcifensProduzenten heraus» zufmden. Die Mifchcr, die fich zwifchen Hochofen und Stahlbirne fchieben, haben ebenfalls an Umfang beträchtlich zugenommen und machen gleichfam an der Schwelle der Stahlproduktion deutlidi, daß bei aller Betonung der Maffenlciftung doch die Qualität nach wie vor nicht vernachläffigt wird; fie dienen dazu, das Roheifen verfchiedener Hochöfen vor dem eigentlichen StahU prozeß auszugleichen und vom (törcnden Schwefel zu reinigen. Die Thomas= birnen, die mit einigen wenigen Tonnen Füllung angefangen haben, find bis auf 20 — 25 Tonnen ausgeweitet und laffen jetzt in etwa 20 Minuten eine folche Menge Stahl erjtehen, wie man fie beim alten Puddelprozcß vielleicht in einer Woche zu erreichen vermochte. Auch beim Siemens=Martinverfahrcn iß: man zu größeren Ofen gelangt, ohne an Sicherheit der Qualität Einbuße zu erleiden. Die Weiterverarbeitung in den Walzwerken hat fich diefem Zuge auf Maffenleiftung natürlich nidit entzogen. Ihre Steigerung i(t nicht nur durch Ver(tärkung der Leiftungskraft der einzelnen Mafchinen, fondern vor allem auch dadurch erzielt worden, daß der Walzprozeß immer mehr in befondere 352 VII. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe □ Teilprozcffe zerlegt wird, die dem Quantitätsbedürfnis nachgeben und dod^ in jedem Augenblick und in häufiger Folge eine genaue Kontrollierung des Arbeitsergcbniffes möglich machen. Im Hammerwerk hat der Dampfhammer großenteils fchon wieder weichen muffen vor der hydraulifchcn Preffe, die ihm durch (tärkere und gleichmäßigere Leiftung überlegen ift. Und geht es dann in die Feinfabrikation hinein, fo fehen wir er(t recht die Anwendung von Werkzeugmafchinen als ganz allgemein hcrrfchende Erfdiei= nung. Die Hcrftellung fclb|t des einfachften Meffers oder gar der harmlofen Schraube i(t in unzählige Teilmanipulationen aufgeteilt, deren jede mit der Ver» Wendung einer befonderen Mafchine gleichbedeutend ift. Hier i[t die medianifdic Arbeit dem Menfchen jetzt fo gut wie völlig abgenommen; er ift ganz und gar niditzum Bediener, wohl aber zum Leiter des mafchinellen Prozeffes geworden. Mit diefcr Entwicklung der Technik hängt es — wie früher fchon, aber verfdiärft — urfächlich zufammen, daß fich in recht großem Umfang Schwierig« keiten in der Befchaffung der erwünfchten Arbeiterzahl, namentlich für die höheren Fabrikationsftufen ergeben haben. Der ungelernte Arbeiter wird immer ftärker in die allererften Stadien der Rohftoffgewinnung und »Verar» beitung gedrängt; da i(t es denn, wie etwa im Steinkohlenbergbau der Ruhr und dem Braunkohlengebiet bei Köln, immerhin möglich, aus der Fremde — befonders aus Galizien, Ungarn und Italien — foviel Arbeitskräfte heranzu= holen, daß die Produktionsmenge nach dem Gefichtspunkt der Kapitalaus= nutzung beftimmt werden kann. Auch am Hochofen kommt man noch mit diefer Art von Arbeit in hohem Grade aus, da die Mifchung des Möllers vom akademifch gebildeten Chemiker und Tediniker für eine längere Arbeitsperiode beftimmt wird und man am Hochofen felbft daher mit einem Meifter aus= kommt, der die ungelernten Arbeiter anleitet und den Stand des Prozcffes jeweilig zu beurteilen vermag. Aber im Stahlwerk ift das Verhältnis fchon anders; da find zumeift gelernte Arbeiter notwendig, die den recht komplizierten Apparat richtig zu bedienen und aus eigener Übung das jeweils wechfelnde Maß der Zufchläge zu beftimmen vermögen; da verfagt daher fo gut wie voll= ftändig die Ferne als Lieferantin der Arbeitskräfte, da ift man nach wie vor ganz überwiegend auf die einheimifche Bevölkerung angewiefen. Vollends gilt das von den weiteren Stufen der Fabrikation. Und die Wirkung macht fich immer (tärker dahin geltend, daß von der Arbeiterfeitc her ein Mißver= hältnis zwifchcn dem Produktionsumfang der Anfangsftadien und dem der fpäteren Stufen fich ergeben hat. Mangel an Arbeitsgelegenheit hat es für die gelernten Arbeiter der Montaninduftrie in den letzten Jahrzehnten nur ganz vorübergehend gegeben; die Regel war eine das Angebot überfteigendc Nach= frage, die denn auch zu entfprechend beträchtlichen Lohnftcigcrungen für fo ziemlich alle Kategorien diefer Arbeiterklaffen geführt hat. Wcfentlich (tärker noch ift das Bedürfnis nach akademifch vorgebildeten Chemikern und Technikern, fowie nach kaufmännifchen Angeftcllten gcwachfcn - auch das ein Zeichen, daß ebenfo wie die Steigerung der Quantität, fo auch die Hebung der Qualität und deren höhere Gleichmäßigkeit in der Neu» zeit betont wird. Diefer Bedarf war jedoch ohne jede Schwierigkeit aus der heimifchen Bevölkerung zu decken; denn es liegt in der Natur eines fo ftark aufftciecnden Volkes, wie wir es find, daß nicht nur die mittleren Schichten aus fldf) felbft heraus eine kräftige Vermehrung zeigen, fondern daß fl« auch von der Uiiterfchicht ftctigcn Zuwachs erfahren. Gerade bei uns if^ der Drang a Drittes Kapitel (1870-1915): Die Standorte des Kohlen-Bergbaus 353 nach wiffcnfchaftlicher Ausbildung fo (tark, daß der Indu(tric die erforderlichen Kräfte diefer Art (tets in überreichlicher Zahl zur Verfügung [tehen; felbft die erß; kurze Zeit beftehenden, neuartigen HandeIs=Hochfchulen entlaffen fchon jetzt regelmäßig foviele akademifch gebildete Kaufleute, daß die Gefahr der Proletaria5sbildung nicht von der Hand zu weifen ift. Alle die jungen Leute, die da nach der wiffenfchaftlichen Ausbildung (treben, können ja hoffen, zu den wenigen zu gehören, die aus der Angeltelltenftellung zur Leitung fich empor= fchwingen. Und alle nehmen fie deshalb zunächft mit untergeordneten Stellungen vorlieb, für die denn auch, dem Übermaß des Angebots entfprechend, die Befoldungen im allgemeinen recht niedrig find. Man überfieht ganz, daß die Zeiten betonter technifcher Kenntniffe für einen großen Teil der Induftrie vorüber find, und daß die Fähigkeit, große Arbeitcrmengen richtig zu leiten und das Verhältnis zum Markt vorweg richtig zu erfpürcn, nicht wohl gelernt werden kann. Die Beherrfchung der Produktionstechnik und ebenfo die der kaufmännifchcn Technik find gerade in der Montaninduftric als Unterlage des eigentlichen Unternehmertums nicht mehr anzufprcchcn. 3. In den örtlichen Vcrhältniffen, den Standorten und den Handelsbeziehungen hat die fortfchreitcnde Entwicklung der Technik teils direkt durch Änderung der Standortsbedingungen, teils mittelbar durch die Steigerung der Produktion auch in der letzten Periode wieder gewichtige Verfchiebungen herbeigeführt. In der Steinkohlenproduktion hat die Erweiterung des Ruhrbezirks, die fchon in der Vorperiode ihren Anfang genommen hatte, dann aber in den fiebziger und achtziger Jahren kaum vorwärts gekommen war, von der Mitte der neunziger Jahre an einen gewaltigen Sprung getan : fie hat nördlich die Lippe nicht nur erreicht, fondern erheblich überfchritten und ebenfo nach Oftcn und Weften weit ausgegriffen. Heute ift infolgedeffen das ganze Gebiet zwifchen Ruhr und Lippe zum Rhein hin zum größten Teil bereits in der Ausbreitung oder doch in der Erfchließung begriffen. Links des Rheins hat nicht nur die alte Haniel=Zeche Rheinpreußen ihrem crjtcn, mit foviel Schwierigkeit niedergebrachten Schacht mehrere neue Anlagen in rafcher Folge hinzugefügt; fondern es find auch die fchon früher verliehenen Felder fämtlich in Angriff genommen und fogar neugefundene Vorkommen ebenfalls zur Förderung gebracht worden. Alles in allem hat das Ruhrgebiet im Jahre 1913 nicht weniger als 114,5 Millionen Tonnen Steinkohle zu Tage ge= bracht — gegen 11,6 Millionen im Jahre 1870 — ; auf den Regierungsbezirk Düffeidorr entfallen davon 30,5 Millionen Tonnen. Gerade im rhcinifchen Teil fteht dabei für die allernächfte Zeit eine fehr beträchtliche Vergrößerung der Produktionsfähigkeit und auch der tatfächlichen Förderung bevor; denn im Gegenfatz zu der weftfälifchen Hälfte, wo die Rheinifch=\X/cftfälifche Berg= werksgefellfchaft den größten Teil der ncuverliehenen Felder an fich gebracht hat und der Auffchließung entzieht, find in dem Winkel zwifchen Lippe und Rhein die großen Thyffen=Gewerkfchaften Rhein und Hiesfeld, fowie einige kleinere Zechen im Ausbau begriffen, und ebenfo ift auf dem linken Rheinufer ein fehr lebhaftes Schachtabteufen im Gange, was eine Vervielfältigung der bisherigen Leiftung bedeutet. Im Verhältnis noch ftärker als die Rohkohleförderung i(t die Herftellung von Koks und die Gewinnung von Nebenprodukten an der Ruhr gcfticgen. Die Rheinproviaz 1815— 1915. 23 354 VII. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe a Mit rund 25 Millionen Tonnen Koksproduktion nimmt der Oberbergamts» bezirk Dortmund im Jahre 1913 mehr als % der gcfamten deutfdien Koks= gewinnung für fidi in Anfprudi, und von den 4 Millionen Tonnen, die auf den Bezirk Bonn entfallen, ift ebenfalls ein großer Teil nodi auf die Zcdien des linken Niederrheins zu redinen. An Teer aber find im Bezirk Dortmund 700 000 Tonnen, an fdiwefelfaurem Ammoniak 300 000 Tonnen, an Rohbenzol» KohlenvjcafferltofFen zufammen 42 000 Tonnen im Jahre 1912 gevjconnen worden, während es 5 Jahre zuvor er(t 430 000 Tonnen Teer, 170 000 Tonnen Ammoniak und 27 000 Tonnen Kohlcnwa(Ter{toffe waren. Dazu hat fidi von 1908 auf 1912 die Leuditgasher(tellung von 12 auf 160 Millionen Kubikmeter und die Ge= winnung clektrifdier Kraft von 230 auf 825 Millionen K.W. St. gehoben. Mit diefen Ziffern i[t das Ruhrgebiet vollends über feine eigene Aufnahme= fähigkeit weit hinausgcwadifen. Sein Abfatzgcbiet reicht jetzt für Kohle, Koks und Briketts ganz regelmäßig in öftlidier Richtung bis nach Berlin und fogar in die Küftengegenden der preußifdien 0(tprovinzen ; man bringt die Ware mit der Eifenbahn nach Hamburg und von da auf der Elbe fowie in Küften» fchiffahrt zum endgültigen Beftimmungsort, wo dann das rheinifch=weltfälifche Erzeugnis in heftigem Wettbewerb mit der Produktion Oberfchlefiens und vor allem Englands (teht. Für die rheinifchen Teile des Ruhrbezirks wichtiger aber find die Transporte, die fich nach Süden und Weften erftrecken. Auf kleinere Entfernungen bis etwa Frankfurt a. M. hin und ebenfo nach dem füdöftlichen Deutfchland bedient man fich hierbei der Eifenbahn; der doppelte Umfchlag wird durdi die Kürze des Schiffahrtsweges in dem einen, durch den großen Umweg in dem anderen Falle unlohnend, und auch die Benutzung des Rhein=Herne=Kanals, der ja nur einem Teil der Zechen den einen Um= fchlag erfpart, wird hier fchwerlich den Aktionsradius der Rheinfchiffahrt wefcnt* lieh ausweiten. Dagegen fpielt der Rhein fchon heute die bei weitem wichtig|tc Rolle im Abfatz nach Südwe(t=Deutfchland, fowie darüber hinaus nach der Schweiz und Italien; in Mannheim und Straßburg find hierfür große Umfchlag= einrichtungen und Lagerplätze vom Ruhr=Syndikat gefchaffen worden. Ebenfo i(t es. der Strom, der die Ruhrkohle nach Holland und Belgien trägt, während im Verkehr mit Frankreich, namentlich mit Paris, wieder die Eifenbahn in den Vordergrund tritt. Im ganzen hat das Rheinifdi=Weftfälifche Kohlen^ Syndikat im Jahre 1913 '"s Ausland iy,6 Millionen Tonnen Kohle, 4,4 Mil= lionen Tonnen Koks und 1,6 Millionen Tonnen Briketts überführt; davon (Ind, Koks und Briketts auf Kohle zurückgerechnet, nach Holland 7 Millionen Tonnen, nach Belgien 4,7 Millionen Tonnen, nach Frankreich 5,3 Millionen Tonnen, nach Italien 1,1 Millionen Tonnen und nach der Schweiz 0,8 Millionen Tonnen gegangen, während der Reft fich unter Betonung der Mittelmccrländer auf fo ziemlich die ganze Welt verteilt. Ebenfalls die ganze Welt i(t Abnehmer der fogenannten Nebenprodukte (Teer ufw.) geworden. Und für das Leuchtgas wie auch für die eicktrifche Kraft des Ruhrbezirks gehen die Leitungen auch fchon aus dem Gebiete fclbft heraus, ganz Wcftfalen und große Teile der Rhein« pro.vinz umfaffend. Hinter diefcm gewaltigen Gebiet ftchen die anderen Stcinkohlenbczirkc des Rheinlandes erheblich zurück: an der Saar hat die Produktion nur 13 MiU iionen Tonnen und im Aachener Bereich fogar nur 3,3 Millionen Tonnen im Jahre 1913 betragen. Demgemäß '\{i auch ihre Koks- und Nebenprodukten« Gewinnung nicht erheblich, zumal die Saarkohlc auch in den neu crfchloffcncn a Drittes Kapitel (1870-1915): Standorte der Eisenindustrie 355 Sohlen nur wenig zur Verkokung fich eignet und von der Produktion des Aadiencr Bezirks ein großer Teil auf Magerkohle und Anthrazit, nicht aber auf Kokskohle entfällt. Immerhin verdient Erwähnung, daß der Efchweilcr B.=V. fich auf felbftgewonnenen Koksgafen die größte Gasmafchincn=Zcntralc Europas gefchaffen hat. An die Saar muß ebenfo wie nach Aachen Kokskohle noch von der Ruhr her eingeführt werden. Dafür geht allerdings ein Teil der dort gewonnenen Rohkohle ins Ausland, fogar bis in die Schweiz und nadi Italien hinein, wennfchon diefe Exportmengen natürlich bei weitem nicht an die Ziffern der Ruhr heranreichen. In geradezu verblüffender Stärke macht fich jedoch feit etwa 20 Jahren die früher fo nebenfächliche Braunkohle des linksrheinifchen Gebiets geltend. Die Einführung des Brikettierverfahrens hat ihre Produktion von 360 000 Tonnen im Jahre 1885 und 1,7 Millionen Tonnen im Jahre 1895 auf 19,8 Millionen im Jahre 1913 emporgehoben. Das ganze „Vorgebirge" zwifchcn Köln und Bonn fowic die Roer=Ebene nach Düren und Grevenbroich hin dienen jetzt in großen Tagebauen der Braunkohlengewinnung; und für eine fpätere Zeit find bereits tiefer liegende, in Schachtbetrieb auszunutzende Vorkommen fc(tge(tellt und belegt worden. Mannigfache Induftricbetriebe haben fich neuerdings in diefes Gebiet hineingezogen, um den hohen Gasgehalt und die fehr gleich= mäßige Vergafung der rheinifchen Braunkohle zur Elcktrizitätscrzcugung aus» zunutzen. Das meifte geht aber dank der Brikettform aus dem Bezirk hinaus rheinab und rheinauf; in Mannheim wird deshalb vom Brikcttfyndikat fchon feit Jahren eine befondere Zwcig(telle mit reichlichen Umfchlageinrichtungen unterhalten, und nichts kennzeichnet die Bedeutung, die fich das kleine Indu(trica brikett errungen hat, fo fcharf wie die Tatfache, daß fogar mitten im Ruhrgebict in zunehmendem Umfange Elektrizitätswerke und auch Siemens=Martinwerkc ihren Betrieb nicht mehr auf die Ruhrkohlc, fondern auf das Braunkohlenbrikett eingerichtet haben. In der Eifeninduftrie haben die neuen Techniken für die erjten Stufen, die eigentliche Maffenerzeugung, geradezu eine geographifche Umgruppierung herbeigeführt. Auf der einen Seite nämlich hat das Thomasverfahren den phosphorarmen Erzen, die man früher für das Beffcmcrn unentbehrlich brauchte, die eigentüm» liehe Wertfehätzung genommen, die nach den Befonderhciten der Produktions» kojten nicht viel fragte. Ebenfo find die Eifenfteine, deren Roheifen dem Puddel= ofen zugeführt zu werden pflegte, die aber an den einzelnen Stellen nur in geringer Menge vorkamen, dem Maffcnprozeß gegenüber abbauunwürdig ge= worden. Infolgedcffen fpielen weder der Kohlcneifenftein (blackband) noch die Rafeneifenfteine, wie man fie im Ruhrgebict gewann, heute noch eine Rolle, und der ganze Eifenerz=Bergbau der linksrheinifchen Gebirge i(l: jetzt völlig zum Erliegen gekommen. Aus der Reihe der Eifen(tein=Produzenten ift damit das Rheinland ausgefchieden. Andererfeits ift die Minette aus Deutfch= Lothringen und Luxemburg, die früher nur in geringem Maße für Eifengießereien und für das Puddeln ver= wandt werden konnte, jetzt der wichtigftc Rohftoff der wcftdeutfchen Eifen= induftrie geworden: aus rund 5 Millionen Tonnen, die im Jahre 1885 dort im Südweften gewonnen wurden, find bis zum Jahre 1913 rund 50 Millionen Tonnen geworden. Auch Franzöfifch=Lothringen liefert fie uns in zunehmendem Maße (1913 rund 4 Millionen Tonnen), wennfchon Frankreich durch Gefctz 23* 356 Vn. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe a und Verwaltung dahin wirkt — ebcnfo wie übrigens auch Luxemburg — , daß wenigftens die er(te Verhüttung der Erze im Lande felbft (tattfinde. Daneben kommt für die Ruhr der Erzbezug aus Schweden und aus Spanien maßgeblich in Betracht: von den 5 Millionen Tonnen, die Deutfchland im Jahre 1913 aus Schweden bezogen hat, ift der größere Teil, und von den 4 Millionen Tonnen fpanifcher Erze wohl fa(t das Ganze ins Ruhrgebiet hineingefloffen. Hochwertige Erze aber werden aus dem benachbarten Siegerland und aus dem Lahn=Dill=Bezirk bezogen, wo gerade das Bedürfnis, den Thomasftahl durch Zufätze manganhaltigen Eifens zu veredeln, dem Bergbau einen (tarken Anfporn gegeben hat. Auch aus dem ferneren Ausland, vor allem aus Südrußland und Algerien, aber auch z, B. von den füdlichen Südfeeinfeln kommen Mangans erze den Rhein herauf. 1 Zunäch(t blieb es auch unter dem Thomasverfahren dabei, daß ganz überwiegend das Erz zur Kohle kam; das heißt, die Ruhr behielt ihr über= gewicht in der Roheifenhcr(tellung und demgemäß auch in den weiteren Stadien der Verarbeitung. Koks oder gar Kokskohle zum Erz zu transportieren, war fo lange zu teuer, als über den Hochofen hinaus der in ihm verbrannte Heizftoff nicht voll ausgenutzt werden konnte, und als es daher nötig war, danach entweder das Roheifen doch zur Kohle zu bringen oder neue Kohlenmengen für die weiteren Stufen anzufahren. Der Kohlcbedarf der Eifeninduftrie i(t dann aber ganz wefentlich verringert worden, als man daran ging, das Roheifen „in einer Hitze" bis zum Walzwerk durchzubringen, und als man wenig fpäter auch lernte, die Gichtgafe direkt in Kraft zu verwandeln. Da wurde gleichfam die ganze Wärmemenge, die von der Stoffbearbeitung und von den Mafchinen zu for= dem i(t, von dem einen Quantum geliefert, das als Koks in den Hochofen hinein= wandert: das Verhältnis des Erzes zur Kohle verfchob fich alfo von Grund auf. Jetzt machte fich nachhaltig geltend, daß die lothringifch=luxemburgifche Minette verhältnismäßig eifenarm i(t und deshalb zur Hcrftellung von Roheifen ver= hältnismäßig viel Erz und wenig Kohle verbraucht. Sogar der Vorfprung, den die Ruhr aus ihrem großen Stamm von Hüttenarbeitern ableitet, hat ihr das frühere Übergewicht nicht erhalten können; der Südweften hat fich aus feiner eigenen, wenn auch viel kleineren Hüttenbevölkerung und aus dem Ruhrbezirk die gelernten Meiftcr herangezogen, während die großen Zahlen ungelernter Hilfskräfte vor allem aus Italien hinzujtrömtcn. Im neuen Jahr= hundert ift daher eine folche Betonung der lothringifch=luxemburgifchen und auch der Saar=Eifcninduftrie eingetreten, daß man hier fchon faft die Produktions= kraft des Ruhrgebiets erreicht hat: im Jahre 1913 (tehcn fie fich mit 7,8 und 8,2 Millionen Tonnen Roheifen gegenüber. Sogar von einer Abwanderung nach dem Südweften kann man infofern fprechen, als einige der größten Ruhr» Unternehmungen (die Gclfcnkirchener Bergwerks=A.=G., Thyffens Gcwerkfchaft Deutfcher Kaifer und die Gutehoffnungshütte) die geplanten großen Erweite= rungcn nicht an der Ruhr, fondern in Luxemburg und Lothringen ausgeführt haben; auch eine Gefellfchaft wie die Deutfch=Luxemburgifchc A.=G. für Bergbau und Hüttenbetrieb zeigt in ihrer ganzen Organifation, daß es ihr ebenfalls darauf ankommt, die Ruhrbetriebe, zu denen zuletzt noch die Dortmunder Union hinzugetreten ift, aus der eigentlichen Maffenproduktion herauszuziehen und dafür die luxcmburger Anlagen für diefe Aufgabe bcfonders auszubauen. Die Wandlung gegenüber den früheren Verhältniffen ijt fo (tark, daß die Eifen« indußrie der Ruhr, die früher für den Erzbezug von Lothringen lebhaft nach a Drittes Kapitel (1870—1915): Standorte der Eisenindustrie 357 einer Kanalifierung der Mofel gerufen hatte, heute wegen der füdwe(tdcutfchen Konkurrenz in Stahl und in Walzfabrikatcn eine fcharfe Gegnerin foldier Pläne geworden ift: der Koksbezug, das für Lothringen und Luxemburg wichtigftc Frachtenelement, vollzieht fich ausfchließlich mit der Bahn, weil der Umfdilag mit feinen Koften und feiner Qualitätsgefährdung die Rheinftrecke Ruhrort=Niedcrlahnftcin als zu kurz erfcheinen läßt; das Erz dagegen, das gegen Umfchiag qualitativ unempfindlich ift, kann fich mit Vorteil des gebrochenen Weges bedienen und deshalb die Kanalifierung des Fluffes entbehren. Zugleich ift in dem Ruhrgebiet eine Verfchiebung nach Weften, alfo zu= gunften des rheinifchen Teiles eingetreten. Die Werke, die dicht am Rhein liegen, (tehcn im Bezug der fchwcdifchen und fpanifchen Erze gün(tiger da als die weiter öftlich aufgebauten Betriebe; und der Dortmund=Emshäfen=Kanal mit feinen Abgaben, die doch noch nicht einmal die laufenden Koften decken, und mit feinen kleinen Fahrzeugen hat keine wcfentliche Änderung bewirkt: noch im Jahre 1913 find nur 1,5 Millionen Tonnen Erz auf ihm befördert worden. Daher hat ein Krupp fein Thomaswerk vom Hochofen bis zu den Schienen=Walzwerken direkt an den Rhein, fogar auf das linke Ufer verlegt. Thyffen hat die Gcwerkfchaft Deutfchcr Kaifer, die ebenfalls an den Rhein (tößt, zur Unterlage feiner gefamten Unternehmungen gemacht, die vorher in Mülheim an der Ruhr ihren Schwerpunkt gefunden hatten. Der Phönix hat, nachdem er mit dem Mörder Verein, einem öftlichen Werke, verbunden worden ift, die Maffencrzcugung hauptfächlich in den Ruhrorter Betrieb hinein= gelegt; und was der Verfchicbungen mehr find, die da allenthalben die letzten anderthalb Jahrzehnte gebracht haben. Der Rheinteil des Ruhrgebiets fteht heute weitaus in erfter Linie vor dem weß:fälifchen Teil. In dicfen beiden Bezirken, Lothringen^ Luxemburg und Rheinteil des Ruhrgebiets, liegt heute auch ganz überwiegend die Ausfuhrkraft Deutfchlands begründet; jenes benutzt die Nähe Antwerpens, das mit der belgifchen Bahn auf Grund niedriger Ausnahmetarifc billig erreicht werden kann, und diefes den Rhein mit feinen niedrigen Wafferfrachten, um den Anfchluß an die See= fchiffahrt und damit den wichtigften Ausfuhrweg zu erreichen. MitteU und 0(t= Deutfchland wird dagegen vor allem von der Ruhr her verforgt, wobei natürlich dank feiner Lage auch der weftfälifche Teil eine beträchtliche Rolle fpielt. Eine Einfuhr von Roheifen und Schwerfabrikaten findet dagegen ins Rheinland wohl nicht mehr ftatt; und wenn das übrige Deutfchland noch immer englifches Roheifen in beträchtlichen Mengen bezieht, fo liegt der Grund dafür wie früher in den befonderen Qualitätsverhältniffen : es i(t Gießerei=Roheifen, das an der Ruhr nur verhältnismäßig wenig erzeugt wird, während die füdweftdcutfchc Induftrie zu weit vom übrigen Deutfchland entfernt liegt, als daß fie in den Küftcngegcnden trotz des Zolls mit England in Wettbewerb treten könnte. In der feineren Weiterverarbeitung ift von Standortsverfchiebungen, wie fie bei den Thomaswerken fich durchgefetzt haben, nichts zu merken. Diefe Betriebe haben für einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Verarbeitungsftoffe die Erzeugung dadurch in der Nähe behalten, daß fie fich fehr maßgeblich auf das Siemens=Martinverfahren (tützen und dafür das Altmaterial von allen Seiten, nicht nur von den Erzen her bekommen. Auch wo fie Thomas(tahl nehmen, tritt die Rückficht auf den Transport in den Hintergrund, da fie ihn in Geftalt von vorgewalzten Knüppeln oder gar noch weiter verarbeitetem 358 VII. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe d Halbfabrikat zu bezichen pflegen; die Minderung des Gewichts wird durch die höhere Tarifftufe der Eifenbahn doch nicht voll ausgeglichen. Dagegen fpielt die Rüdx/enn überhaupt nodi Marktvereinbarungen möglich find, mit der Feftlegung von Einzelheiten begnügen, und auch fie werden nur allzu häufig im entfcheiden= den Augenblick eines heißen Marktkampfes durchbrochen. Selbß: die Roh(toff= und Ma(Tenfabrikat=Syndikate können es aber zu dauernd abfolutcr Beherrfchung des Marktes auch nicht bringen; immer wieder entftehcn ihnen teils durch die Entdedtung neuer Rohjtoffvorkommen, teils aus dem Erweiterungstrieb der eigenen Mitglieder fo nachhaltige Störungen, daß ihre Produktions= und Prcis= Politik, wcnnfdion fie eine (tärkere Gleichmäßigkeit der Marktverhältniffe mehr und mehr herbeigeführt hat, doch vom Ziel der völligen Clberfehbarkeit noch weit entfernt i(t. Der Gedanke der Marktunabhängigkeit hat deshalb in der neueften Zeit fich überaus (tark neben den der Marktbeherrfchung [teilen können : die größten Großen der rheinifchen Montaninduftrie machen kein Hehl daraus, daß die Marktficherheit, welche ihnen die Kartelle gewähren, ihnen eine Bindung der eigenen Entwicklungsmöglichkeit nicht wert i{t, und gerade fie find für die (traffen Syndikate nur in folchem Umfange zu haben, daß ihnen noch breite Tore geöffnet bleiben, durdi welche fie unabhängig von der Syndikatsbindung ihre Produktion doch wieder nach eigenem Ermeffen über den jeweiligen Be(tand hinauszuführen vermögen. Auch die großen Thomaswerke find trotz aller Kartelle je eine Welt für fich geblieben, die auch dem Markt gegenüber je eine befondere Stellung einnimmt. Mit der zunehmenden Größe der Unternehmungen und mit der fich (teigernden Kompliziertheit der Marktverhältniffe hat die Form der Aktien» gefellfchaft beträchtlich an Beliebtheit gewonnen. In der Schwerindu(trie fmd denn doch die Kapitalien, welche das einzelne Werk erfordert, regelmäßig zu groß geworden, als daß fie noch von einzelnen Perfonen und ihrem per= fönlichen Anhang aufgebracht werden könnten; nur alte Familienwerke, die [Ich allmählich aus kleinen Anfängen zur heutigen Höhe hinaufgearbeitet haben — fo vor allem die alten Saarunternehmungen der Böcking, Röchling, Stumm — verzichten noch auf die Aktienform oder laffen fie — wie die Gutehoffnungshütte und Krupp — zu einer leeren Rechtsform werden, ohne doch mit ihrem Kapital= bedarf an den breiten Kapitalmarkt zu appellieren. Kleinere Unternehmungen aber gehen, auch wenn von der Kapitalgröße her kein Druck in diefer Richtung ausgeübt wird, doch in zunehmendem Umfang ebenfalls zur Aktiengefellfchaft über; bcf^immt von der Ausficht, fpätere beträchtliche Kapitalvcrgrößerungen für das an der Börfc fchon eingeführte Werk leichter bewirken zu können, und namentlich getragen von dem Beftreben, das große Kapitalrifiko, das aus dem allgemeinen Wettbewerb des Marktes fich ergibt, auf breitere Schultern, als die des einzelnen Unternehmers zu legen und dadurch feine Ge(la!tungskraft freier von pekuniären Sorgen zu (teilen — die Parallclerfchcinung zur Häufung der Produktionsrichtungen im gemifchten Werk, die ja ebenfalls das Markt= riflko zu mindern bef^lmmt ift. In einzelnen Fällen — fo bei der Gutehoff- nlInp^hüt1c und bei Krupp war lediglich der Wunfeh entfchcidcnd, die a Drittes Kapitel (1870—1915): Aktiengesellschaften, Auslandskapital 383 Bcfitzverhältniffe der Familie in eine fcfte, leicht übcrfchbarc Form zu bringen, die zugleich jeder fpäteren Zcrfplitterung nachhaltig vorbeugt. Im allgemeinen jedoch — Krupp bildet eine bemerkenswerte, in ihrem Grund nicht erkennbare Ausnahme — i(t hierfür in den letzten Jahrzehnten die Form der G. m. b. H. bevorzugt worden, weil fie jenen fachlichen Zvx/eck ebenfalls gewährleijtet, fidi aber der immerhin lä(tigcn und bei reinen Familienunternehmungen privat» wirtfchaftlich überflüffigen Kontrolle der Öffentlichkeit entzieht. Nur da, wo bei geringem Kapitalanfpruch des Betriebes die anzuwendende Feintechnik das unbefchränktc Intereffc des Unternehmers erfordert, herrfcht auch heute noch ausnahmslos die reine private Einzelunternehmung. Demgemäß (teht im Bergbau ebenfo wie bei den großen Thomaswerken die Aktiengefellfchaft ganz und gar im Vordergrund; im Bergbau ergänzt durch die neuzeitlidie Form der Gcwerkfchaft, die mit ihrem allmählichen und nicht von vornherein feftgelegten Kapitalaufbringen namentlich für neu zu errichtende Unter= nehmungen noch immer beliebt ift, und bei der man durch eine Verfchachtclung mehrerer Gewerkfchaften in eine G. m. b. H. ebenfalls eine mehr als taufend» teilige Rifikoverteilung erreicht hat. Die Kleineifen=Indu(trie ebenfo wie die Metallverarbeitung zeigen ganz überwiegend die Form des privaten Einzel» betriebes. Auf den Zwifchen(tufen findet fich beides; mit einer Betonung der Aktiengefellfchaft, je mehr das Werk an die Anfangsftufen des Produktions= ganges heranrückt. Ausländifches Kapital fpielt eine irgend cntfcheidende Rolle nicht mehr. Als ein im Kern fremdes Unternehmen i(t heute, neben der Zinkgefellfchaft des Altenbergs, wohl nur noch die Burbacher Hütte an der Saar zu nennen; fic wird von belgifchem Kapital getragen, hat aber — namentlich feit der Ein= Verleihung des Efchweiler B.=V. — einen fehr ftarken deutfchen Einfchlag erhalten und fchon ihren 5o=Jahr=Bcricht (1906) in dcutfcher Sprache veröffent» licht. Mit am längften (tanden einige Zechen des Ruhrbezirks unter fremd» ländifchem Einfluß; die Grube Weftend z. B., die in den fünfziger Jahren mit englifchem Kapital gegründet und 1870 von einer franzöfifchen Gefellfchaft übernommen worden war, ift er(t 1880 unter deutfchen Einfluß gekommen; bei der Gefellfchaft Nord(tern, die jetzt ebenfalls dem Phönix gehört, i(t der Gcfchäftsbericht im Jahre 1888 zum erften Male in deutfcher Sprache erfdiienen. Der 6o=Jahr=Bencht des Phönix, der dies berichtet, betont dabei, daß die Um» Wandlung der Kapitalbeziehungen nicht nur die Gewinne aus den fremden in deutfche Hände übergeführt hat, fondern daß es auch zu einer ganz andern Gewinnpolitik gekommen fei : die Betriebsüberfchüffc feien von der Vcrdeut» fchung ab zum guten Teil in die Werke felbft wieder hineingefloffen, während früher das fremde Kapitaliftcntum alles als Dividende herausgezogen hätte. Ein fpäterer Verfuch, die Aktien der Harpener B.=A.=G. an der Parifer Börfe einzuführen, hat nennenswerte Erfolge nicht gehabt. Die rheinifche Montan» indujtrie darf von der Kapitalfeite her als deutfch bezeichnet werden. 5. Vollends gilt das von den Unternehmern und ihrem Verhältnis zum Kapital: fie haben, ebenfo wie die Technik längft das Gepräge deutfcher Wiffenfchaftlichkeit trägt, fo dem Aufbau der einzelnen Unternehmungen und der Gefamtgeftaltung den Stempel deutfcher Organifationsart aufgedrückt. Auf der einen Seite fehen wir gewiß, daß die reinen Sachintereffen, wie fie in der Erzielung eines möglichjt hohen Gewinnes gipfeln, die allgemeine 384 Vn. K. Wledenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe n Richtung allenthalben beftimmen; die Pcrfönlichkeit des Unternehmers (teilt fich in den Dienjt ihres Werkes. Aber fie tut es bewußt und deshalb nicht reftlos. Sie behält doch die letzte Entfdieidung in der Hand und geht überall dcutlidi darauf aus, im Werke fich felbft zu geben und in ihm frei ge(talten zu können. Das ift natürlich da ohne weiteres möglidi, wo der Unternehmer noch ausfchließlich mit eigenem Kapital arbeitet, und häufig find deshalb die Fälle, in denen lediglich deshalb von der — technifch erwünfchtcn, wirtfdiaftlich vorteilhaften — Vergrößerung des Betriebes noch immer abgefehen wird, um nur ja nidit auf fremdes Kapital angewiefen und damit in der Selbftändigkeit der Leitung befchränkt zu werden. Jedoch auch da, wo fremdes Kapital nidit mehr entbehrt werden kann und fchon, wie in der großen öffentlichen Aktien« gefellfchaft, die entfcheidende Sachuntcrlage des ganzen Unternehmens abgibt, — auch da machen fich die rein perfönlichen, irrationalen Geftaltungswünfdbe der Unternehmungsleiter, nicht feiten in Gegenfatz zu den fachlichen Intereffen, als letzte Inftanz der fachlichen Vorgänge geltend. So i(t der Wettlauf um die Produktionsgröße, wie er bei allen Syndikaten im „Kampf um die Quote" fidi fo nachhaltig und (törend bemerkbar macht, keineswegs mit dem Gewinnintereffe allein zu erklären; denn dies kommt zumeift beffer zu feinem Recht, wenn das einzelne Werk fich mit einer geringeren Beteiligungsziffer begnügen wollte und dadurch das Zu(tandekommen der Gefamtorganifation ungefährdet ließ. Aber keiner will hinter dem andern zurückbleiben. Jeder Unternehmer ift eiferfüchtig darauf bedacht, gerade fein Werk auf der Höhe zu halten, und findet den Maßftab diefer Höhe vor allem in dem Verhältnis, in dem feine Produktionsziffer zu den Ziffern der Kartell* genoffen (teht. Und warum legen gerade die großen Werke, welche es unter dem Sdiutz der Kartelle zu fehr anfehnlichen und fehr gleichmäßigen Gewinnen fchon gebracht haben, dennoch allenthalben fo entfcheidendes Gewicht darauf, fich für die Durchbrechung der kartellmäßigcn Produktionseinfchränkung einige Wege immer offen zu halten? Das Gewinnintereffe würde beffer gewahrt, wenn man fich reftlos zur Marktbeherrfchung zufammenfchlöffc. Aber die Feffcln erfcheinen von der perfönlichen Seite her unerträglich. Hat der Unter» nchmer das Werk erft einmal zu ragender Größe emporgeführt, fo will er nicht plötzlich ganz ftille ftehen muffen. Nach irgend einer Richtung hin muß fein Geftaltungsdrang fich noch entfalten können. Und fchließlich die Bemeffung der Gewinne felbjt. Wie oft kann man beobachten, daß die Leiter eines Werkes, auch wenn fie fehr erhebliche Divi= denden tatfächlich auszufchütten vermöchten, doch mit wefentlich geringeren Sätzen ihre Aktionäre abfpeifen. Als ob es ihr Privatunternehmen wäre, fo ftecken fie vieles vom Betriebsgewinne durch entfprechende Buchungen heimlich wieder in den Betrieb hinein. Das Werk geht allem vor; die Aktionäre mögen [Ich mit einer Dividende allgemein üblicher Höhe begnügen. Aber im felben Augenblick wird ein folcher Unternehmer unruhig, wenn das Nadibarwerk, •US welchen Gründen immer, feine bisherigen Dividenden erhöht. Da mag fogar der eigene Gewinnfatz noch immer höher fein. Nlan will doch den Abftand wahren una geht ohne eigentlichen fachlichen Grund im Gegenfatz zur bis» hciicen Dividendenpolitik mit einer Erhöhung vor. Nicht fo fehr an der Divi» denaenhöhe an fith, als vielmehr am Verhältnis der eigenen Dividende zu der D Drittes Kapitel (1870—1915): Kapital und Unternehmertum 385 der anderen Werke mißt der Unternehmer feinen Erfolg. Sein Ehrgeiz wird angejtachelt, fobald eine Verfchiebung eintritt; er will fich nicht nachfagcn laffen, daß der Nachbar fich bcffer entwickele. Ein irrational perfönlichcs, nidit aus der Sachlichkeit gcfchöpftcs und doch entfcheidendes Moment! Da kann es denn nicht ausbleiben, daß die KapitalintereJTen und die Unternehmeranfchauungen miteinander in Zwiefpalt geraten. Der Kampf, der fich dann abfpielt, kommt allerdings nur feiten da zum Ausdruck, wo dem Kapitaliftentum fein öffentliches Organ durch die Gefetzgebung gegeben ijt: in den Generalverfammlungen der Aktiengefellfchaft; denn da macht fich das Schwergewicht der Einzclkenntnis, das doch nur beim Unternehmertum liegt, nach aller Regel dahin geltend, daß das Kapitalorgan nicht mehr denn eine |afage=lVlafchine genannt werden kann. Wohl aber gibt es dauernd Reibungen zwifchen den Banken, welche im Auffichtsrat ftändig das Kapitaliftentum ver= treten, und dem Vor(tand, der ja in erfter Linie das Unternehmertum darftcllt. Die Frage ift deshalb dahin zu ftellen: (tcht der entfcheidendc Einfluß auf die induftriellen Werke bei den Banken oder bei den Induftriellen? Die Antwort läßt fich einheitlich nicht geben. Sicherlich gibt es auch in der rheinifchen Montan=Induftric nicht wenige Unternehmungen aller Größenklaffcn, bei welchen die eigentlichen Maßgeblichkeiten auf der Bankenfeite fich befinden, und je dringender ein Werk die Kredithilfe der Kapitalvermittler braucht, um fo mehr muß fich fein Leiter in alle Dispofitioncn hineinreden laffen; man denke etwa an die Vorgänge, die dem alten Familienunternehmen des Feiten=Guilleaumefchen Carlswerkcs feine Selbftändigkeit gekoftct haben! Aber andererfeits i(t cbenfo unzweifelhaft, daß nicht nur die Betriebe, die allein von der Kapitalkraft ihrer Leiter getragen werden, fondern auch fehr viele Aktiengefellfchaften dem Einfluß der Banken fich zu entziehen gewußt haben. Ja, wenn nicht alles täufdit, ift der Bankeneinfluß in (tändigem Sinken, nicht etwa im Steigen begriffen. Entfcheidend i(t für die Stellung der Banken zur Induftrie nidit die einfache Tatfachc, daß das Unternehmen mit fremdem Kapital arbeitet und daß dies Kapital von den Banken repräfcntiert wird. Das find zunädift nur Rechtsgeftaltungcn, denen keineswegs notwendig der wirtfchaftliche Inhalt zu cntfprechen braucht. Entfcheidend i(t vielmehr, ob die Banken im Einzelfalle aus der Repräfentation des Kapitaliftentums eine wirkliche Gewalt abzuleiten vermögen, und das i(t nur dann der Fall, wenn der Zufammenhang zwifdien Unternehmung und Kapital ausfchließlich auf den Banken beruht. Man darf nicht vergeffen, daß die Rückficht auf das einmal invc(tierte Kapital den Untcr= nehmungslcitcr in feiner Selbftändigkeit nicht fondcrlich beeinträchtigt. Das wird mit der Dividende abgefpeift und hat nicht hcreinzureden, folange es damit zufricdengeftcUt wird. Zu dauernder Rückficht auf die Kapitalintereffen zwingt lediglich der Gedanke an etwaige Werkvergrößerungen und der Wunfdi, fich dafür den Weg zum Kapitalmarkt offen zu halten. Kann nun der Unter= nchmcr damit rechnen, daß er ein etwaiges Bedürfnis nach neuem Kapital auch ohne Beanfpruchung des Bankenkredits, direkt aus dem Kreifc der bis= hcrigen Aktionäre zu befriedigen vermag, dann ift die BankcnkontroUe nichts mehr als eine leere Form. Die verfchiedenen Banken pflegen fich um derartig fiebere Gefchäftsverbindung geradezu zu reißen, von beherrfchendem Einfluß aber um fo weiter entfernt zu fein. Die Vorausfetzung für eine folche Situation ifl aber nicht fo fehr eine hohe, als vielmehr eine regelmäßige Dividende, und kein Zweifel kann fein, daß gerade in der Montaninduftric die Regelmäßigkeit Die Rheinprovioz 1 8 1 5 1 9 1 5 . 25 386 VII. K. Wiedenfeld, Die Montanindustrie und ihre Annexe a der Gewinnverteilung durch die Kartellbildung und durch die Betriebskom= bination erheblich gevx/onnen hat. Wie fchon früher bemerkt, kennt die rheinifchc Schwerinduftrie den Begriff des Kapitalmangels überhaupt nicht mehr; ihr fließt in allem gewünfchten Umfang alles zu, was fic nur braucht. Damit i(l: dann aber dem Bankeneinfluß die widitigfte Unterlage entzogen: wer fich zur Kapitalanlage drängt, pflegt tatfächlidi — audi wenn er rechtlich mit foviel Befugniffen ausgeftattet ift wie der deutfche Aktionär — nicht gerade eine ent= fcheidende Stimme bei der Kapitalverwendung zu haben. Und auch fein Repräfentant kommt von vornherein in die Stellung geminderter Macht. Je mehr es alfo gelungen i(t und noch weiter gelingt, die Schwankungen des Warenmarktes nidit bis zur Gewinnverteilung durchdringen zu laffen, je (tärker vielmehr die Gedanken der Marktunabhängigkeit und Marktbe= hcrrfchung fidi durchfetzen, um fo ausgeprägter wird das Kapital im Einzel= unternehmen zu dem, was es feinem inneren Wefcn nadi ift: die Sachunterlagc für das wirtfchaftliche Wirken der Unternehmer, nicht die Machtunterlagc für das Kapitaliftentum felbft; Mittel zum Zwcdt, nicht Selbftzweck. Gerade in der rheinifchen Montaninduftrie hat demgemäß die gewaltige Größe der darin arbeitenden Kapitalien auch Unternchmernaturen von gewaltiger Kraft empor= wachfen laffen — Naturen, die ficherlich nidit immer bequem für ihre eigenen Werke find, und die fich erft recht nicht immer leicht in die allgemeinen An= fchauungen einpaffen laffen, die aber doch dank ihrer Knorrigkeit und Selb= ftändigkeit eine eigene Note in unfcre Kulturcntwicklung hineintragen und deshalb über ihre wirtfchaftliche Bedeutung hinaus als Kulturfaktoren anzu« fprcchen find. Literaturnachweis. C. Hartmann, Steinkohle und Eifen (VX/eimar 1856). N. Hocker, Die Groftinduftrie Rheinlands und Weftfalcns (Leipzig 1867). H. Thun, Die Induftric am Niederrhein und ihre Arbeiter (Leipzig 1879). O. leidels, Das Verhältnis der deutfchcn Großbanken zur Indu|trie (Leipzig 1905). K. Wiedenfeld, Das Perfönliche im modernen Unternehmertum (Leipzig 1911). O. Brandt«0. 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Peltzer, Gcfchichtc der Meffmgslnduftrie ufw. in Aachen und den Ländern zwifchcn Maas und Rhein (Aachen 1909). Cl. Vogelgefang, Die Aachener Nadelinduftrie (Heidelberg 1913). R. Lief mann. Die internationale Organifation des Frankfurter Metallhandcls (Weltwirt» fchaftliches Archiv, Bd. t. — Jena 1913). F. Wacchter, Die Kartcllbcftrcbungcn der Blei= und Zinkhütten Europas (Bergwirtfchaft» liehe Mitteilungen, 1913). Jubiläumsfchriften. Gebr. Stumm=Neunkirchen (1715) — 1806 — 1906; Matthias Stinncs, 1808 — 1908; Gutchoffnungshüttc, 1810 — 1910; Friedrich Krupp, 1812 — 1912; Feiten & Guilleaume, Carlswerk, 1826 — 1908; Aachener Hüttcn=A.=V. Rothe Erde, 1847 — 1907; Phönix, 1852 bis 1912; Harpener Bcrgbau=A.«G., 1855 — 1905; Burbacher Hütte, 1856 — 1906; Berg» bau=Verein, 1858 — 1908; WeißblechsVerkaufskontor, 1862 — 1912; Gelfenkirchener Berg« werkssA.sG., 1873 — 1913. VIII. Die Textilinduftrie von Hermann Lehmann. Erftes Kapitel. Allgemeiner Charakter der Textilinduftrie. Die fpinn= und NX'cbfähigcn Produkte des Pflanzen«, Tier« und in zurüdx'eiteres Moment nicht übergangen werden. Wie die Erzeugniffe dicfes um= faffenden Gewerbes in alle möglidien Verhältniffc eindringen, fo gilt ähnliches bezüglich der Bevölkerung, die an der Herftcllung der Stoffe beteiligt ift. Als Nebenbefdiäftigung in der Landwirtfchaft, als hausgewerbliche Tätigkeit, fodann als Befdiäftigung zahlreidicr Handwerke, endlich als indu|trielle Tätigkeit fehen wir die Textilgewerbe von Stufe zu Stufe fidi entwickeln. Die Zahl der in ihr tätigen IVlenfchen war in früheren Zeitläufen, fo lange noch mit der Hand gefponnen und am Hand(tuhl gewebt wurde und die Apparaturen der Bleicherei und Veredlung noch einfacher waren, ganz unzweifelhaft größer als heute und der Anteil an der Gefamtbevölkerung ein ganz anderer als in der Gegenwart. Die Jahrtaufende (tehengebliebene textilgewerbliche Technik bedurfte fehr zahl= reicher Hände. Aus dem allenthalben betriebenen Hausflciß und dem weit= verbreiteten Handwerk find die textilen Verrichtungen heute gänzlich oder zum mindeß:en faft ganz verfdiwunden und der Fabrikation zugeführt worden. Das vergangene Jahrhundert, in Deutfchland befonders feine er(te Hälfte, hat in diefer Hinficht große Änderungen und damit Erfdieinungen gezeitigt, mit denen fidj auch die rheinifche Textilinduftrie noch nidit vollftändig abgefunden hat. Mit der fortfchreitcnden Übertragung zahlreidicr Arbeitsleiftungen an die Mafchine ift im Fabrikbetrieb die menfdilidic Arbeitskraft in ungemeffenem Umfange entbehrlicher geworden, die Zahl der befchäftigtcn Hände ver= mindert und die ehedem in weiten Gegenden fich ausbreitende Verarbeitung der Spinn= und Wcbftoffe zu einer großen Zentralifation hindurchgegangen. Wenige Großgewerbe gibt es, die in der Zahl der tätigen Perfonen derartig abfolute wie relative Rüdx'ofür jetzt Offnungsmafdiincn (Opencr) und Sdilagmafchinen (Batteure) tätig find. Was heute Krcmpelmafdiinen verrichten, wurde durdi Kratzen mit fe(ts liegenden Ded und damit jederzeit verknüpften Population geraten, daß, wenn diefer nicht Luft fftmacht wird, diefe Orte gleich wollüftlgen Pflanzen In Ihrem eignen Saft erftickcn muffen." D Zweites Kapitel (1815-1879): Technische Fortschritte 407 gewerbliche Sonderjtellung eingenommen, wie fie in deutfchcn Landen nirgends wieder zu finden i(t. Alles das hat fich gewiß aus dem Zwang der Verhältniffe fo entwickelt, wie es geworden ift, aber auch aus den eigenartigen und vielfcitigcn Beziehungen, welche eine betriebfame Kauf man nfchaft in richtiger Würdigung textilgewcrblidier Bedürfniffe zu hegen und zu pflegen vermochte. Alle von außen her wirkenden Einflüffe, wie wir fie bereits für das linke Rheinufer gefchildert haben, finden [\(h hier zufammcn. In tcdinifdicr Hinfidit i(t erwähnenswert, daß im Jahre 1821 in Barmen der er(te Jacquardweb(tuhl ~ der andere in lVl.=Gladbach — auf Veranlaffung der Regierung aufgcftellt worden ift. Der erfte Jacquard=Band|tuhl wurde vom Handelsminifterium der Firma Fr. Mittelß:enfcheid & Co. zu Barmen überwiefen. Im Jahre 1844 folgte die Firma C. Th. Wuppermann jr. mit der Her(tellung von Eifengarn, einer bei» gifdien Erfindung, die für eine ganze Reihe Barmer Artikel als Halbfabrikat Verwendung finden konnte. Der Firma W. Bellinghaus & Co. ift im Jahre 1844 die Einführung mafdiineller Webjtühle zu danken, die von Bradford bezogen wurden. In den fünfziger Jahren folgt eine Reihe von VerbefTerungcn an den Flechtmafchinen, die die verfchiedenartigften Befatzartikel herzuftellen ver» mochten und die unter Verwendung der Dampfkraft eine erheblich gröf)erc Leiftungsfähigkeit erzielen konnten, fo daß die Barmer Artikel ihren inter» nationalen Ruf immer mehr befeftigten. Das öberfpannen und überziehen von Knöpfen mit Stoff, das früher mit der Hand betrieben wurde, erfolgte nunmehr auch mafchinell. Die Anfertigung metallener Befatzknöpfe hat fich hieran angc» fchloffen. Weitere Fortfehritte madite die Herftellung gummielaftifdier Gewebe, auch die Spitzenklöppelei hat nicht an letzter Stelle im Laufe der Zeit eine Reihe technifcher Fortfehritte zu verzeichnen gehabt. Trotz aller technifchen und fonftigen Errungenfchaften in der Verbcfferung der Betriebseinrichtungen und der Vervielfältigung der Fabrikate find aber die wirtfchaftlichen Krifen auch in diefcr Induftric nicht wirkungslos vorüber» gegangen. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in ftetem Wedifel treffen wir audi hier auffteigende und abfteigende Lagen, und fchon um 1850 trug das Gefdiäft nicht den Charakter der Beftändigkeit, fondern einer \''eränderlichkeit, die cnt= weder durch ausländifche politifche Ereigniffe herbeigeführt wurde, oder in Vor« gangen auf den Rohmaterialienmärkten oder in der Mode ihre Begründung fand. Die Verlängerungen von Handels» und Zollverträgen mit dem Auslande wurden ftets willkommen begrüßt, da man hiervon eine Stetigkeit der gc= fchäftlichen Verhältniffe erwartete. Indeffen i(t die Barmen=Elberfelder Induftric und im weiteren Sinne überhaupt die bergifche Induftrie von den (tarken Er» fdiütterungen, die mehrfach von den Weltmärkten des Auslandes ausgegangen fmd, foweit wenigftens Zahlungseinftellungen ein Urteil hierüber geftatten, weniger in Mitleidenfchaft gezogen worden. Auch die Zeiten nach den Gründer» Jahren gingen hier glimpflich vorüber. Kaleidofkopartig find die Bilder, welche die rheinifchcn Textilgewerbe in der Vergangenheit bieten, an unferem Auge vorübergezogen. Vielgeftaltig wie ihre Fabrikate war ihre Entwid^lung. Wer fich in die noch zerftreuten Quellen weiter vertiefen würde, möchte wahrnehmen, daß viele rheinifche Arbeit, viel emfiges Schaffen und Denken aufgewandt werden mußten, um die Neuzeit vor» zubereiten. Es waren äußerft bewegte Sturm» und Drangperioden durdizu» kämpfen. Der heiße wirtfchaftliche Kampf hat viele Opfer gefordert, aber auch 408 VIII. H. Lehmann, Die Textilindustrie a manche Erfolge gezeitigt. Viele kleinere und mittlere Exiftenzen hat die öber= Icgenheit der IVlafchincnarbeit gegen die Handarbeit, der Wettbewerb der aus= ländifdien gegen die inländifche Indujtrie vernichtet, wobei auch die größeren Unternehmungen nicht gefchont worden find. Indeffen dicfer Kampf ums Dafein hat auch die Kräfte geftählt, die neudeutfche Entwicklung, die traditionelle hohe Stellung der rheinifchen Textilgewerbe, in dem immer ftärker werdenden Konkurrenzkampfe weiter befe|tigt und fie zu großen Gegcnwartsleiftungen befähigt. Die zollgefchichtlichen Ereigniffe find in unferer überficht in den Hintergrund getreten, obfchon fie in weitgehender Weife die Zeitumjtände mitbeeinflußt haben. Selbftverftändlich haben auch gewerberechtliche und ver= kehrswirtfdiaftliche Wandlungen ihre Wirkungen ausgeübt. Eine erfdiöpfende wirtfchaftsgcfchichtliche Darjtellung könnte hieran nicht vorübergehen; denn es wäre manche weitere Aufklärung notwendig über den immerhin eigenartigen Konzentrationsprozeß, den die rheinifchen Textilgruppen fämtlich durchgemacht haben, und über ihre Stellung zu den übrigen Konkurrenzgewerben namentlich des nahen Auslandes. Ob es der Forfchung aber jemals befriedigend gelingen wird, die zahlreichen Urfachcn erfchöpfend zu entwirren bei einem Wirtfchafts= zweige, der beinahe (tctig in Bewegung war und in weldiem manches Ereignis in dem fortwährenden Fluß der Dinge untertaucht und in Vergcflenhcit gerät; bei einer Induftrie, deren Gefchloffenheit zwar räumlidi in die Erfd^cinung treten mag, die aber wie jede andere Induftrie unverßiändlich bleibt, wenn nicht ihr Verhältnis zu den übrigen Gliedern und ihre Stellung innerhalb des Gcfamt» gcwerbes mitbehandelt wird — das mag hier dahinge(tellt fein. Drittes Kapitel. Die Textilgewerbe in der Rheinprovinz 1879 — 1915. Die gegenwärtige Gcftaltung der rheinifchen Textilgewerbe geht auf das lahr 1878, den Eintritt des Deutfchen Reiches in eine gemäßigte Schutzzoll» Politik, zurück. In feinen hauptfächlichften Bejtimmungen trat der Zolltarif vom 15. Juli 1879, der diefe Epoche eingeleitet hat, am 1. Januar 1880 in Kraft. Die zuweilen geäußerte Anficht, daß er(t diefer Tarif den Schutzzoll für die deutfchen Gewerbe gebracht habe, i(t hinfällig, denn bereits die preußifchc Erhcbungsrolle bis zum Jahre 1831 0 und die verfchiedenen Vereins=Zolltarife vom Jahre 1848 ab enthielten für eine ganze Reihe von Tcxtilfabrikaten einen zunehmenden Schutz, während der Vereins=Zolltarif vom Jahre 1865 und die darauffolgenden Abänderungen den Schutzzoll zwar nicht ganz fallen ließen, aber doch wefcntlich verringerten. Der 1879er autonome deutfche Zolltarif brachte eine größere Untcrfcheidung und detailliertere Erfaffung für eine ganze Reihe von textilgewerblichen Einfuhrwaren, dabei zugleich eine immerhin in mäßigen Grenzen fich haltende Erhöhung der Zollfätze felbft, die indeffen unter Umftänden die hohen Sätze der Vercins*Zolltarife nicht erreicht haben. Der jetzt gültige Zolltarif vom 25. Dezember 1902 hat die alphabetifche Anordnung ') Zu vcrel. die tabellarifchen Zufammenfteilungen in Conrads )ahrbüchern für National« dkonomle und Statlftlk. Suppl. H.VII. Teil II. Jena 1881. Pof. 2 Baumwolle, 22 Leinen, 90 Seide, 41 Wolle. D Drittes Kapitel (1879—1915!: Schutzzollpolitik 409 der Einfuhrwaren zugunftcn einer fyftcmatifchen Gruppierung verlaffen und nach Maßgabe der veränderten wirtfchafthchen Bcdürfniffe in der Hauptfadie eine Korrektur der vielfach gegeneinander gerichteten Intereffcn von Weberei und Spinnerei gebracht. Auch die Rückficht auf die Erzielung beffcrcr Handels= vertrage hat bei den Erwägungen über die Erhöhung einzelner Zölle eine Rolle gefpielt. Alles in allem darf wohl die Behauptung aufgeftellt werden, daß diefer Tarif einen gemäßigten Schutzzoll der deutfchen Textilfabrikate aufrecht erhalten und daß er den Vlitbewcrb des Auslandes in gemeffenen Grenzen auch weiterhin ermöglicht hat. Was die gewerberechtlichen Zu[tände der letzten Jahrzehnte betrifft, fo haben nicht unerhebliche Einfchränkungen in der Befchäftigung jugendlicher und weiblicher Perfonen (tattgefunden und dadurch die übermäßige Dauer der Arbeitszeit, von welcher noch Thun (1879) berichtet, aus der Welt gefchafft. Die maßgebenden Änderungen haben nach dem erften königlichen Regulativ vom Jahre 1839 die Gewerbeordnungsnovellen der Jahre 1869, 1878, 1883, 1891 und 1908 gebracht. Eine allmähliche Verringerung der Arbeitsdauer für Kinder und jugendliche Perfonen fowie für die weiblichen Arbeiter ift damit verbunden gewefen, bis der heutige Zuftand erreicht worden i(t, der das gefetzlichc Verbot der Befchäftigung von Kindern in Fabriken unter 13 Jahren ausfpricht und eine Höchftbefchäftigung von fechs Stunden für dreizehnjährige zuläßt, falls fie nicht mehr zum Bcfuche der Schule verpflichtet find. Jugendliche Perfonen von 14 bis 16 Jahren dürfen höchjtens zehn Stunden täglich, ebenfo die weiblichen, bcfchäftigt werden, an den Tagen vor Feiertagen indeffen nur acht Stunden. Das ergibt für Kinder eine Wochenbefchäftigung von höchjtens 36, für weibliche von höchjtens 58 Stunden. Entfprechende Paufen zwifchen der Arbeitszeit forgen für die notwendige Erholung. Für männliche Arbeiter kennt das Gefetz keine Höchftdauer der Befchäftigungszeit, es fei denn, daß gefundheitsfchädlichc Betriebsverhältniffe eine Maximalbefchäftigung verhängen. Die Mehrzahl der jugendlichen und weiblichen Arbeiter i(t bei den Vorbereitungsarbeiten und in der Spinnerei befchäftigt. Es findet ein fortwährendes Handinhandarbeiten der einzelnen Arbeiterkategorien ftatt, und die naturgemäße Folge i(t die, daß durch die vorftehend gefchilderten Einfchränkungen auch eine längere Befchäfti= gung für die Männer erfchwert, wenn nicht überhaupt verhindert wird. In Ergänzung der gefetzlichen Fejtlegungen der Arbeitszeit haben nun auch noch freiwillige Maßnahmen der rhcinifchen Arbeitgeber, vornehmlich in den Arbeit= geberverbänden, eingefetzt, um die Arbeitsdauer in den einzelnen Bezirken einheitlicher zu geftalten. Während vor dem Jahre 1890 vielfach noch längere Arbeitszeiten beftanden, hat feit diefem Jahre der zehnftündige Arbeitstag immer weitere Fortfehritte gemacht. Er ift jetzt der Regelfall in der Rheinprovinz. Neuerdings gehen nun die Beftrebungen der Arbeitergewerkfchaften weiter, indem man an den Nachmittagen vor Sonn= und Fefttagen entweder einen noch früheren Arbeitsfchluß als 5 Uhr oder überhaupt die volle Arbeitsruhe ver= langt. Die hiermit notwendig verbundenen Produktionseinfchränkungen und Einbußen der Lohneinkommen follen durch höhere Arbeitslei(tung ausgeglichen, oder wenn dies nicht durchführbar fein follte, durch Er= höhung der Akkordlöhne herbeigeführt werden. Für folche weitgehenden fozialpolitifchen Forderungen hat die rheinifche Textilinduftrie nicht gewonnen werden können, da fie von der Überzeugung ausgeht, daß der jetzige rechtliche Zuftand fowohl für die jugendlichen und weiblichen Arbeiter als auch 410 VIII. H. Lehmann, Die Textilindustrie d für die männlichen Pcrfoncn durchaus angcnaeffen iß:. Berechtigte Ein» wände richten fich aber insbefondcrc darauf, daß eine internationale Vcr» (tändigung über wcnigftens annähernd übereinftimmende Arbeitszeiten mit den Wettbewerbsländern England und Belgien noch immer nicht zuftande gekommen i(t. Die nachgewiefen erhebliche Befchäftigung von Kindern in England, welches im Hinblick auf die (tarken gewerkfdiaftlichen Einflüffe als das fozial am weiteften fortgefchrittene Land hingeftellt zu werden pflegt, wie ebenfo die Tag und Nacht fa(t uneingefdiränkte Arbeitszeit in Belgien find Zuftande, die in der rheinifchcn Textilindu(tric bcfonders nachteilig empfunden werden. Auch in BerüdElberfcld ihre ganz beftimmten Charaktere angenommen hat, da jedes Indu(^riczcntrum feine befonderc Textilgruppc entwickelt hat. Wenn dem aber fo ift, fo muß es als gänzlich ausgefchloffen betrachtet werden, etwa D Drittes Kapitel (1879-1915): Verteilung der Arbeitskräfte 413 von einem höheren Bcobachtungspunkte aus ein zufammenfaffendcs Gefamtbild der rhcinifchen TcxtiHnduftric im letzten Jahrhundert zu entvjcerfen. Ein folcher Verfuch würde fofort an den tatfächlichen Verhältniffen fcheitern. Gewiß gehen die verfchiedenen Textilgruppen nicht völHg ifoliert nebeneinander her. So kann man davon reden, daß der Baumwollplatz M.=Gladbach in den letzten }ahr= zehnten nicht bloß wie früher die reine Baumwollverarbeitung hauptfächlich pflegt, fondern der Induftrie von Halbwollwaren des Aachener Bezirks fich mehr und mehr genähert hat, da Halbwolltuche namentlich für die Herrenkonfektion und beffere Artikel immer mehr hergeftellt werden. Auch davon kann gefprochcn werden, daß die Halbfabrikate, hauptfächlich die Garne, von den Stätten ihrer Her(tcllung in die anderen rheinifchen Verarbeitungsbezirke der Weberei ufw. hinübergeführt werden, daß alfo z. B. Kamm= und Streichgarne, die in Aachen, Eupen oderLennep hervorgebracht werden, in den benachbarten Bezirken zurVer= arbeitung gelangen. Ahnliches gilt von BaumwolU und Seidengarnen. Infofern hängen allerdings die Textilbezirkc miteinander zufammen. Darüber hinaus indeffen bewahrt jeder Bezirk feine Eigenart, wie denn auch ein Blick in die Fachpreffe und Tageszeitungen zeigt, daß die Berichte über den Stand der gcfchättlichen Lage von den genannten rheinifchen Hauptplätzen aus geliefert werden. Haben fich aber die tatfächlichen induftriellen Zu(tände der Textilgewerbe in der vor(tehenden Weife geftaltet, fo muß jetzt noch ein Überblick über den gegenwärtigen Umfang der BaumwolU, WolU und Seidenverarbeitung als folcher d. h. in ihrer Branchenzufammenfaffung gewonnen werden. Hierüber orientiert die folgende tabellarifche Uberficht. Im Jahre 1907 zählte man alfo 943 Baumwollbetriebe, 1051 Betriebe für fogenannte „Barmer Artikel", 2720W0IU und Halbwollbetriebe und 8023 Seiden« betriebe. Hierbei i(t zu berückfichtigen, daß die für die Barmer Artikel tätige Spinnerei, Weberei ufw. den anderen Gruppen zugerechnet werden mußte, da eine Trennung in der Richtung der weiteren Verarbeitung der Garne nicht durchführbar i(t. Unter diefem Vorbehalt find auch die folgenden Ziffern zu verftehen, wenn wir hervorheben, daß in der Reihenfolge ihrer Bedeutung auf= (teigend die Induftrie der Barmer Artikel (im folgenden kurz Barmer Induftrie benannt) 14 804, die Baumwollindu(trie 39 637, die Seidenindu(trie ^2 650 und die WolU und Halbwollindu(trie (einfchließlich Teppich= und Filzfabrikation) 54 426 Perfonen befchäftigte. Rund 70 000 weibliche Perfonen entfallen auf die WolU, Seiden= und Baumwollgewerbe. Auch die Größenklaffen der Betriebe intereffieren, wenn wir fehen, daß auf 8023 Seidenbetriebe 7592 Kleinbetriebe (bis 10 Perfonen) entfallen, daß 394 Betriebe bis 50 Perfonen, 45 bis 1000 Per= fönen befchäftigen. In derWolU und HalbwoUindujtrie waren von 2720 Betrieben 2110 Kleinbetriebe, 553 mittlere und 57 größere Betriebe; in der BaumwolU induftrie von 943 542 Klein=, 352 MitteU und 49 Großbetriebe. In der Ver= Wendung motorifcher Kräfte (teht an erjter Stelle die Baumwollinduftrle mit 65 507 Pferdes und 7 767 Kilowattftärken. Es folgt die Wollindustrie mit 43422 bczw. 2625, die Seideninduftrie mit 22250 bczw. 4854; die Barmer Induftrie mit 7807 bezw. 1619 Stärken. 414 VIII. H. Lehmann, Die Textilindustrie o oa J3 tri tt t9pU9.VU9A aqaujag I oft oo . <0 OO ^ o i«-i Q 00 r^ VO ^ CM CM ^ CM K> O so r^ O O vO >/-| IT) 1/-1 \o s aqaupq^dnei^ jap m^z ^ c^ •o O ii-i 00 SS U-i CM g ^ 4- A CM 1 " 00 cf\ D Viertes Kapitel: Produktionsfaktoren Natur, Kapital, Arbeit 415 Viertes Kapital. Die Produktionsfdktoren Natur, Kapital und Arbeit. Im Zufammcnhang mit dicfcn (tatiftifdicn Darlegungen erhebt fich die Frage, in weldiem Verhältnis die beiden Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit in der rheinifchen Tcxtilinduftric wirkfam werden, audi wohl der Produktions= faktor Natur, fofern man das Rohmaterial hierunter verjtchen will. Was zunädift das letztere betrifft, fo würde es aus der wiederholt erwähnten Krefelder Statiftik möglich fein, die dafelbft zur Verarbeitung gelangenden Mengen von Seide, Baumwolle ufw. zu erkennen. Es fehlen die Aufzeichnungen über den Umfang der in den anderen Textilgruppen verarbeiteten Rohmaterialmengen, bei denen auch die Kunftwolle und Kunp:fcide in BerüdKöin «8i2 Schmer & Co.-Koblenz 1815 R. J. Goldfchmidt-Koblenz 1818 Theodor Zurhellc & Co.«Aachcn 1820 Wilh. u. Conrad Waldhaufen-Effen i8a2 joh. Eg. BeißelaEiipen gclöfcht 1912 1910 kommanditiert vom Barmcr Bankverein (1896 in Wcftdeutfche Bank \^i904 diefe an Schaaffhaufen B.-V. 1895 an Berg.-Märk. Bank 1848 Schaaffh. Bankverein A.bG. Eingegangen nach 100 Jahren 1913 kommanditiert von der Intern. Bank Luxemburg Eingegangen etwa 1890 Eingegangen nach 1896 Speditions« und Lagerhaus-A.-G. 1911 in die zweite Koblenzer Bank 1898 in die erfte Koblenzer Bank Eingegangen 1900 Spüter Gebr. Hüffer & Co., einge« gangen vor 1896 Dit htut« noch bcfUhcndcn rirmen Ond durch fetten Druck der Jahreszahl hervorgehoben. II. A. Schaaffhausen'scher Bankverein 1848 527 Gründung Späteres Schicksal 1822 Gebr. Fifchers Barmen 1826 A. & L. CamphaufcnsKöIn 1829 Hermann Ifaak=Ruhrort 1867 in Barmcr Bankverein 1903 an Schaaffhaufen B.=V. Eingegangen nach 1880 Von 1830 bis 1848 wurden noch 24 weitere Bankhäufcr gegründet, von denen die bekannteren hier genannt feien. 1833 Gu(tav HanausMülheim Ruhr 1834 Gebr. Röchling=Saarbrückcn 1838 V. Bcckcrath & Hcilmann= Krefeld 1840 Poppe & Schmölder=VX^efcl 1841 Simon Hirfchland=Effen 1845 Levi Hirfchland=Efren 1897 in Rheinifche Bank 1901 an Berg.sMärk. Bank 1905 an Effcner Kreditanftalt Die heute noch beftehenden Firmen find durch fetten Druck der Jahreszahl hervorgehoben. II. Die Gründung des A. Schaaffhaufen 'fchen Bankvereins. Das Jahr 1848 follte anders, als man es lange hin und her erwogen hatte, dem Rheinland feine große Aktienbank bringen. Bankprojekte fdiwebten mandierlei: Hanfemann hatte zur Hebung von Aadien die Gründung einer ,,Nicderrhcinifchen Bank'' mit den Aufgaben einer Diskonto= und Depofitenbank 1828 zu fördern verfucht. 1845 cntftand in Köln der PlaneinerNotenaktienbank mit fünf Millionen Taler Kapital, den neben anderen der zu phantaftifchen Projekten neigende Dr. F. Schulte, der Gründer der Deffauer Nationalbank, und der folidern Unternehmungsgei(t bewährende G. Meviffen vertraten. Indeffen war die Regie* rung des vormärzlichen Preußens im ganzen einer freien Bewegung auch auf dem Gebiet des Aktienbankwefens abgeneigt. Sie fuchte das anerkannte Bedürfnis durch die 1847 betätigte Gründung der „Prcußifchen Bank" zu befriedigen. Um fo mehr war die Induftric ebenfo wie der Immobiliarkredit auf die Unter= ftützung durch die Privatbankiers angewiefen, deren ftarken Einfluß man aber als „Gelddespotie" empfand und anklagte. Unter den Kölner Bankhäufern hatte Abr. Schaaffhaufen auch in den fchlechten Zeiten feit der Mitte der vierziger Jahre eine führende Stelle zu behaupten gewußt. Die vom Ausland kommende Erfchütterung des Wirtfchafts= lebens traf zufammen mit der inneren politifdien Erregung; fo wurde das Revolutionsjahr 1848 zugleidi zu einem Jahre des wirtfchaftlichen Zufammen» bruchs. Am 29. März 1848 ftellte das Bankhaus Abr. Schaaffhaufen feine Zahlungen ein. Der damalige Finanzminijter Rother hatte auf Meviffens Ver= anlaffung (taatliche Unterftützung bewilligt, aber fic kam zu fpät. Die fchwere Schädigung des rheinifchen Wirtfchaftslebens, die mit einem völligen Zufammen» bruch Schaaffhaufens verbunden gewefen wäre, wurde durch zwei Maßnahmen wenn auch nicht völlig verhindert fo doch erheblich gemindert, die wefentlich auf Hanfemann, den rheinifchen Kaufmann und preußifchen Finanzmini(ter des Jahres 1848, zurückgehen: die Gründung der Darlehnskaffen und die Rekon= (truktion der Firma Schaaffhaufen als Aktiengefcllfchaft unter Beteiligung des Staates. Auch in Köln wurde dem Kontor der Preußifchen Bank eine Darlehns= kaffe angegliedert, weldie durch Ausgabe von unverzinslichen Kaffenfcheinen, die vom Staat gewährlei(tet waren, die Mittel erhielt, um gegen Verpfändung 528 X. W. Kahler, Handel, Bankwesen, Versicherungswesen a von Waren und Schuldvcrfchrcibungen an den Handcls= und Gewerbcitand Darlehen nicht unter loo Talern zu gewähren. Als 1851 deren Auflöfung in Ausfidit genommen wurde, war die Stimmung in Köln dagegen, weil ihre Wirk« famkeit als fcgensreich empfunden ward. Trotzdem endete damals ihre Wirk= famkcit, bis fie in den Kriegsjahren 1866 und 1870 wieder als Not(tandsmaß= nähme auftauchten. Die Rekonftruktion der Firma Abr. Schaaffhaufen, welche nur feftgefahren, aber nidit überfchuldet war, ging nach Hanfemanns Plan fo vor fich, daß aus dem Gefchäft eine — nach damaligem Recht vom König zu beßiätigende — Aktiengefellfchaft auf folgender Grundlage gebildet wurde: Die Gläubiger übcr= nahmen für den Betrag ihrer Forderungen Aktien; für die Hälfte derfelben übernahm der Staat die Garantie; diefe garantierten Aktien follten allmählich durch Auslofung amortifiert werden, fie machten ungefähr den vierten Teil des auf acht Millionen feftgefetzten Aktienkapitals aus. Zur Wahrnehmung der Intereffen des Staates follte einer der Direktoren vom Staat ernannt werden. Hanfemanns Wahl fiel auf Gu(tav Meviflen, der nun unter der Mitarbeit des bisherigen Inhabers W. L. Deichmann und von Viktor Wendel(tadt das Gefchäft neu organificrte und bis 1857 Direktor blieb. Nachdem er aus diefem Amt als Direktor ausgefchieden war, leitete er den Bankverein als Vorfitzender des Adminiftrationsrates bis 1875, wo ihn tiefgehende Meinungsverfchiedenheiten mit der Direktion über die Grundfätze der Gefchäftsführung dazu bewogen, fich ganz von dem Bankverein zurückzuziehen. In diefer, fa(t ein Menfchenalter währenden Periode aber kann man die Politik der führenden Rheinifchen Bank, deren Rolle der Bankverein fich zu fiebern wußte, als einen Ausfluß der Meviffcn= fchen Anfchauungen über die Aufgaben der großen Aktienbanken anfehen. III. Die rheinifchen Banken 1848—1877. Die Gcfchichte des Schaaff= haufen'fchen Bankvereins ift in diefer Periode nicht einfach die Gcfchichte des rheinifchen Bankwefens und noch weniger idcntifch mit der Entwicklung des Gründungs= und Emiffionsgefchäfts in der rheinifchen Induftrie. Wohl aber kann man fagen : Wenn es dem Bankverein nie an Eigenart gefehlt hat — damals gelangten viel ftärker als fpäter in feiner Gefchäftsführung eigenartige Grundfätze zur Durchführung, die feine Heraushebung aus der Zahl der anderen Bankhäufer rechtfertigen und ihn als befondcrc rheinifchc Hauptbank neben den auswärtigen Banken und den rheinifchen Bankiers erfcheincn laffen. Die Vorausfctzungen für eine ausgedehnte Wirkfamkeit eines kapitalkräftigen Bank= gcfchäfts waren für das nächfte Menfchenalter günftig wie vorher nie. Auf dem Gebiet des Wirtfchaftslebens gelangte der Grundfatz der Bewegungsfreiheit, den man dem politifchen Leben verfagte, zu gefteigcrter Anwendung. Das Handels^ gefetzbuch und die Abänderung der Berggefetzgcbung von 1851 — 1865, die Gewerbeordnung und fchlicßlich die Aktiennovelle von 1870 waren die Etappen auf dem Wege zur liberalen Wirtfchaftsgcfetzgebung des Deutfchen Reichs, welche in den fiebziger jähren durch die neue Regelung des Geldwefens und durch das Rcichsbankgefctz von 1875 zum vorläufigen Abfchluß für das Geld« und Krcditwcfcn kam. Diefe Gun(t der Vorausfetzungen konnte der Bank» verein zu feiner eigenen Kräftigung und zur Pflege des induftriellen Gefchäfts ausnutzen. Im Rheinland fclbft wurden in diefer Zeit (1848 1877) als Aktienbanken oder Kommanditgefcllfchaften gegründet: n. Die rheinischen Banken 1848—1877 529 Gründung Schicksal 1887 liquidiert 1898 an B.«M. B. 1904 I.sG. mit Berliner Diskontogef- 1904 an Rh.-W. D.-G. 1901 an Rh.-\X/. D.-G. 1897 I.>G. mit Deutfcher Bank, 1914 verfchmolzen 1855 Kölner Privatbank (Notenbank) 1865 Gladbacher Bankverein 1867 Barmer Bankverein 1871 Rhein. Weftf. Wechfler- u. Kommiffions-Bank Köln 1871 Bank für Rheinland u. Weftf alen» Köln 1871 Bergifch Märkifche Bank«Elbcrfeld 1872 Aadiener, fpäter Rhein. .VX'eftf. Diskontogef 1872 Rhein.-Wcftf. GenoffenfchaftsbankaKöln 1872 Rheinifche Effektenbank» Köln 1872 Elberfelder Diskonto» und Wechfler»Bank 1872 Elberfelder Handclsgcfellfchaft 1872 Effener Kreditan(talt (aus Ludwig von Born) 1873 Mittelrhcinifche BanksKoblenz 1874 DuisburgeRuhrorter Bank (aus Th. Böninger Söhne) 1874 Aachener Bank für Handel und Gewerbe 1875 Bonner Bank für Handel und Gewerbe AuBcrdcm konnte ich fc(t(tcllcn, daß in dicfcr Zeit etwa 85 Privatbank« gefdiäfte gegründet wurden, von denen heute kaum zehn noch bc|tehcn. Von jenen älteren Bankgefchäften feien genannt: 1875 zufammengebrochen 1874 liquidiert 1885 liquidiert 1903 l.-G. mit B.-M. B. 1903 1.>G. mit Schaaffhaufen 1902 mit Deutfcher Bank, 1909 Filiale der Effener Kreditanf^alt 1908 zufammengebrochen Gründung Schicktal 1857 J. L. Eltzbacher & Co.«Köln 1858 A. Levy-Köln 1858 Deichmann Duisburg 1860 Carl Später» Koblenz 1862 A. Molenaar & Co.«Krefeld 1862 ]oh. OhligfchlägersEfchweiler»Aachen 1862 Peters & Co.-Krcfeld 1863 Ludwig von Born 1867 Rob. Suermondt & Co. »Aachen 1869 Gebr. Beer»Effen 1871 Sdiweitzer & Co.»Aachen. Die heute noch beftehenden Firmen find durch 1914 liquidiert 1914 kommand. d. Rh.sW. D.>G. 1873 Prov.«Disk.»Gef. 1904 an Berg.»Märk. Bank 1906 Rhein.« Weftf. Diskontogef. [1880 Niederrh. Kreditanft. 11904 SchaafFh. Bankv. 1872 in Effener Kreditanft. 1901 liquidiert 1888 an Berg.»Märk. Bank fetten Druck der Jahreszahl hervorgehoben Der Gcgcnfatz zwifchcn Privatbankier und Aktienbank ift kein abfolutcr. Die Privatbankiers bcteihgen fich an der Gründung der auswärtigen und cin= heimifchen Aktienbanken; fie fühlen, daß vor allem gegenüber dem Gründungs= gefdiäft, vielleidit audi dem Emiffionsgefchäft ihre Kräfte nidit mehr ausreichen; auch wenn die alten Schwierigkeiten des Zahlungsverkehrs ihnen keine Aufgaben mehr ftellen, bleiben ihnen in der alten Art der Bankgefchäfte, der Pflege des induftriellen Kundenkredits, in dem Diskontogefchäft und dem Kontokorrent, in derVermögensverwaltung gewinnbringende Tätigkeiten, und die Vermittlung des Börfenfpekulationsgefdiäfts der Kundschaft gibt ihnen mit der wachfcnden Bedeutung der Kapitalanlage und Spekulation in Effekten und Fonds neue Tätigkeitsgebiete. Mittelbar hängt alfo auch in diefcr Periode das Bankgcfchäft des Privatbankiers und der Aktienbank eng zufammcn. Die Rheinprovinz 1815 — 1915. 34 530 X. W. Kahler, Handel, Bankwesen, Versicherungswesen a Der Wettbewerb der großen außerrhcinifchcn Aktienbanken macht fich er|t fpäter fühlbar. Die Berliner Diskontogefellfchaft, von David Hanfemann 1851 ins Leben gerufen und bis 1864 von ihm geleitet, griff von 1856 an in die indu|triellen VerhältnilTe VX/e(tdeutfchlands ein, dabei von anderen Gefchäfts» grundfätzen ausgehend, als MevifTen fie vertreten vwiffen vx/ollte. Die Darmftädter Bank (Bank für Handel und Indu(tne) wurde dagegen 1853 unter Mitwirkung MevifTens und des Sdiaaffhaufen'fdien Bankvereins nadi defien Mujter gegründet, und Mevi(Ten (tand von Beginn bis 1877 an der Spitze ihrer Verwaltung. Nach- dem fein Plan, im Schaaffhaufen'fdicn Bankverein die Vereinigung von Noten« bank und Spekulationsbank durchzuführen, daran gefdieitert war, daß die Regierung 1855 die Kapitalerhöhung und das Privileg der Notenausgabe ablehnte, verwirklichte er feine Gedanken in der gemeinfam mit Abr. Oppenheim und dem Frankfurter Bankhaus R. Erlanger vollzogenen Gründung der Internatio= nalen Bank in Luxemburg und fieberte Köln den Vorzug eines Notenbank« inftituts in der „Kölnifdien Privatbank", die von 1855 bis 1887 als Notenbank beltand und in deren Leitung die Privatbankiers mit ihm zufammen arbeiteten. Jedenfalls war durch diefe Gründungen und ihre Leitung durdi Meviffsn dafür geforgt, daß von diefer Seite keine Störungen, fondern höchjtens geeignete Mit« Wirkung für Sdiaaffhaufen zu erwarten war. So beteiligte fich denn die Darm= (tädter Bank an den verfchiedenen rheinifchen Eifenbahnfinanzierungen, die der Bankverein vornahm. Die Grundanfchauungen Meviffens für den Betrieb des induftriellen Bank« gefchäfts und die Gründungstätigkeit, die er natürlich am fchärf|ten bei dem Kölner Inftitut verwirklichen konnte, waien im wefentlichen folgende. Nachdem die Vereinigung von Noten« und Spekulationsbank abgelehnt war, wollte er in erlter Linie nicht mit fremdem, fondern mit dem eigenen Kapital der Bank diefe Gefchäfte durdiführen. Daher lehnte er jede bewußte Erleichterung des Zuftrömcns kurzfri(tiger Depofiten ab und vertrat für feine beiden Banken die Feftlegung längerer Kündigungsfriften und niedriger Zinsfätze „im Intereffe vollkommener Sidierheit unferes Inftituts". In einer Gencralverfammlung des Schaaffhaufen'fchen Bankvereins 1853 fprach er fich folgendermaßen aus: „Die Direktion des Bankvereins hat es (tets als eine ihrer wefentlidi|ten Aufgaben betrachtet, mit aufmerkfamem Auge die Bedürfniffe und die Mittel der Rhein« lande zu beobachten und im geeigneten Momente die Initiative zu gefunden und lebensfähigen großen induftriellen Schöpfungen zu ergreifen. Jedem großartigen Unternehmen, das fie bei fo forgfältiger Prüfung als auf folidcn Grundlagen beruhend, als wefentliche Bedürfniffe des Landes befriedigend anerkannte, ijt die Direktion des Bankvereins mit Sympathie und tätiger Mitwirkung entgegen- gekommen. Sie ift dabei von dem Grundfatz ausgegangen, daß es die Aufgabe eines großen Bankinftituts fei, nicht fowohl durch eigene große Beteiligung neue !ndu(triczweige ins Leben zu rufen, als durch die Autorität ihrer auf gründlicher Prüfung und Einflcht beruhenden Empfehlung die Kapitalijten des Landes zu veranlaffen, die müßigen Kapitalien folchen Unternehmungen zuzuwenden, welche, richtig projektiert, wirklichen Bedürfnijfen entfprechen und, mit der Garantie einer fachkundigen Leitung verfehen, eine angemeffenc Rentabilität In Ausflcht ftellen." Es gelang dem Bankverein, 1852 die Rückzahlung der vom Staat garan« ticrtcn Aktien lange vor der urfprünglich in Ausficht genommenen Zeit zu bewirken und [Ich fo eine größere Unabhängigkeit von der Regierung zu ßchern. D II. Die rheinischen Banlien 1848—1877 531 Der Umfatz, der vor dem Zufammenbruch 50 Millionen Taler betragen hatte, [tieg von 1849—1856 von 34auf 82 Million enTaler. Neben den Bankgründungen kommen die großen Kölner Verficherungsgefellfdiaften, die Aktiengefcllfchaftcn oder Kommanditgefellfchaften in den verfdiiedenen Bergwerksgebieten für Eifen= und ]Vletall=Hüttenwefen und Steinkohlenbergbau, für die Textilinduftrie und den Mafchinenbau zur Ausführung. Die Rheinifchc Bahn wird durch die anfchließenden Linien nach Bonn und Krefeld erweitert. Endlich gelingt die Loslöfung von dem großen Immobiliargefdiäft des alten Haufes in der Zeit von 1857—1862. Von unmittelbarer Beteiligung an ausländifchen oder inländifchen Staatsanleihen und einer bewußten Tendenz über das rheinifche Wirtfchafts= gebiet hinaus i|t zunächft nicht die Rede. So findet fich der Bankverein auch nidit in dem er(tcn Preußen=Konfortium, während Sal. Oppenheim jun. & Co. ihm angehörte. Wohl aber madite durch diefe Tätigkeit von Kölner Banken der Einfluß englifchen und franzöfifch=belgifchen Kapitals in der Berg= und Hütten= induftrie keine Fortfehritte. Im Vergleich mit der Berliner Diskontogefellfchaft (1857: 39 Millionen; 1872: 60 Millionen) und der Darmjtädter Bank (1857: 43 Millionen; 1872: 34 Millionen) wurde das Aktienkapital des Bankvereins niedriger gehalten, 1867 mit 15,6 Millionen, 1872 mit 48 Millionen Mark. Bis 1871 blieben Mevijlens Grundfätze in feiner Verwaltung bindend und ermög= lichten insbefondere in den kritifchen Jahren 1857, 1866 und 1870 die Fort» führung vieler indujtriellen Unternehmungen durch befonnene Fortgewährung laufender Kredite. Man nahm bei Neugründungen die Bankmittel nur fehr mäßig in Anfpruch, hielt die fremden Gelder flüffig und entwickelte eine fe(te, dauernde Kundfchaft in allen verfchiedenen Induftriezweigen. Doch der Taumel der Milliardenjahre erfaßte auch den Bankverein. Zunächjt ging man an die Kommanditierung auswärtiger Firmen, in Berlin Leo Delbrück & Co., in Paris und in Hamburg weniger glücklich bei Firmen, die den Erwar= tungen nidit cntfprachcn und zu bedeutenden Verlu|ten führten. Am tiefften fchnitt das Verhältnis zu der 1872 gegründeten, 1875 zufammengebrochenen Rheinifchen Effektenbank ein. Der Verfuch, neben der Erweiterung des Grün= dungsgefchäfts in den Kreifen des rheinifchen Bergbaues und der rheinifchen lndu(tric Auslandsgefchäfte zu betreiben und Terraingefchäfte aufzunehmen, die 1848 fo viel zum Zufammenbrudi beigetragen hatten, erfchütterte die Grund» lagen des Unternehmens, fo daß 1877 eine Zufammenlegung des Kapitals von 48 auf 36 Millionen Mark als einziger Ausweg übrig blieb. Zunächft kehrte man wieder zur Pflege des laufenden Gefchäfts zurück, konnte fchon im gleichen Jahr von einer Kölner Bank den beffern Teil ihrer Debitoren übernehmen und widmete fidi der Gefundung der mancherlei vom Bankverein abhängigen gewerb= liehen Etabliffemcnts. Aber fchon war der Bankverein geraume Zeit nidit mehr die einzige rhei= nifdie und nicht die einzige im Rheinland arbeitende Großbank. Die Berliner Diskontogefellfchaft hatte im Ruhrkohlenrcvier bei den Hütten und Zechen, im Wurmrevier und an der Saar ihre alten Beziehungen ausgebaut und war damit zum einflußreichen Konkurrenten des Bankvereins geworden. 1871 verfucht fie, mit der Provinzialdiskontogefellfchaft auch felbft im Bankwefen des Rheinlands Fuß zu faffen. Th. Böninger & Söhne in Duisburg werden in eine Zweigftcllc verwandelt, die Bergifdi=Märkifdie Bank und die Aachener Diskontogefellfchaft treten in ein enges Verhältnis zu ihr. 1878 fchließt diefer Vor(toß mit der Liquidation jener Gründung ab. In entfchiedencr Betonung des Gründungs= 34* 532 X. W. Kahler, Handel, Bankwesen, Versicherungswesen gefchäfts entfalteten fidi in Köln felblt, in Koblenz, im Wuppertal, in EJTen, in Aachen Aktienbanken, die freilidi fdinell das Übermaß ihrer Ausdehnung und ihres fpekulativen Übereifers mit erheblidien Kapitalreduktionen büßen muffen, foweit fie nidit wie die oben ervjcähnte Rheinifche Effektenbank einfadi von der Bildflädie verfdiwinden. Vier der neuen Banken mußten ihr Kapital von zufammen 58,5 Millionen auf 26 Millionen Mark herabfetzen, alfo in noch viel ungün(tigerem Verhältnis als der Bankverein. IV. Die Konfolidierung der Banken 1877 — 1900. Der Typus der Aktienbank, wie er in der Periode des langfam fich fejtigenden Auffdiwungs von 1877—1900 im Rheinland vor allem in der Pflege der indu(triellen Beziehungen fich bildet, (teilt in verkleinertem Maßftab die Verbindung der Gefchäftspraxis der Berliner Diskontogefellfchaft und der 1870 gegründeten Deutfdien Bank dar. Depofiten= und Spekulationsbank wird allmählidi audi der Schaaffhaufcn'fdic Bankverein. Das Eifcnbahngefdiäft, das noch in den fiebziger Jahren feine Bedeutung hatte, i|t mit der großen Aktion der Ver(taatlidiung der preußifchcn Bahnen Ende der fiebziger Jahre fo gut wie ausgefdialtet. Dafür tritt das Klein» bahnwcfen, die Elektrizitätsindu(trie, die diemifdie Indujtrie mehr in den Vorder= grund und neben die alten, fidi weiter entwickelnden Zweige des Wirtfdiafts» lebens. Die Zahl der Banken wädift: von 1877 — 1900 find neu gegründet 21 Aktienbanken, von denen heute noch fedis beftehen. Dazu gefeilten fich die aus Kreditgenofjcnfchaften fich umgründenden, rein lokalen Zwecken des kleinen Handels« und Gewcrbeftandes dienenden Volksbanken. Vor 1877 waren gegründet deren 9, von 1877 — 1897 32, zufammen 41, von denen 27 noch heute be|tehen. Audi die Zahl der Privatbankiers wächjt; etwa 60 neue Firmen aus diefer Zeit ließen fich fe(t(tellen, von denen etwa ein Drittel noch heute befteht. Aber diefe Zahlen werden in den Schatten ge(tellt durch die Ausdehnung des Gefchäfts und der Kapitalmacht jener Aktienbanken, die aus dem Läuterungs» prozeß der 1873er Krifis gcfeftigt hervorgegangen waren. Sechs diefer Banken, die 1877 ßin aktives Kapital von rund 38 Millionen hatten — alfo zufammen cbenfoviel wie der Bankverein — hatten 1901 ein Aktienkapital von 158 Millionen Mark, während der Bankverein das feinige auf 100 Millionen Mark gebracht hatte. Rheinifche BaniM. B. 1901 an Rh.-W. D.-G. B..M. B. Köln Allg. Elf. B. in Oberftein Berlin Internat. B. Johann in St. I.-G. mit Rh.-W. D.-G 1904 I.-G. mit B.«M. B., 1912 mit Eff. Kreditanft., 1915 mit diefer verfchmolzen Noch behält der Privatbankicr feine Bedeutung; zwar übernehmen fchon damals mandie der neuen Aktienbanken als Anknüpfungsmittel alte Bank« gcfchäften die Bergifdi=1Vlärkifchc Bank übernimmt 1871 das alte Bankhaus A. de Weerth &Co. in Elberfeld, 1872 übernimmt die Ebener Kreditan|talt die Kundfchaft von Ludwig von Born, während die Firma nodi einige Zeit be(tehen bleibt. Peters & Co. werden 1880 in die Niederrheinifdic Kreditan(talt umge« wandelt. Aber viele alte Häufer bleiben auch jetzt noch felb(tändig und vermögen ihren weitausgebreiteten Gefchäftsbereidi fich zu erhalten, um fo mehr, als fie, wie wir früher fe|t|tellten, durch ihre Beziehungen und Beteiligungen auch in den Verwaltungen der Aktienbanken und induftriellen Werke eine Rolle fpielen. Und daneben bleibt dem Bankier die Pflege des rein lokalen Gefdiäfts, die Vermögensverwaltung und die Beratung des Anlage fuchenden Publikums, das Wertpapicrgefchäft auf fremde Rechnung, insbefondere in den nidit notierten Werten und dem gerade in Weftdeutfchland fdion früh befonders verbreiteten Gefchäft in Kuxen; den induftriellen Kredit vermag er in genauer Anpaflung an individuelle und lokale Verhältniflc durch Blankokredite zu pflegen, und es bleibt ihm auch das laufende Gefchäft im Scheck= und Wechfeldiskontierungs« und Kontokorrentverkehr. Seine Stellung an den Provinzbörfenplätzen gibt ihm Gelegenheit zu unmittelbaren Börfengefchäften ; dem Provinzpublikum dient er als Vermittler für die Berliner Börfe, nicht immer in volkswirtfchaftlich erwünfchtcr Weife. So bilden und halten fich zahlreiche kleinere Bankgefchäfte, die vielfach in der letzten Periode, die wir darzu(tellen haben, zu einem begehrten Objekt der nach Ausdehnung (trebenden größeren Provinzbanken werden, weil fie in deren wohlgepflcgten Kundenkreifen geeignete Stützpunkte für ihr Depo« fitcns und Kontokorrentgcfdiäft erwerben können. 534 X. W. Kahler, Handel, Bankwesen, Versicherungswesen n Der Angelpunkt des induftriellen Bankgefdiäfts liegt im Kontokorrent« verkehr mit Kreditgewährung. Aus dem Bedürfnis der Unternehmungen nadi Erweiterung des Betriebes oder technifcher Umge(taltung folgt das Gründungs« und Emiffionsgefdiäft, neben der Ausgabe von Aktien auch die der Indu(trie= Obligationen. Die mannigfaltigften Formen der Kombination, Fufion, Intereffen« gemeinfdiaft werden unter Führung der Banken ausgebildet. Läßt fich audi zunäch(t noch eine gewi^e Arbeitsteilung nach Induftriebezirken und Induftricn beobachten, fo verwifchen fich diefe Unterfchiede fchnell, und in derAuffchwungs« Periode am Ende der neunziger Jahre vollendet fich die Gruppierung der Induftrie nach Bankgruppen; das einzelne Unternehmen wird vollß:ändig und dauernd in die Einflußfphäre einer Bank oder Bankgruppe einbezogen, die Banken pflegen nidit mehr nur bcftimmte Arten des Bankgefchäfts, fondern fic (trebcn danach, fämtlidie Bankgefdiäfte bc(timmter Kunden zu übernehmen. Der wachfende Einfluß der Berliner Großbanken tritt deutlich hervor. Aber man würde fehlgehen in der Annahme, daß fdion in diefer Periode das rheinifche Bankwcfen und die rheinifdie Induftrie einfach von Berlin aus geleitet würden. Zunächft fällt dabei ins Gewicht, daß der Sdiaaffhaufen'fche Bankverein, obwohl er 1891 eine Filiale in Berlin erriditet, damit keineswegs — etwa ähnlich wie die Dresdner Bank — ein Berliner Haus wurde; Leitung und Sdiwerpunkt bleiben rheinifch. Außerdem aber gehört es zu den notwendigen Vorausfetzungen des induftriellen Kreditgefchäfts, wie es fchon damals gepflegt wurde, daß die Bankleiter audi perfönliche Fühlung mit der Induftrie halten, daß fie die Möglidi« keit perfönlichcn Verkehrs, eigener Anfchauung und fchneller, voll verantwortlicher Entfchlüffe in den Fragen haben, weldie nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen, fondern, wie die Kartellfragen, auf die ganze Induftrie wirken. Das kann ein Filialleiter nicht leiften, was der oder die verantwortlichen Leiter einer felb» ftändigen, wenn auch mit vielen Banden an ein anderes Inftitut gefcffelten Akticn= bank felbftverftändlidi auf fich nehmen. So mannigfaltig die Formen fmd, in denen in diefer Periode die Berliner Großbanken ihren Einfluß auf die rheinifchcn Banken und Bankiers ausüben — Aktienübernahme, Beteiligung durch Kom= manditierung, Beteiligung bei der Gründung, gegenfeitiger Austaufch von Auffichtsratsmitgliedern, ftändige Gefchäftsbeziehung mit befreundeten Banken — der Einfluß geht nicht nur von Berlin in die Provinz, fondern umgekehrt wächft der Einfluß der Führer des rheinifchen Wirtfchaftslebens auf die Berliner Banken, in deren Auffichtsräten fie nicht nur „dekorativ" wirken. Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bringt mit einem mächtigen Auf» fchwung der ganzen weftdeutfchen Induftrie auch eine ftarke Entwicklung der Banken; CS fchließt mit einer fchweren wirtfchaftlichen Depreffion, die auch auf die Banken ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Es ift damals im erften Schrecken die Meinung verbreitet gewefcn, daß diefer Zufammenbruch der Konjunktur große Ähnlichkeit mit dem 1873er Krach gehabt habe. Eine genauere Unter« fuchung aber hat bald ergeben, daß fowohl der Verlauf als die Folgen viel weniger ruinös waren, und daf^ auch die folgende Depreffion fich bald wieder zu normalen Zuftänden und einem neuen Auffchwung erheben konnte. Zweifellos war man, weniger in dem Gründungsgefchäft als vielmehr in der Kreditgewährung im laufenden Gefchäft, allgemein leichtfertig gewefcn und zu weit gegangen. Aber die Regulierung - vielfach unter Leitung der Reichs« b«nk — konnte melf^ fo red^tzeitig erfolgen, daß große Zufammenbrüchc ver= mieden wurden. n. Rheinische Banken 1901—1914 535 s s;^ CO • ÜÜ g-s s >■ a jbZ; SD C OQ V u C II 3-S Sit! 1^ u -g Z ^ P '^'% e -^^^ OQ U S^S 03 . c i; *< i" s9 «I :S QZN I j{ JS •J5— -J-u 1 I - i> U ".Q S-2'5tfr Ü S2 8 . •• EU 6 •Co 51 «2 J2;o i2 ü 2 •s •2« B ^ 8 u u n3 .■aO — OS ; S ta 5 > SflQ . : fflU •? 3 cqZO •K 8 c ^ta t!w fabi Uc •a . üb^ V 3 TS •Oj< .5^ <• 3JJ o J; > M ^^ £«« « ts E ö" - JO OD '0 a « JK2-e O :3 ä S8 S ■gii Hü >•- JS ^■g < t« » • .S S TS J - ST 8.9 •S-5 M ffft- - - "oe t.S S -3 ^ 'S < N 536 X. W. Kahler, Handel, Bankwesen, Versicherungswesen d In den Jahren 1876—1898 >x'aren noch fedis neue Aktienbanken gegründet ^x'orden, die freilich alle nadi der Krifis ihre Selb(tändigkcit verloren. Bei dem Umfch\x'ung mußten drei angcfehene Privatbankhäufer liquidieren, weil fic fich fe(tgefahrcn hatten. Mehrere befonders fpekulativ geleitete Aktienbanken konnten nur durdi den Obergang an andere Banken vor dem völligen Zufammen« brudi bewahrt werden, fo die Rheinifche Bank, die Bank für Rheinland und Weftfalen, die Kölnifche Wediflcr= und Kommiffionsbank, die Weftdeutfche Bank. Einige der kleinften Banken, die als Volksbanken vor allem mit dem Spar«» kapital der kleinen Leute arbeiten, kamen durdi vöHig ungeeignete Geftaltung ihrer Aktivgefdiäfte in erhcblidie Bedrängnis. Der Prozeß der Bonner Bank für Handel und Gewerbe, die 1908 in Konkurs geriet, war auch in dicfer Hinfidit lehrreiA. V. Die Konzentration im rheinifchen Bankwefen. Das Ergebnis diefer Jahre des Umfdiwungs und der Ernüditerung i(t eine Stärkung der größeren Provinzbanken, eine Umgeftaltung der Bankorganifation, die man als Konzen= trationsprozeß mit (tark dezcntralifiertem Betrieb bezeidinen kann. Die Ver= hältniJTe haben fidi anders entwickelt, als man damals anzunehmen geneigt war. Zunädi(t bleibt der Sdiaaffhaufen'fdie Bankverein, der in der Krife felbft am wenigften an feinen rheinifdien Beziehungen gelitten hatte, nodi ein halbes Menfdienalter als einzige wirklidi große und felbftändige Bank außerhalb Berlins beftehen und behält feinen Charakter als die liauptbank der Rheinlandc und als fpczififdie Indußiriebank, indem bei ihm das eigentlidie Börfengefdiäft wie bisher im Hintergrund bleibt. Freilich tritt auch bei ihm ein Anlehnungs* bedürfnis hervor. 1903 fdiloß er eine Intercffcngemeinfdiaft mit der Dresdner Bank ab. Offen fiditlich war dabei die Abfidit, die Intereffen= und Arbeitsgebiete beider Großbanken in der Riditung zu kombinieren, daß die Dresdner Bank ihre Beziehungen zu Rheinland=We(tfalen ausbaute, die ihr gerade in diefem Gebiet fehlten, während Schaaffhaufen feinem Mangel an mitteU und o(t= deutfdienund ausländifchen Beziehungen aufhelfen wollte. Mit den 130 Millionen Mark Aktienkapital der Dresdner Bank vereinigten fidi die 100 Millionen Mark des Bankvereins zur größten Kapitalmarkt des deutfchcn Bankwefens. 1907 fand diefe Vereinigung früher ein Ende, als beim Vertragsfchluß beabfiditigt war. Aber aus der Vereinigungszeit blieb dem Bankverein doch eine Richtung auf eine [tärkercBeteiligung anUnternehmungen, die ihm bisher fern gelegen hatten, an ausländifdien, an allerlei induftricUen Unternehmungen außerhalb feines alten rheinifdi=wcftfälifdien Arbeitsgebiets, und damit die Nötigung zu einer erheblichen Kapitalvermehrung. Seine Beziehungen zur Eifcnhüttenindu(trie des Ruhrbezirks nötigten ihn zur Beteiligung an der Erfchließung des Lothringifch= Luxemburgifchen Minettebezirks. Hier trifft er auf die Interedcnfphäre der Berliner Großbanken, wie der mehr und mehr aufkommenden mittclrheinifchen Kapitalmacht. In den Kartellbcitrcbungen (tcht er an führender Stelle; das neue Kohlenfyndikat von 1903 und der Stahlwcrksverband find in demfelben Maße von der Bankwelt wie von den unmittelbar Beteiligten gegründet und beeinflußt. Die deutlich erkennbaren Grundzüge einer dauernd feftgchaltenen Induflrie* Politik finden fich nicht nur in dicfen Beziehungen wieder, wie [ie fich in den jahrzehntelangen Verbindungen mit alten großen Firmen - Hörder Verein, Phönix, Höfch, Bochumer Verein darftcllcn und auf Aumetz-Fricde und Rombach {\ guten Staatsftraßen nach= drücklich hervortreten. In der Bevölkerung fand diefes Beftrebcn der Regierung volle Anerkennung, obwohl mancherlei Oppofition in den Kreifen kurzfichtiger Intereffcnten zu bekämpfen war, fei es, daß man von dem Chauffeebau eine Vermehrung der Hceresdurdizügc oder eine Verminderung des Gewinnes an Vorfpannlci(tungen auf den alten fchlediten Wegen befürditete, oder daß die ChaulTeegelder und die fonftige finanzielle Belaftung drückend empfunden wurden. Für den Bau derjenigen Staatsftraßen, die im allgemeinen Staats» interefic nicht unbedingt erforderlich waren, wurde der Grundfatz aufgeftellt, daß die nächftbeteiligtcn Eingcfeffenen Geldbeiträge, Spanndienftc und andere Hilfe zu leiften oder den Grund und Boden uncntgeltlidi herzugeben hatten; auch wurden die beteiligten Gemeinden als folche zu finanziellen Leiftungen 566 XI. A. Wirminghaus, Das Verkehrswesen verpflichtet (fogcnannte „Rotherfche Bedingungen'', nadi dem Refkript des damaligen Leiters der ChauITeebauverwaltung, Staatsminifters Rother vom 8. November 1834). Andercrfcits unter(tützte der Staat den Gemeindewegebau im Falle kunftgemäßer Ausführung vermittels Prämien. Die Sorge für die gewöhnlichen Vizinalwege blieb aber ausfchließlich Sache der Näch(l:bcteiligten. überhaupt galt bezüglidi des Straßenbaues und der Straßenunterhaltung, wie auch heute noch, der Grundfatz, daß beide auf Freiwilligkeit beruhen und nidit erzwungen werden können. Zu einem wichtigen Gliede im großen Wegenetze wurden aber die Bezirks(traßen, befonders auch deshalb, weil gerade fie vor der Eifenbahnzeit berufen waren, die AnfchlüJTe an die Fundftätten des Bergbaues, die Waldungen, die Fabriken, die Wafferftraßen ufw. herzu(tellen, und fomit zu dem induftriellen Auffchwung des Landes wcfentlich beitrugen. Um einen überblidi über die Entwicklung des Straßennetzes der Rheinprovinz, zunächlt bis zur Zeit des Eintretens der Provinzialverwaltung in den Straßenbau, zu gewinnen, mögen einige (tatiltifche Angaben über die Länge der Kunftftraßcn hier Platz finden. Regierungsbezirke Staatsftraßen Bczirksftraßcn 1816 1831 1846 1862 1871 1816 1831 1846 1862 1871 DülTeldorf k m 448 606 75» 755 772 13 55 183 572 721 Köln 155 259 249 31? 264 19 85 131 523 740 Koblenz 284 312 521 556 551 129 206 142 475 716 Trier 143 220 483 520 484 144 187 414 648 877 Aachen 79 132 224 231 224 80 118 »51 630 788 Rheinprovinz , f ' «09 1509 2228 2355 2295 385 651 1021 2848 3842 Bei Beurteilung diefer Zahlen ift zu beachten, daß manche Staats(l:raßcn= (trecken nicht vom Staate fclbft gebaut, fondern fpäter von ihm übernommen worden find, und andererfeits Staatsftraßen von den Bezirksftraßcnfonds über« nommen werden konnten. Ein Gleidies gilt bezüglich der fonftigcn Kun(t[traßen. Im übrigen ergibt fich aus diefer Zufammenftellung, daß das fdion zu Beginn der prcußifchen Herrfchaft verhältnismäßig gut entwickelte Staats(traßcnfy(tem im Laufe der Jahrzehnte (tetig weiter ausgebaut worden i(t, während das Bezirks« (traßennetz von der preußifchen Verwaltung eigentlich er(t gefchaffen wurde. Namentlich ift in diefer Hinficht in den fünfziger Jahren viel gcleiftet worden. Neben den Staats» und den Bezirks(traßcn waren an fonftigcn Kunftftraßcn (Gemeinde«, Aktien«, Bergwerks«, Privatftraßen ufw.) in der Rheinprovinz vor« banden 1816 : 64, 1831 : 96, 1846 : 3150, 1862 : 740, 1871 : 703 km, fo daß fich das gefamte Kun(tß:raßennetz der Rheinprovinz feiner Länge nach in jenen Jahren auf 1558, 2256, 3599, 5943 und 6840 km belicf. Im Jahre 1816 waren an Staats(traßen in der Rheinprovinz (einzelne aller« dings noch nicht vollendet) vorhanden die Straßen i.von Köln nach Elbcrfeld und nach Lcnnep, 2. von Düffeldorf nach Elbcrfeld, 3. von Köln über Düffeldorf nach Wefel, 4. von Wefel nach Venlo, 5. von Köln nach Altenkirchen auf der Frankfurter Straße, 6. von Köln über Koblenz, Bingen nach Kreuznach, 7. von Köln über Aachen nach Lüttich, 8. der größere Teil der Straße von Aachen nach Trier, 9. von Koblenz überTrier nach Luxemburg, 10. von Bingen nach Irmcnach auf der Straße nach Aachen. Dazu trat in den crften Jahrzehnten der prcußifchen Zelt vor allem der Ausbau der großen Straße von Berlin nach dem Rhein (über Kaffcl, Paderborn, Socft, Schwelm, Elbcrfeld nach Düffcldorf und Köln), der Straßen von Köln nach Olpe, von Köln über Neuß, Krefeld, Kleve nach Nym« a I. Altere und neuere Leistungen im Landstrafienbau 567 wegen, von Köln über Wcfcl, Emmerich nach Arnhcim, von Düffeldorf nach Jülich, von Aadien über Trier, Saarbrücken bis zur franzöfifchen Grenze. Diefer Überblick zeigt übrigens rcdit deutlidi, daß der Stadt Köln, ihrer alten Tradition als Verkehrsmittelpunkt entfpredicnd, im rheinifdien Staats(traßennetzc eine hervorragende Stellung angewiefen wurde, wobei neben den kommerziellen Rüd<«= fichten zweifellos auch militärifche Erwägungen maßgebend waren in Anbetracht der Bedeutung, welche Köln als Feftung und hervorragender Waffenplatz hat. Die Rheinlande haben unter preußifdier Herrfchaft im Kun(t(traßenbau von allen Provinzen der Monarchie (tets in erjter Reihe geftanden. Nadi einer Bercdinung aus dem Jahre 1861 entfielen hier an Kun(t(traßen 1,71 Meilen auf die Quadratmeile, gegenüber einem Durchfchnitt von 0,79 für die Monarchie, eine Dichtigkeit, die von keiner Provinz erreicht wurde. Wie die früheren Zahlen erkennen lafl"en, hat audi der in der Rheinprovinz nach 1840 befonders lebhaft einfetzende Eifenbahnbau die weitere EntwidBez. Trier 34 129 »58 165 172 294 57 400 457 25 477 yo2 Privatbahnen Staatsbahnen Zufammen 97 97 1J 420 Rheinprovinr 901 1664 138 182 1039 1846 798 195? 2731 »74 2828 3002 Gegen Ende dicfcr Periode war die Diditigkeit des Netzes, auf 100 qkm Flädie bercdinet, weitaus am größten im DüfTeldorfer Bezirk (22 km), während die übrigen Bezirke eine folche zwifdien 6 und 10 km aufwiefen; unter Zugrunde- legung der Bevölkerung (10 000 Einwohner) hingegen ergibt fidi für alle Bezirke eine ziemlidi glcidimäf^ige, zwifdien 5 und 8 km liegende Dichtigkeit. Für den gefamten preußifdien Staat waren die betreffenden Größen 1885/86 6,4 bezw. 7,8 km. Die Eifenbahncn unter (taatlicher Verwaltung. Indenpreußifdien Rheinlanden hat das bis in die aditziger Jahre herrfdiende Privatbahnfy|tem feine Probe glänzend bc(tanden. Das Rheinifdie wie das Köln=Mindener Unter» nehmen — das Bergifdi=Märkifdie wurde fdion bald nadi feinem Entftehen der Verwaltung des Staates unterftellt — galten allgemein für die beft» geleiteten Privatbahnen der ganzen Monardiie. Daß fie in bezug auf die Aus» geftaltung des Netzes Hervorragendes geleiftet haben, wurde bereits betont. Ein gleidies ift in der Tat audi von der Verwaltung zu fagen. Die an der Spitze der Verwaltungsräte und Direktionen (tehcnden Männer waren zumei(t aus dem Kaufmannsftande hervorgegangen; fie lebten daher mit dem Wirtfdiaftslcben in enger Fühlung und verjtanden es, den Bedürfniffen des Verkehrs zu cnt- fpredien. Der Wettbewerb der einzelnen Bahngefellfdiaften untereinander nötigte zu einem weitgehenden Entgegenkommen gegenüber den Befraditern in bezug auf die Tariffätze und die fonftigcn Transportbedingungen. Ab« madiungen der Gefcllfdbaften untereinander erleiditerten, wie wir nodi fehcn werden, den Übergang von der einen auf die andere Bahn. Durdi eine um» faffende Werbetätigkeit fuchten die einzelnen Gefellfdiaften Kunden innerhalb der Befraditcrkrcife an fich zu ziehen. Frcilidi kam es dabei nidit feiten zu mandien zwed höfe und Halteftellen, entfpredicnd der Vermehrung der größeren Wohnorte und der Induftricanfiedelungen, angelegt. Nidht minder bedeutende tedmifche Fortfehritte wurden im Fahrbetrieb erzielt, u.a. durch Vergrößerung der Fahr« gcfchwindigkcit, diditere Zugfolge und Erhöhung der Bctriebsfichcrheit. Der I.Oktober 189^5 brachte die Einführung der Bahn(teigfperre, einen Fortfehritt in der Sicherung des Zugbegleitperfonals und in der Abwicklung des Verkehrs. Im Jahre 1908 gelangte der clektrifche Betrieb durch Einftellung fogenanntcr Triebwagen zur Einführung. Eine einfdineidende Umgeftaltung im Intercdc einer (traffercn Zcntralifation und der Vereinfachung der Gcfchäftc erfuhr die Verwaltungsorganifation. Nach Übernahme der Privatbahnen waren in der Rheinprovinz drei Eifenbahndirektioncn in Elberfeld, Köln (rcchtsrhcinifch) und Köln (iinksrheinifch), den Sitzen der alten Privatdirektionen, gebildet worden, wührend die Königliche Direktion in Saarbrücken aufgelöfl und ihr Bahngebiet den benachbarten Direktionen zugeteilt worden war. Den Direktionen waren die Elfcnbahnbctricbsämtcr mit gcwiffcn fcibftändigcn Bcfugnl|Ten untcr(tcllt. D in. Neuere Entwicklung des rheinischen Eisenbahnwesens 601 Seit dem 1. April 1895 i(t darin eine Änderung in der Art eingetreten, daß die Zahl der Direktionen vermehrt — in der Rheinprovinz jetzt Elberfeld, Effcn, Köln und Saarbrüd und fozialwiffenfchaftlidie Forfdiungcn 18, 1900. O. Drcfemann, Aus der Jugendzeit der Rheindampffdiiffahrt. 1903. E. G oth ei n , Die gcfchiditlichc Ent>x'idtelung der Rheinfchiffahrt im 19. Jahrhundert: Schriften des Vereins für Sozialpohtik 101, 1903. W. Naffc, F. Schulte, A. Wirminghaus, Die Sd)iffahrt der deutfchen Ströme (Abhandlungen betr. den Rhein) ebenda 102, 1905. M. Peters, Schiffahrtsabgaben, ebenda, 115, 1906 und 1908. R. Jasmund, Die Arbeiten der RheinftromsBauverwaltung 1851 — 1900. Denkfdirift. Zentral«Kommiffion für die Rheinfchiffahrt, Jahresberichte. R. van der Borght, Die wirtfchaftliche Bedeutung der Rhcin=Seefchiffahrt 1892. A. Wirminghaus, Denkfchrift zur Beurteilung der wirtfchaftlichen Lage und der Organifationsbcftrcbungen in der Rheinfchiffahrt: Beilage zum Jahresbericht der Handelskammer zu Köln, 1913. Schröter und Reichert, Die Schifferbörfc zu Duisburg=Ruhrort. 1911. J. Kempkens, Die Ruhrhäfen, ihre Induftrie und ihr Handel: Moderne Wirtfchafts« geftaltungen, herausgegeben von Kurt Wicdenfeld, 11. 1914. K. Schmeidlcr, Gefdiidbtc des deutfchen Eifenbahnv^efcns. 1871. G. Riegels, Die Verkehrsgefchichtc der dcutfdicn Eifenbahnen. 1889. Schreiber, Die preußifchen Eifenbahnen und ihr Verhältnis zum Staat. 1874. E. Kühn, Die hiftorifche Entwidtelung des deutfdicn und des deutfchsöfterreidiifchen Eifenbahnnetzes vom Jahre 1838 bis 1881. Ergänzungshefte XII und XVIII (für 1886 — 93) des Königl. prcußifchen (tatiftifdien Landesamtes, 1882/83 und 1897; vcrgl. auch Jahrgang 1883 und 1886 der Zeitfchrift felbft. Kind, Entwidtelung und Ausdehnung der Eifenbahngefellfchaften im niederrheinifch« we(tfälifchen Kohlengebiet. 1908. Fleck, Studien zur Gefchid»te des preußifchen Eifenbahn>x'efens, Ardiiv für Eifenbahn« wefcn. 1895 — 1899, Waldeck, Die Entvx/idtclung der Bcrgifch=Märkifchen Eifenbahn. Ebenda. 1910. K. Kumpmann, Die Entftchung der Rhcinifchen Eifcnbahn=Gefcllfchaft 1830 — 1844. Veröffentlichungen des Archivs für Rhein .=We(tfäl. Wirtfchaftsgcfchichte, I. 1910. M. S c h vx/ a n n , Ludolf Camphaufen, ebenda, III. — V. 1915. L. Berger, Der alte Harkort, ein weftfälifchcs Lebens« und Zeitbild. 1890. J. Hänfen, Guftav von Mcviffen. Ein rheinifches Lebensbild 1815 — «899. 1906. A. Bergengrün, David Hanfcmann. 1901 . A. Bergengrün, Staatsminifter Auguft Freiherr von der Hcydt. 1908. A. von der Leyen, Die Eifenbahnpolitik des Fürften Bismarck. 1914. F. Ulrich, Das Eifcnbahntarifwefcn. 1886. Fr. Schulte, Die Rheinfchiffahrt und die Eifenbahnen. Schriften des Vereins für Sozialpolitik 102, 1905. Fr. El faß. Die Ausnahmetarife der preußifch-hefOfdien Eifenbahngemeinfchaft. 1912. Bericht über die Ergebniffe des Betriebs der vereinigten preußifchen und hefflfchen Staatseifenbahnen. 1915 und früher. W. G 1 e i m , Das Gefetz über Kleinbahnen und Privatanfchlußbahnen vom 28. Juli 1892, 4. Aufl. 1907. Zeitfchrift für Kleinbahnen, herausgegeben im Minijlerium der öffentlichen Arbeiten, feit 1894. H. Stephan, Gefchichte der Preußifchen Poft. 1859. G. Sautter, Die franzöflfchc Poft am Niederrhein 1794 — 1799. Annalen des hljlo« rifchen Vereins für den Niederrhein. 1898. tB r u n 8 , Das Poftwefen, feine Ent\x/ickelung und Bedeutung. 1907. B r u n s , Die Telegraphie in ihrer Entwickelung und Bedeutung. 1907. e l B n e r , Zur Gefdiidite des Kaiferlichen Bahnpoftamtes 10 in Köln und des Bahn- poftwefens im allgemeinen. 1902. Denkfchrift zur Eröffnung des Reichs>Poftgebäudes an den Dominikanern in Köln. »893. Berichte über die Ergebniffe der Reichs-Poft« und Telegraphcnverwaltung, zuletzt für 1906 — 10. Statlf^lk der Deutfchen Reichs«Po(^ und Telegraphenver\x'altung, zuletzt für 1910. xir. Das politilche Leben von jofeph Hdnsen. Grftes Kapitel. Die Befifeergreifung der Rheinidnde durch Preußen im jähre 1815. Die Vereinigung der Rheinprovinz mit der preußifchcn Monarchie ift in einem weltgefchichtUchen AugenbUck erfolgt, der für ganz Europa neue poHtifche VerhältniJTe heraufführte und für unfcr Vaterland in den widitigften Fragen der Exiftenz und der Vcrfa(|ung eine neue Ordnung fchuf. Soeben hatte fich das deutfdic Volk im Befreiungskriege aus tiefer Erniedrigung erhoben und von der Herrfchaft Napoleons erlöft. Es hatte eine nationale Wiedergeburt erlebt, und die Träger der deutfchen Idee waren nach dem Siege von der fehncnden Hoffnung erfüllt, ebenfo wie die we(teuropäifchen Völker, mit denen fic fich durch alten Kulturzufammenhang verbunden fühlten, die nationale Gemeinfchaft durch einen das ganze Deutfchland umfaffenden und fiebernden (taatlichen Verband zum Ausdruck zu bringen. Diefes Handeln und Hoffen aber fiel in die Epoche, wo ganz Weft= und Mitteleuropa zugleich von einer politifchen Bewegung ergriffen war, die, ausgehend von der franzöfifchen Revo= lution von 1789, den für(tlichen Abfolutismus des 18. Jahrhunderts durch moderne, liberale Verfaffungseinrichtungen zu erfetzen fuchte. Die Völker (trebten nach einem felbftändigen Anteil an ihrer Regierung. Das Verlangen nach der nationalen Selbß:be(timmung und nach einer zeitgemäßen Verfaffung, jedes für fich und die enge Verflechtung beider, erfüllten im Frühjahr 1815, als Preußen die Herrfchaft über die Rheinlande antrat, die öffentliche Meinung in Deutfchland und fo auch am Rhein. An dem Erwachen diefes deutfchen Nationalbewußtfeins, das nach einem langen gefchichtlichen Umweg unfcr Volk zu politifcher Einheit geführt hat, waren die Rheinlande felbftändig kaum beteiligt gewefen. Das ideelle Element diefes Bewußtfeins, die Größe und Unabhängigkeit des nationalen Geiftes= lebens von Leffing und Herder bis zu Goethe und Schiller, das feit 1750 ein erftes ftolzes Selbß:gefühl und Gemeingefühl zu erzeugen begonnen hatte, war in den vorwiegend katholifchen Ländern am Rhein nicht bodenftändig. Die Ideenwelt des Klaffizismus und das ihm verdankte Bewußtfein, daß die deutfchc Nation die edelfte Ausprägung menfchheitlicher Ideale darftclle, erblühte jn den proteftantifchen Ländern Deutfchlands, und auch die Romantik, die in den nationalen Wurzeln alles Geifteslebens feinen wahren Wert und feine Eigenart erblickte, hatte ihre er(ten Mittelpunkte in Jena und Berlin. Erft nach 1800 39» 612 XII. J. Hansen, Das politische Leben a offenbarte am Rhein die jüngere Romantik ihre der katholifchen Weltanfchauung entgegenkommende vx/erbende Kraft, indem fie die Sehnfucht nach der großen vaterländifchen Vergangenheit im Mittelalter weckte. Seit Friedrich Schlegels Aufenthalt in Köln während der Jahre 1804 — 1807, der hier die Verbindung der mittelalterlichen rheinifchen Kun[tblüte mit der ä|thctifch=literarifchen Zeit» (trömung herftellte, und feit im Jahre 1808 der Koblenzer J. Görres von Heidcl» berg, wo er feinen Bund mit Brentano und der Romantik gefchloffen hatte, in die Heimat zurückgekehrt war, fanden diefe Anregungen auf den Gebieten von Kunjt und Literatur in den Rheinlanden einen Mittelpunkt. Mit dem politifchen Element des neuen deutfchen Nationalgefühls verhielt es fidi anders. Das ältere nationalpolitifche Einheitsgefühl des deutfchen Volks, der kraftlofe und zum Handeln unfähige Reichspatriotismus, war im 18. Jahr= hundert während des Auflöfungsprozeffes des alten Reichs in den großen und fortgefchrittcnen deutfchen Einzelß:aaten, vor allem in Preußen, am ftärkftcn gelockert und geradezu vernichtet worden. Dort zog fich das politifchc Bewußt= fein auf den Partikularismus des lebenskräftigen Einzclftaatcs zurück und gab die Verbindung mit dem allgemeinen Reichsgedanken preis. Dagegen hielt gleichzeitig am Rhein, wo neben den fürftlichen Territorien Jülich=Berg, Kleve, Kurköln und Kurtrier zahlreiche kleine Herrfchaften, im ganzen über achtzig, ihr Dafein frifteten, die kleinftaatliche Zerfplitterung und Rückftändigkeit mehr von dem überkommenen Reichspatriotismus wach, weil der territoriale Parti« kularismus nidit befriedigte und das Reich in den politifchen Zwerggebilden herkömmlicherweife noch am mci(ten Einfluß übte. Als im Jahre 1794 die wehrlofen Länder am linken Rheinufer eine Beute der Armeen der franzöfifchcn Republik wurden, blieb daher noch eine Zeitlang die Hoffnung lebendig, daß die fremde Herrfchaft über diefe Länder keine dauernde Trennung von Deutfch= land bedeuten werde. Frankreich erklärte zwar fofort den Rhein als feine natürliche Grenze. Aber die Leiftung des franzöfifchen Untertaneneides wurde noch im Jahre 1798 von vielen Rheinländern Verweigert. Diefe Haltung hatte indcffen keine einheitliche Urfache. In den preußifchen Ländern am Mieder= rhcin, zu denen das Herzogtum Kleve (feit 1609), das Fürftentum Moers mit Krefeld (feit 1707) und ein Teil des Herzogtums Geldern (feit 1711) zählten, ging fie auf das Bewußtfein der Zugehörigkeit zu dem mächtigen Staate Friedrichs des Großen zurück. Sie war alfo preußifch=politifch, nicht dcutfch=national orientiert. Das wirkte auch auf die Stimmung im rechtsrheinifchen Berg ein, das zwar felbft zu Kurpfalz gehörte, aber doch durch feine örtlidie Lage zwifchen Kleve und der durch [tarke Anhänglichkeit an Preußen ausgezeichneten wefl« fälifchen Graffchaft Mark beeinflußt wurde. In den übrigen linksrheinifchcn Gebieten, insbefondere in den geiftlichen Kurftaaten Köln und Trier fowic in den Reichsftädten Köln und Aachen, blieb dagegen das Bewußtfein gefchicht» licher, fprachlicher und politifcher Zufammengehörigkeit mit dem übrigen Dcutfchland beftimmend. Es gravitierte durchweg nach Ofterreich und Süda dcütfchland, war mit einem ftarken Friedensbedürfnis gepaart und erblickte feine wenn auch fchattcnhafte politifchc Verkörperung in dem habsburgifchcn Kaifcrtum. Preußen war hier als gcfährlichftcr Gegner diefes Kaifertums wenig beliebt; für feine (^raffc militärifche Zucht und ftaatliche Difziplin fehlte das VcrftÄndnls, da man felbft von dem Streben nach einer ftarken und unab- hängigen Stellung unter den curopäifchen Mächten unberührt war. In Koblenz, •Ifo im alten Kurflaat Trier, äußerte noch im Jahre 1800 J. Görres — der [Ich Q Erstes Kapitel (1815): Elemente des Nationalbewußtseins 613 allerdings drei Jahre vorher mit fcharfer Satire gegen Kaifer und Reidi gewendet und Frankreidi als den einzig rechtmäßigen Erben des linken Rheinufers bczeidinet hatte — , Spradic und Nationalgeijt, Sitten und Gefetze diefer Länder (tändcn ihrer Verbindung mit Frankreich mächtig entgegen. Aber Kaifer und Reidi traten im Frieden von Luneville 1801 das linke Rheinufer an Frankreich ab, ohne daß in Deutfchland die fürftlichcn Regierungen oder die öffentliche Meinung des Volkes fich aufbäumten. Und Preußen handelte ähnlidi. Friedrich der Große hatte zwar wiederholt daran gedacht, die abgelegenen rheinifchen Außenlande gegen Erwerbungen im Often einzutaufchcn, unter feinem Nach= folger war indeffen feit 1786 das Intereffe der preußifchen Krone an ihren weltlichen Befitzungen erheblich gewachfen. Dennoch refignicrte Preußen jetzt ohne Kampf. Im Jahre 1804 richtete dann Napoleon das kraftvolle franzöfifche Kaiferreich auf, und er beficgtc 1805 Ofterreich, 1806 Preußen, Das alte deutfdie Reich aber wurde 1806 zu Grabe getragen, nachdem Kaifer Franz 1804 Ofterreich zum Kaiferreich erhoben hatte. In diefen Jahren verftummten am Rhein die Hoffnungen auf Befreiung von dem fremden Eroberer. Trotz der planmäßigen Beeinträchtigung des Dcutfchtums im franzöflfchen Schul= und Bildungswefen ging zwar das nationale Bewußtfein als Unterltrömung auch jetzt nicht ganz verloren. Durch Görres in Koblenz, durch Wallraf und Boifferce in Köln blieb das linke Rheinufer in einiger Verbindung mit deutfcher Literatur und Kunft, und das rechtsrheinifche Berg gab auch jetzt feine engeren Beziehungen zum deutfchen Geifteslebcn nicht auf. Die romantifchen Ideen erfüllten die rhcinifchc Erinnerung mit glänzenden Bildern aus der deutfchen Vergangenheit. Aber alles das war doch zu fchwach, um zu Handlungen oder auch nur zu lauten Äußerungen zu ermutigen und ein Gegengewicht gegen die Umgeftaltung des ganzen öffentlichen und privaten Lebens in eben diefen Jahren zu bieten. In kürzelter Zeit bewirkte die franzöfifche Herrfchaft den völligen Bruch mit den noch aus dem Mittelalter (tammenden Zuftänden. Hatte fie fchon auf einen Schlag das Elend der Kleinftaaterei befeitigt, das ganze linke Rheinufer in vier Departements zufammengefaßt und dem großen franzöfifchen Staats= wefen eingegliedert, fo wurde nun auch eine einheitliche Gefetzgebung und Verwaltung auf Grund der rcditlichen Abftraktionen der franzöfifdien Republik durchgeführt. Alle gefchichtlichen Traditionen wurden zerfchnitten. Die ftän= difche Gliederung der Bevölkerung hörte auf. Bisher war der Klerus als Organ der katholifchen Kirche, der Adel auf Grund des Vorrechts der Geburt, die Stadt infolge ihrer rechtlichen Differenzierung vom Lande vor dem Bauern= (tand ausgezeichnet. Kirche und Adel hatten perfönliche und dingliche Rechte über die Bauern und (landen zwifchen ihnen und der (taatlichen Gewalt. Diefc Privilegien wurden befeitigt, und Stadt und Land, die beiden feit dem Mittel= alter rechtlich und wirtfchaftlich getrennten Elemente des ftaatlichen Aufbaues, wurden gleidigeftellt. Der ausgedehnte Kirchenbefitz, der insbefondere auf dem Lande (tark überwog, aber auch in den Städten die Entwicklung hemmte, wurde fäkularificrt, zufammen mit dem Kammergut der früheren Regierungen zum Domänengut erklärt, durch öffentliche Verfteigerungen parzelliert und in den freien Handelsverkehr gebracht. Das Zehntrecht der Kirche, die Grund= [teu erfrei heit des Adels und der Kirche wurden ebenfo wie ihre Gcrichts= und Polizeigewalt über die Bauern aufgehoben. Der Bauer wurde durchweg zum freien Grundbefitzer, ohne alle Verpflichtung zu Frondienften, fo wie es der Stadtbürger feit jeher war. Der Adel galt nach dem franzöfifdicn Vorbild von 614 XU. J. Hansen, Das politische Leben a 1789 als abgcfdiafft. Seine politifdie Rolle fand zufammcn mit den alten Tcrri= torien ein fdinelles Ende. Sofort lernte fich die ganze Bevölkerung als ein einheitliches Staatsbürgertum fühlen, das nur den allgemeinen und für alle geltenden Gefetzen unterworfen war und dem Staate gleichberechtigt gegen» überftand. Die franzöfifche Verfaffung vom Jahre 1799 trat an die Stelle der ftändifdien Verfaffungen, die in den rheinifchen Territorien bis in die Zeit der Fremdherrfchaft in Wirkfamkeit geblieben waren, weil der für(tlidie Abfo= lutismus hier keinen Vorkämpfer fand. Hatten fie die Vertretung der Intereffen des flachen Landes dem Adel allein kraft eigenen Rechts, unter völligem Aus= fchluB der Bauern, und einzelnen Städten die Vertretung der gefamten (iädtifchen Intereffen überlaffen, außerdem aber in den geiftlichen Kurftaaten den katho= lifchen Klerus privilegiert, fo verdankten nun Stadt und Land der Verfaffung des durch die Revolution verjüngten und demokratifierten franzöfifchen Staates gleichmäßige, nur vom Befitze des ftaatlichen Bürgerrechts abhängige und durch Wahlen von Repräfentanten im modernen Sinn ausgeübte politifche Redite. Die Rheinlande nahmen als franzöfifche Departements teil an der repräfen» tativen Regierungsform des franzöfifchen Staats. Die Bevölkerung wurde durchweg in Gemeinden, wiederum ohne jede rechtliche und (tändifche Unter= fcheidung von Stadt und Land, gegliedert. Nach Kommunalbezirken wählte fie die Liften ihrer Vertrauensmänner für die Bczirks= und die Departements= Verwaltung, fowie ihre Vertretung in der gefetzgebenden Kammer zu Paris, welche zugleich die jährlichen Abgaben und die Aushebung der ]Vlilitär=Kon= fkrlption zu bewilligen hatte, jeder einzelne Bürger trat fo ohne Zwifchen» glieder in ein unmittelbares Verhältnis zum Staat. Durch Napoleons Allgewalt verkümmerten zwar die konjtitutionellen Rechte im ganzen Kaiferrcich, aber die Gleichheit aller Bürger vor dem Recht, die gleichmäßige Verteilung der Steucr= pflicht nach dem Vermögen ohne jede Privilegierung, auch die Freiheit des religiöfen Bekenntniffes waren garantiert. Die Gefetzbücher Napoleons fdiufen ein einheitliches Zivil=, Straf= und Handelsrecht. Die Öffentlichkeit und ]Vlünd= lichkeit des Strafprozcffes, fowie die Teilnahme der Laien an diefem Prozeß in der Form der Gefchworenengerlchte wurden durchgeführt. Gewerbefreiheit trat an die Stelle des lokalen, Stadt und Land trennenden Zunftzwangs. Die freie Verbindung von Kapital und Arbeit begann die Umbildung der GefelU fchaft im neuzeitlichen Sinne, und von der Tatfache, daß das Rheinland an dem wirtfchaftlichen, durch neue Erfindungen angebahnten Auffchwung früher als das innere Dcutfchlaiid teilnahm, traten vorderhand nur die günftigcn Wir= kungen zutage. Die franzöfifche Hcrrfchaft, die eine an den Grund des gefeli= fchaftlichcn und politifchen Zuftandes der Rhcinlande reichende Umwälzung bedeutete, führte zwar fchwcrc Kricgs= und Steuerlaften, aber doch auch große Fortfehritte auf dem wirtfchaftlichen Gebiet herbei. Durch die Parzellierung und Mobiliflerung des Grundbcfitzes der Toten Hand und des Adels bca reicherten fleh Stadtbürger und Bauern. Handel und Gewerbe erhielten fo eine rege Kapitalzufuhr. Durch die franzöfifche Regierung wurde die rhcinifche Induftric vicifcitig gefördert. Sie hatte ihre Sitze nicht nur in den Städten, fondern auch auf dem Lande, mit deffen Bodenfehätzen und Wafferkräftcn 0« zum Teil enge verknüpft war. Aus ihr entwickelte fich eine bürgerliche Ober- fchlcht, eine der franzöfifchen Bourgeoifle verwandte Gruppe von Notabein, deren öffentliche«» Intcrcffc fleh auf die Wirtfchaftspolitik konzentrierte, weil unter der Frcmdhcrrfchaft der allgemeinpolitifchen Betätigung der Unter- o Erstes Kapitel (1815) : Französische Reformen 615 Nx/orfcncn natürliche Schranken gefetzt waren. WillkürHche Eingriffe der Re= gierung und mannigfache Mißbräuche der Verwaltung forderten wohl die Kritik heraus, aber für Straßen und Vcrkehrswefcn wurde zum erjten Male feit den Tagen der Römer von Staats wegen wieder in großem Stil geforgt. Das franzöfifche Kaifcrreid» bot den Bewohnern des linken Rheinufers ein weites, durch Schutzzölle gededites Abfatzgcbiet für ihre Gewerbe und In= du(trieen, während allerdings das induftriell am weite{ten vorgcfchrittene rechts» rheinifche Großherzogtum Berg, das einen befondcrn, aber unter ähnlicher Vcrfaffung und Verwaltung [tchcnden Staat bildete, durch die Zollgrenze am Rhein und insbefonderc durch die Kontinentalfperre nach 1806 empfindlich gefchädigt wurde. Die franzöfilchen Präfekten endlich waren zwar zum Teil raubfüchtige Erpreffer, zum Teil aber fo ausgezeichnete Beamten, daß ihr glänzender Ruf bei der rheinifchen Bevölkerung nach 1815 noch auf Jahrzehnte vorhielt. So fügte man fich nach 1801 ohne Widerftand und Widerfpruch dem, was unabwendbar fehlen. Man fah, wie der Düffcldorfer J. P. Brewcr im Juni 1816 fchrieb, die franzöfifche Vcrfaffung und namentlich die Abfchaffung der Fron= dien(te, die gleiche Verteilung der Abgaben, die Mäßigung der Vorrechte des Adels und die Öffentlichkeit der Gerichte als einigen Erfatz für die verlorene Nationalität an. Das deutfche Gefühl verlor von Jahr zu Jahr an Bewußtfein feiner fclb(t, und bei manchen, insbcfondcre bei denen, die unter Napoleons Fahnen an dem Ruhm der franzöfifchen Armee teilnahmen, entftandcn franzö= fifchc Sympathieen. „Wir hatten uns mit den Franzofen abgefunden und refig= niert", fchrieb Görres 1818, „die Befreiung des Vaterlandes war fchwcrlich von uns zu erwarten." Das Verlangen, daß das deutfche Volk als fiebern Hort feiner von der Romantik wiedererfchloffenen nationalen Kultur den nationalen Staat crjtrebcn folle, wurde nidit laut. Nicht vom Rheinlande ift denn auch der Ruf und Anß:oß zur Befreiung der deutfchen Weftmark vom franzöfifchen Joch ausgegangen. Diefer Ruf kam vielmehr von außen. Er hatte feinen Ur= fprung in dem neuen, anders gearteten, lebenskräftigen und wagemutigen Nationalbewußtfein, das fich unter dem Drucke der napoleonifchen Herrfchaft nach der Schlacht von Jena im Jahre 1806 im Oftcn, auf dem alten preußifdien Boden, aus der Vcrfchmelzung deutfchen Gei(teslebens mit der noch erhaltenen politifdien Kraft des preußifchen Staats entwickelte. Unter der Führung von Fichte und Arndt, Schlciermacher und Humboldt, Stein und Hardenberg, Scharnhorft und Gneifenau gingen diefc beiden Kräfte dort in den Jahren 1807 — 1812 eine folgenreiche Verbindung ein. Die deutfche Bildung, die aus dem jungen nationalen Gciftesfchaffen, aus Dichtkunft und Philofophie, erwachfen war und in Schiller, dem Herold der kantifchcn Ethik, ihre |tärk(te und ausgebreitetfte Wirkung hervorgebracht hatte, wandte fich dem Staate zu, um ihm durch die volle Hingabe der Bürger an die öffentlichen Aufgaben nicht nur organifches Leben und vermehrte Kraft zu verleihen, fondern auch feine fittlidic Würde zu fteigern und ihn auf eine höhere Kultur= (tufe emporzuheben. Das Preußen Friedrichs des Großen war das Mujter des abfoluten Militär= und Beamtenftaats gewefen, ohne jede Teilnahme der bevormundeten bürgerlichen Bevölkerung am öffentlichen Leben. Audi der Medianismus des am feftejtcn gefügten deutfchen Staats erwies fich aber 1806 als zu fchwach gegenüber der Umgeftaltung Europas, die durch die braufenden Volkskräftc der franzöfifdicn Revolution hervorgerufen wurde. Durch die 616 Xn. J. Hansen, Das politische Leben a Reformarbeit einer Gruppe von Patrioten, die felb(t nicht Preußen von Geburt waren, aber nadi der Sdilacht bei Jena an den Staat des großen Königs ihre Zukunftshoffnungen knüpften und feiner Regierung ungerufen, aus freiem Antrieb, ihre Mitwirkung darboten, begann der preußifdie Staat fich nun einer modernen Staatsanfdiauung zu erfchließen. Um die politifchc Selbftbeftimmung wiederzuerlangen und die Gewalt Napoleons abzufdiüttcln, wollte die preußifche Reformpartei eine neue Volks« gefinnung fchaffen und die Machtmittel des Staates mit neuem Gcijte erfüllen. Die Maffe der Bevölkerung mußte zu dicfem Zwecke in enge Verbindung mit dem Leben des Staates gebracht werden. Das wirkte zunächlt auf die Armee ein. Vorher war das prcußifche Heer eine (tehcnde Armee gcwefcn, zufammen= gefetzt aus um Lohn, und zwar durchfchnittlich zwanzig Jahre hindurdi, dicnen= den Berufsfoldaten, die zur Hälfte geworbene Ausländer waren, und geführt von einem Offizierkorps, das faft ganz dem Landadel entß:ammte. Es beruhte auf dem Gedanken eines vom Bürgertum abgetrennten befondcrn Soldaten« ftandes und war das eigentliche dyna|tifchc Machtmittel in der Hand des abfo= luten Königs. Nun follte der Wiederaufbau der bei Jena von dem Nationalhcer der Franzofen zertrümmerten Armee nach dem Grundfatze der allgemeinen Dicnftpflicht erfolgen. Es folltcn fortan nur noch prcußifche Untertanen, aber die gefamtc dienfttaugliche Bevölkerung des Staates vom 20. Lebensjahre an, unter die Waffen gerufen werden. Das Bewußtfein, daß die Verteidigung des Vaterlandes heilige Pflicht aller Männer fei, follte allgemein werden. Nach dem Wehrgefetz vom -j. September 1814, das das dauernde Ergebnis diefer Bc» ftrebungen zufammenfaßtc, follte ein mäßiger Teil der wehrhaften Mannfchaft als Linientruppe drei Jahre der fch lagfertigen (tehenden Armee angehören und fpäter der Landwehr zweiten Aufgebots zugeteilt werden. Die Mehrzahl aber follte von vornherein als Landwehr erften Aufgebots eingezogen werden und außer regelmäßigen einzelnen Exerziertagen eine zufammenhängende jährliche Ubungszeit von nur wenigen Wochen haben. Sie follte fich wohl auch mit dem wehrhaften Geift der allgemeinen Dienftpflicht durchdringen, aber doch mit dem bürgerlichen Leben in Verbindung und nur im Kriegsfall längere Zeit unter den Waffen bleiben. Die Reform rief den Bürger nicht nur zur Teilnahme am Heer, fondern über« haupt am Staat auf. Vor 1806 war der prcußifche Gcfamtftaat eine abfolute Monarchie. Nur in den einzelnen Territorien, aus denen Preußen zufammcn= gewachfen war, hatte es feit Alters Stände als korporative Organifationen der privilegierten Klaffen, wiederum vorwiegend des Grundadels, gegenüber dem Fürjten gegeben. Seit hundert Jahren hatte aber der abfolute Monarch diefc Stände kaum noch zu Landtagen berufen, vielmehr den ganzen Staat felb» (tändig mit Hilfe feines Beamtentums regiert, deffen für den Gcijt der Re» glcrung wichtige Stellen aber ebenfo wie das Offilzierkorps im wcfentlichen diefem Landadel, als Erfatz für die ihm entzogene (tändifche Betätigung zu eignem Recht, vorbehalten. Nun follte der prcußifche Staat zunächft dem Grund- fatze bürgerlicher Rechtsgleichheit an Stelle (tändifchcr Geburtsvorrechte und Selbftfucht crfchloffcn, die Privilegierung des Adels follte befcitigt, die Erb» Untertänigkeit der Bauern aufgehoben, dann aber die Monarchie durch eine mo« dcrnc, rcpräfentative Vcrfaffung befdiränkt werden. Die Kraft des Staates follte durch dicfc Mitarbeit des Volkes eine Steigerung erfahren. Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, örtliche ^elbf^verwaltung der Stadt- und Landgemeinden, D Erstes Kapitel (1815): Preußische Reformbeweguug 617 der Krcifc und Provinzen follten die entfeffelten Volkskräfte zu wirkfamcr Teilnahme am öffentlichen Leben befähigen und fchulen. Die preußifchc Tradition faßte den Staat als Selbftzweck, und fie legte den Nachdruck des Staatszwecks nicht auf die Wohlfahrt und das Glück des einzelnen, fondern auf die Erhaltung und Stärkung der Gcfamtheit. In diefem Sinne hatte Friedrich der Große fich als den erften Diener des Staates betrachtet, und die volle Hin= gäbe an den Staat war der Geift, in dem das Beamtentum und das Offizierkorps zu wirken gewohnt waren. Diefes Staatsgefühl mit dem kategorifchen Imperativ der Pflicht follte jetzt audi im Volke verbreitet werden. Die Reformer waren vorwiegend von der Staatstheorie Kants beeinflußt, wonach durch eine all= mähliche Umbildung des fürftlichen Abfolutismus, der „die Bürger wie Kinder behandelte", der Staat ein bewußtes bürgerliches Gemeinfchaftsleben mit fitt= lichem Gepräge werden follte. jeder Bürger follte nicht nur in der Armee mit feinem Leben für den Staat eintreten, fondern auch fonft fo zu handeln lernen, daß feine perfönliche Maxime zugleich allgemeines Gcfetz fein konnte. Dem= gemäß follten die Bürger einen felbftändigen Anteil am Staate, insbefonderc an der Gefetzgebung, erhalten, Staatsbürger werden und (taatsbürgerlichc Freiheit erlangen, aber dicfe Freiheit follte darin beftehcn, daß jeder einzelne freiwillig im Sinne des Gemcinwefcns handelte. Krone und Volk follten fortan gcmeinfam als zwei von Vertrauen zueinander erfüllte Faktoren wirken, und der Staat follte, indem er auf eine breite und volkstümliche, von ethifchen Prinzipien geordnete Grundlage geftellt wurde, die Kraft gewinnen, den fchweren Kampf gegen den feindlichen Unterdrücker fiegreich durchzuführen. Das erneuerte preußifche Staatswefcn aber follte fich nach der Meinung der Patrioten der deutfchen Idee unterordnen. Der Wiederaufbau Preußens follte nicht diefen Staat als egoißifchen Sonderftaat im alten Sinne wiedcrhcrs ftellen, fondern ihn vielmehr zum hingebenden Mitarbeiter an einer größern, nationalen Staatsfchöpfung umgeftalten. Der nationale Staat allein, fo lehrte Fichte 1807, biete der nationalen Kultur Gewähr und Dauer. In einem neuen Deutfchland follte Preußen ebenfo wie die übrigen deutfchen Sonderftaaten aufgehen. Wenn es nach Gneifcnaus und Jahns 1808 zuerft ausgefprochenen Wünfchen ging, follte Preußen Vormacht und Haupt des neuen Reiches werden. Deutfchlands Zerfplitterung war die Urfache feiner Schwäche gewcfen. Selbft die beiden größten Staaten, Oftcrreidi und Preußen, mußten noch 1812 Napoleon fchimpflichc Hceresfolgc gegen Rußland leiftcn. Die ganze deutfche Nation follte daher in Zukunft durch ein unlösliches (taatlichcs Band zufammengefaßt und gekräftigt werden. Das deutfche Volk als Ganzes follte fich als politifche Einheit fühlen lernen. Alles das war im Werke, aber noch nicht vollendet, als im Herbft 1812 die Kataftrophe in Rußland zum Handeln drängte. König Friedridi Wilhelm III. hatte, crfchüttert durch das Unglück feines Staates feit dem Tage von Jena, dem Verlangen der Patrioten nach einem freiem und würdigern Verhältnis zwifchen Staat und Volk weit nachgegeben. Sein zweifelnder und zurückhaltender Sinn blieb indeffen ftets beforgt, wie es ihm gelingen werde, die alte Autorität der Krone gegenüber dem ftürmifchen Drängen der neuen volksmäßigen Be= wegung zu behaupten. Ihrem brennenden Wunfdie zur Tat kam endlich am 17. März 1813 fein Aufruf „An mein Volk" entgegen. Erfüllt von einem neuen preußifch=deutfchen, politifchen und patriotifchen Hochgefühl, und dennodi unter der Führung feiner angeftammten Monarchie, zog das preußifchc 618 Xn. J. Hansen, Das politische Leben a Volk im Begei{l:crungs(turm des Frühjahrs 1813 in den Kampf für die Freiheit. Und dicfes Hochgefühl drang während der nächften Monate auch über die preußifchen Grenzen in die übrigen deutschen Länder hinüber. Aus dicfer Entwicklung heraus aber gefchah es, daß im November 1812 der durch feine Geburt dem Rheinlande naheftehende Freiherr vom Stein und feine treuen Mitarbeiter E. M. Arndt und J. Grüner während ihres Auf= enthalts am ruffifdien Hofe dem bevorftehenden europäifchen Kriege die Auf= gäbe ftellten, das der Fremdhcrrfchaft verfallene deutfche Land weftlich vom Rheine bis zu der Scheide, den Ardennen und Vogefen zu befreien und wieder mit dem Vatcrlande zu vereinigen. E. M. Arndt wurde fchon im Augu(t 1799, wo er zum er/tenmal auf dem linken Rheinufer verweilt und den herrlidien Strom erblickt hatte, zornig erregt, als er fah, wie die Franzofen hier ihr Hcrren= redit übten und das rheinifche Land und Volk feiner natürlichen Eigenart beraubten. Den Feind vertreiben und ein einiges Deutfchland aufrichten, dem auch die Länder am linken Rheinufer wieder zugehörten, das war nun das Programm der Patrioten. Da fie damals in der preußifchen Regierung und Armee die Führung hatten, fo vermochten fie vom Februar 1813 ab auch die offizielle preußifche Politik in diefe Bahn zu bringen. Die Aufrufe des Königs appellierten nicht nur an preußifche, fondern an allgemein deutfche Gefühle: Preußen follte das franzöfifche Joch abwerfen und fich zum wehrhaften Schutz= herrn der deutfchen Nation erheben. Für diefen nationalftaatlichen Gedanken aber war das Gefühl der Rhein= länder felbft leicht zu entzünden. Daß nur die Zerfplitterung Deutfchlands es den Franzofen ermöglicht hatte, die Teile einzeln zu knechten und die Länder am Rhein zu unterjochen, war hier feit dem Jahre 1794 für niemanden zweifel= haft. Sobald die Nachricht von der Niederlage Napoleons in Rußland eintraf, fdion im Januar 1813, noch ehe Preußen fich zum Krieg entfchloß, kam es auf dem rechten Rheinufer in dem wirtfchaftlich benachteiligten Berg, in Solingen und Elberfeld, zu einem (allerdings vergeblichen) Aufftand wider die Franzofen. Nach der Leipziger Schlacht vom 18. Oktober 1813 aber, als E. M. Arndt die anfeuernde Parole: „Der Rhein Deutfchlands Strom, aber nicht Deutfchlands Grenze" ausgab, wurde die nationale Stimmung am Rhein allgemein. „Die Rheinländer empfingen die Alliierten als ihre Befreier mit offenen Armen; das Gefühl der Knechtfchaft war weg, das jeder von uns zur Franzofenzeit mit fich herumtrug", fchrieb der bcrgifche Predigersfohn J. F. Benzenberg, der in den nächften Jahren als der „erjie rheinifche Liberale" eine bemerkens» werte publiziftifche Tätigkeit entfaltete. Als dann in der Neujahrsnacht 1814 Blücher bei Caub über den Rhein gefetzt war, begann am 23. Januar J. Görrcs in Koblenz die Herausgabe des Rheinifchen Merkur, des Preßorgans, das als cr|te politifche Zeitung Deutfchlands zwei Jahre hindurch am Rhein den Sinn für das öffentliche Leben nicht nur durch heftige Angriffe auf alles Franzöfifche, fondern auch durdi anfeuernde und auffehenerregende Erörterung aller Fragen der Regierung und Verwaltung, der politifchcn, der gciftigen und der materiellen intercffcn Deutfchlands weckte. Hier knüpfte Görres im patriotifchen Geiftc von Arndt und Grüner wieder an die Gedanken an, die er im Jahre 1800 geäußert und die er in der Zwifchenzeit durch feine Verbindung mit der Romantik ver« tieft hatte, ohne (Ic indcffen öffentlich zu vertreten. Noch im Jahre 1810 hatte er n<^ vielmehr verzweifelnd über Deutfchlands nationalpolitifchc Zukunft tutgefprochen. „Jahrelang, fo fchrieb er jetzt, dauerte der Widcrftand der a Erstes Kapitel (1815): Wiedervereinigung mit Deutschland 619 Deutfchcn am linken Rheinufer gegen die ausländifchc Macht. Als endlich politifche Verhandlungen ihr Schickfal unwiderruflich bcftimmt hatten, fügten fie fich dem Unabwendbaren und wurden ruhige, gehorfame Untertanen, aber ihr Herz blieb bei ihrer Nation, und fie hörten nicht auf, Deutfche zu fein. Die IS/Iaffe des Volkes i(t durch alle die Zeit der fremden Herrfchaft fich felbjt gleich geblieben. Die verbündeten Heere haben uns einen Beweis gegeben, wie fie die alte Landsmannfchaft in uns ehren, dadurch daß fie gleich beim Ein= rüdx/cfens, des Markt* und Meflcwcfcns, der Handelsverträge ufw. zu gutaditlidier Äußerung vor« legte, gingen feit 1825 fclbltändige und politifdi bedeutfame Sdiiffahrts= und Eifcnbahnprojckte hervor, die den erwachenden kaufmännifdien Affoziations= gci(t wirkfam zur Geltung braditcn. Trotz aller fonftigen politifchen Differenzen erfüllte die Wirtfchaftspolitik der Regierung die führenden Männer in Handel und Induftrie am Rheine mit dem Bewußtfein, daß Preußen an feine glänzende Vergangenheit, an feinen Auffdiwung unter Friedridi dem Großen und in der Reformzeit 1807 — 1815 anknüpfen werde. „Unter allen Mattigkeiten in dem großen Lande, wo deutfdi gefprodien wird, gibt es nur eine hervorragende Richtung: es ift die preußifdie Handelspolitik", fchrieb L. Camphaufen 1835. Mit glücklichem Erfolge fuhr die Regierung nach 1830 fort, innerhalb der Grenzen des Dcutfchen Bundes einen großen innern Markt mit völliger Ver* kehrsfreiheit zu bilden. Am 1. Januar 1834 trat der preußifch«deutfche Zoll« verein ins Leben, der Süddeutfchland, die beiden Helfen, Thüringen und Sachfen mit Preußen zu einem einheitlichen Wirtfchafts gebiet verfchmolz. I[t der Zollverein überhaupt der ftärkfte Grund(tein deutfcher Einheit geworden, fo war er für die Rheinprovinz zugleich die erftc fe|te Klammer ihrer innern Verfchmelzung mit dem preußifchcn Staat. Die Führung im wirtfdiaftlichen Fortfehritt lag aber am Rhein traditionell in der Hand des kapitalkräftigen und unternchmungslu(tigen prote|tantifchen Bevölkerungselements. Der rheinifdie Frühlibcralismus, der die Verfchmelzung der Rheinprovinz mit Preußen und die Hegemonie Preußens in Deutfdiland wünfchte, hatte feine führenden Vertreter in evangclifchcn Bevölkerungsgruppen, zu denen fich einzelne religiös indifferente Katholiken gefeilten. Bei der preußifchen Regierung aber fand diefe Riditung keine Sympathie. Der König erkannte zwar am 8. Februar 1831 Hanfemanns „gute Gefinnung und löbliche Abficht" an. Aber fein Programm war der volle Gegenfatz zum monarchifchen Prinzip in dem 1815 formulierten Sinn und zu den (tändifchen Grundfätzcn der herrfchcnden Reaktion, die weder von einer prcußifdien Gefamtftaatsverfaffung noch von einer Neubelebung des nationalen Strebcns etwas wiffen wollte. Wenn Hanfemann zwar den Wert des Adels als konfer« vativen Faktors im Staate nidit leugnete, aber feine politifdie Bedeutung als im Hinfterben begriffen anfah, und wenn er den Kampf der bürgerlidien Ver« treter von Handel und Induftrie um politifche Emanzipation wünfchte, weil diefe bürgerlichen Schichten die zentrale Kraft des Volkes darftcUten und minde(tens ebenfo zuverläffige Stützen der Monarchie wie der Adel feien, fo widerfpradi das der Regierungsmeinung ebenfo wie feine Anfidit, Preußen fei nicht mehr Militär(taat wie unter Friedridi dem Großen, es könne eher ein Indu[tric(taat genannt werden. Die von ihm geforderte verfaffungsmäßige und gefetzmäßige Mitarbeit und Mitentfcheidung der Vertreter von Handel und Induftrie wurde nicht nur von den „retrograden" Elementen der Regierung abgelehnt, fondern auch die Schöpfer der preußifchen Wirtfchaftspolitik wollten alle Entfdieidungcn dem Beamtenregiment vorbehalten wiffen, liberale Ideen alfo nur durdi einen aufgeklärten Beamtenftand, nidit durdi eine repräfentative Verfaffung verwirk« liehen. Als Hanfemann 1831 in Aadien zum ßiellvcrtretenden Abgeordneten für den Provinziallandtag gewählt wurde, verfagte die Regierung die Bejtätigung, weil er noch nidit zehn Jahre lang Grundbefitzer war. Und als er im Jahre 1832 ein Buch „Preußen und Frankreidi (taatswirtfdiaftlich und politifch 680 XII. J. Hansen, Das politische Leben D unter vorzüglicher Berückfichtigung der Rheinprovinz" veröffentlichte, das eine Reihe der feit 1815 erhobenen Befchwerden der Rheinländer zufammenhängend in ruhiger Sprache erörterte, zugleich aber betonte, um wie viel (tärker die politifche Macht Frankreichs fei, weil es größere bürgerliche Freiheit gewähre als Preußen, nahm die Regierung das fehr übel. In feiner Annahme, daf? die Rheinprovinz damals höher mit Steuern bclajtet war, als in franzöfifcher Zeit, irrte der Verfaffer wohl. Aber daß fie im Verhältnis zu den ö(tlichcn Provinzen überbürdet war, traf ebenfo zu, wie fein Hinweis, daß die Exemtion der adligen Rittergüter im 0(ten wefentlich daran fchuld war. Die Hüter der reaktionären Regierungsprinzipien empfanden diefe Darlegungen als „unprcußifch", als „eine Art von Kriegsmanifeft der Rheinprovinz gegen den preußifchen Staat". Die konftitutionellen Männer am Rhein, der Fürft von Salm=Dyck fo gut wie die Kauflcute, erfchienen ihnen geradezu als „franzöfifch gefinnt". Eine Annäherung wurde aber erft recht unmöglich, als die Regierung nach dem Hambachcr Fe[t von 1832 aufs neue und jetzt fo tief in ein reaktionäres Fahrwaffer geriet, daß aufrichtig konftitutionelle Elemente jede Hoffnung ver= Heren konnten. Auf Metternichs Antrieb begann der Bundestag durch feine Befchlüffe vom 5. Juli 1832 wiederum die unwürdige Demagogenverfolgung, Audi in Preußen wurde alle freiheitliche Propaganda verhindert, wurden Vcr= eine und Verfammlungen verboten, wurde die Preßzenfur und die polizeiliche Aufficht über die Univerfitäten wefentlich vcrfchärft, und die Zentral=Unter= fuchungskommiffion in Mainz trat wieder gegen Burfchcnfchaft und dema= gogifche Umtriebe in Tätigkeit. Diefes Mal wurden, wenn auch nur vereinzelte Beziehungen im Süden der Rheinprovinz fowie in Köln und am Niederrhein zum Hambacher Feft und zum Frankfurter Attentat vom 3. April 1833 ermittelt wurden, viel zahlreichere Rheinländer in die Unterfuchungcn verwickelt als nach 1819. Der rheinifchen Preffe, die fich bisher in den größeren Städten nur bcfcheiden entwickelt hatte, wurde die Selbftändigkeit noch weiter verkümmert, als im Jahre 1832 in Aachen und Köln einzelne Wünfche nach Gewährung der Preßfreiheit an die Öffentlichkeit kamen. Der Juftizminiftcr Kamptz verfuchtc 1832 — 1839 ßinß fyftematifche Durchlöcherung des rheinifchen Rechts und der rheinifchen Gerichtsverfaffung. Das Hirngcfpinft der geheimen Verbindungen zum Umfturz des Staates lebte in den Wiener Kabinettskonferenzen von 1834 wieder auf, und vergebens kämpften am Rhein fogar die aus den alten Pro= vinzen flammenden Regierungsbeamten in den leitenden Stellungen dagegen an. Treffliche Männer wie die rheinifchen Obcrpräfidcnten v. Peßel und v. Bodel« fchwingh und die Rcgierungspräfidenten v. Reiman, Graf Arnim, Dclius, Cuny, V. Ladenberg betonten in ihren Berichten nach Berlin durchweg den guten Sinn der rlicinifchen Bevölkerung und warnten, ebenfo wie der rheinifche Landtag von 1833, vor kleinlichen inquifitorifchen Maßregeln. Das Minifterium aber ließ fie nun felb(t wie die gan.ie Provinz durch einen als Spion bekannten und verachteten Landrat Schnabel überwachen, der durch eine Flut von Geheim- berichten den Geift des Mißtrauens fchürte und immer wieder phantaftifche Einzelheiten über geheime Komplotte und hochverräterifche Umtriebe nach Berlin zu melden wußte. Die Regierung wünfchtc die liberalen Kaufleute und Induftricllcn von den politifchen Fragen abzulenken. Die materiellen Intereffen follten fic ganz erfüllen, damit die Politik Domäne der Regierung bleibe. Im September 1833 konnte der Oberpräfldent v. Peftel in der Tat berichten, die Provinz fei in D Drittes Kapitel (1824—1848): Reaktion 1830—1839 681 Sachen der Vcrfaffung nicht nur intcrcljfclos, fondern im Intcreffe der Rhein= lande dagegen. Selbft in diefen Jahren (tärkß:er Verftimmung traf das zwar auf die führenden Köpfe, auf politifche Kaufleutc wie Hanfemann und Camp= häufen, nicht zu. Ihre damaligen Eifenbahn= und Schiffahrtspläne bcweifcn, wie energifch ihr Gcift über die Provinz hinausftrebte und nicht nur von wirt= fchaftlichen, fondern audi von politifchen Ideen geleitet war. Sie fuchten die Regierung, allerdings vergebens, zu überzeugen, daß es deren eigene Aufgabe fei, die Eifenbahncn zu bauen. Da das nur mit Hilfe einer Staatsanleihe möglich war, fo wäre die Krone auf Grund des Staatsfchuldengefetzes von 1820 genötigt gewefen, zuvor die Reichsftände einzurichten. Die Liberalen verlangten weiter, daß die Regierung durch einen Handelsvertrag mit Belgien die politifchen Vor» teile der Trennung Belgiens von Holland ausnützen mü(Tc. „Nur das preußifche Intereffe, fchrieb Hanfemann 1831 nach Berlin, nicht das Gefühl für das Gelingen oder Fallen diefes oder jenes Prinzips der inneren politifchen Einrichtungen des Auslandes darf unfer Urteil leiten." Auch das blieb vergeblich. Die Rc= gicrung vermochte ihre Abneigung gegen den belgifdien Staat wegen feines revolutionären Urfprungs nicht zu überwinden. Im weitern Kreife der kon(ti= tutionell gefinnten Kaufleute wurde allerdings nach 1832, als Kamptz und Schnabel das äußerfte an Herausforderung des rhcinifchen Selbftbewußtfcins Icifteten, der rheinifche Partikularismus fo (tark, daß fich im Anfchluß an das Gouvernement des Prinzen Wilhelm vDn Preußen der Wunfeh nach einem dauernden Zuftand diefer Art ausbreitete. Durch eine adminiftrativc Trennung von den alten Provinzen glaubte man am eheften vor reaktionären Vorftößen ficher zu fein. Der Regierung crfchienen 1836 die liberalen Abgeordneten des Pros vinziallandtags Merkens (Köln), Mohr (Trier) und Getto (S, Wendel) unter dicfem Gefichtspunkt als Kern „einer fog. Oppofitionspartei". Im Verglcidi zu dem ftaatsgefährlichen Streben nach der Verfaffung betrachtete fie aber foldie parti= kulariftifche Velleitäten als das kleinere öbel. Sie lehnte es ab, aus der Rcvo= lution von 1830 die Lehre zu ziehen, daß fie den eigenen Staat durch konfti= tutionelle Zugcftändniffc (tärken muffe. Unvermutet aber fah fie fich in diefer Lage vor einem fchwcren kirchenpolitifchcn Konflikt. Seit 1830 empfing fie andauernd aus Paris, Brüffcl und dem Haag Denun= ziationen über eine revolutionäre, von Frankreich aus dirigierte Propaganda, über franzöfifche und belgifche Emiffäre am Rhein und über geheime, auf Revolution hinarbeitende Verbindungen in Köln, Aadien, Koblenz und Trier. Der Landrat Schnabel bemühte fich um zuverläffige Ermittelungen. Im allge= meinen war das Ergebnis negativ. Eine tatfächliche Grundlage hatten die Angaben indeffen, foweit es fich um Verbindungen der klerikalen Partei in Belgien mit dem Rheinlande handelte. Der Abfall Belgiens von Holland im Jahre 1830 war das gemeinfame Werk der durch die Union von 1828 verbundenen belgifchcn Liberalen und Klerikalen, die gemäß den von der Kurie eine Zeitlang geduldeten Lehren von Lamennais zur Revolution griffen, um auf der Bafis der Volksfouveränetät die kirchliche und die bürgerliche Freiheit zugleich zu erringen. Durch die belgifche Verfaffung von 1831 wurde der katholifchen Kirche volle Freiheit des Kultus und Unter= richts, fowie die Möglichkeit ungehemmter Machtentfaltung ihrer Autorität gewährt. Der Staat übernahm außerdem die Befoldung des Klerus, ohne daß ihm ein Einfluß auf deffcn Ausbildung oder Amtsführung zujtand. So wurde 682 XII. J. Hansen, Das politische Leben a die Kirche materiell vom Staate gefördert, während fie rechtlidi unabhängig von ihm wurde. Ohne daß der Staat fidi eine Mitwirkung oder ein Einfprudis« recht vorbehielt, erkannte er an, daß in feinem Bereich für die katholifche Kirche die römifdien Vorfchriften, alfo Vorfchriften einer auswärtigen Macht, unbe« dingt gültig waren. Die belgifdie Revolution wurde in der Rheinprovinz fehr verfchiedcn beurteilt. Der Liberale Hanfemann bezeichnete in den ]ahrcn 1830/31 den belgifchen Staat als „Baftardkind der Freiheit. Wir Deutfche in den preußifchen Rheinlanden find der Meinung, daß, fo gerecht die franzöfifchc Revolution war, fo wenig Veranlaffung zu der belgifchen gewefen fei. Es war töridit von den Belgiern, wegen einiger gegründeten oder unbegründeten Befchwerden das äußerfte, die Trennung, zu provozieren". Vom Standpunkt der preußifchen Staatsintereffcn war er allerdings, wie wir fahen, mit diefer Trennung zufrieden. Auf katholifcher Seite ftanden fich zwei Auffaffungen fchroff gegenüber. Von den Elementen, denen das kirchliche und politifche Verhalten der belgifchen Geiftlichkeit fchon feit Jahren vorbildlidi crfdiien, feierte Laurent im Juni 1831 begeiftert den revolutionären Erfolg, dcffen Ehre und beneidenswerter Ruhm dem Klerus gebühre. Aus welcher politifchen Gedankenwelt die Mittel (tammten, womit die Macht der katholifchen Idee aufgerichtet wurde, um die Völker wieder unter die gei(tigc Herrfchaft Roms zu (teilen, war für Männer diefer opportuniftifchen Richtung nicht entfcheidend. In ihrem Kreife mochte denn audi der in Belgien wiederholt auftauchende revolutionäre Gedanke einer bclgifch=rheinifchen Konföderation, alfo der Trennung der Rheinprovinz von Preußen und der Gründung einer belgifch=rhcinifchcn katholifchen Republik, einigen Anklang finden. In Belgien felb|t wurde diefer Plan durch die Auf» richtung der Monarchie hinfällig. Der neue Papft Gregor XVI. (1831 — 46) aber verurteilte durch feine Enzyklika vom 15. Auguft 1832 die von Lamcnnais verfochtencn, bisher geduldeten Grundfätzc. Auch im neuen Kirchenftaat hatten die Ereigniffe von 1830 eine Revolution mit dem Endziel bewirkt, die weltliche Herrfdiaft des Papfttums zu befeitigen. Auf Metternichs Intervention geftützt, (teilte Gregor XVI. 1831 den alten Zuftand wieder her und verfchloß fich nun äng(tlich jeder Konzeffion an moderne Ideen und liberale Reformen. Seine Enzyklika verdammte „den Indifferentismus, wonach auch ein anderer als der katholifche Glaube zum Seelenheil führen könne, den daraus entfpringendcn Wahnfinn der Gewiffensfreiheit und ungehinderten Meinungsäußerung, wodurch erfahrungsgemäß der Untergang der Staaten herbeigeführt werde, fowie die nicht genug zu verwünfchende Preßfreiheit, die den Gehorfam der Völker gegen die Fürftcn in Gefahr bringe". Eine fchnelle Trennung der liberalen von der ultramontanen Partei in Belgien nach 1832 war die Folge. Auf die Dauer konnte der römifchc Kirchenbegriff die Verbindung mit den demokratifchcn Lamennaisfchen Ideen nicht ertragen, die das Recht der Revolution behaupteten, die Volksfouveränctät forderten und auf eine wenig(tens vorübergehende Trennung von Kirche und Staat abzielten. Diejenigen rheinifchen Katholiken, die fleh an dem Frrfolg des politifchen Klerus in Belgien aufrichteten und auch In Preußen mindeftcns die volle Freiheit der Kirche wünfchten, fahen fich nun durch die päpftliche Autorität wichtiger belgifchcr Kampfmittel beraubt. Einzelne bewahrten allerdings auch nach der Verurteilung Lamennais' durch den Pap(t Ihm und feiner Devife „Dicu et libert^" ihre Sympathie. Seine „Paroles d'un cfoyant" von 1833, worin er das Prinzip des Staats als das Böfe definierte n Drittes Kapitel (1824—1848): Kirchenpolitik nach 1830 683 und im Namen der Religion die Volksfouveränctät und die Revolution forderte, wurden 1834 ^^ Koblenz, aber audi in Köln viel gelcfen. Von Anfang an aber hatten fleh gegen das politifche Treiben der franzö" fifd^en und belgifdien Gei(tlidikeit ausgcfprodien und ihr Eingreifen zugunjten der Revolution fdiarf verurteilt die eigentlidien Gegner der „katholifdicn Glaubensarmee", die rheinifdien Bifdiöfe. Die Regierung fudite deren hierar» diifche Autorität und Difziplinargcwalt gegenüber ihrem Diözefanklerus zu (tärken. Als im Sommer 1831 in Trier unter dem jungem Klerus eine Be* wcgung entftand, die die deutfche Sprache im Gottesdienft, Reformen der Beichte und der Kirdiendifziplin, freiere Stellung und bcfferc Gciftesbildung des Klerus und angeblich auch, in Anlehnung an Bejtrebungen in Württemberg, Aufhebung des Zölibats verlangte, unterftützte die Regierung den Bifdiof Hommer gegen diefc Selbftändigkeitsregungen feines Klerus. Sadilich hatte fie nichts gegen Bejtrebungen einzuwenden, die auf eine Ausgleidiung der Konfcffionen abzielten, aber fie wollte „die Rheinlande gegen die an[tedn religiöfer Sdimähpolemik. Eine Vorliebe für parke und verletzende Worte blieb feitdem kennzeichnend für die rheinifche Tagespreffe diefcr Farbe. Das gebildete Publikum bewahrte indeffen zum größten Teil der liberalen Preffe feine Sympathie, die den Exzeffen ultramontaner und pietiftifcher Erhitzung ebenfo abgeneigt war wie die Regierung, die den kon= feffionellen Kämpfen voll Beforgnis Einhalt zu gebieten fudite. Sie trug fidi 1845/46 mit dem Plan, neben dem evangelifch=gouvernementalen „Rheinifchen Beobachter", der wenig gelefen wurde und ungefchickt operierte, felbp ein katholifch=gouvernementales Blatt in der Provinz zu gründen, um die Gegen* fätze zu mildern. Die konfeffionellen Streitigkeiten des Jahres 1844 beeinflußten aber auch die Taktik der katholifchen Partei park. Seit Augup 1844 forderte die Rhein= und Mofelzeitung die volle Preßfreiheit, weil es ihr als eine Lebensfrage erfchien, daß die katholifche Weltanfdiauung fleh auch in der Tagespreffe gegenüber gegncrifchen Angriffen verteidigen könne. Sie überwand die vorhandenen Widerpände in der eigenen Partei. Der adite rheinifdie Landtag befchloß am 27. März 1845 mit 63: 6 Stimmen einen Antrag auf Gewährung der „fehnlichp crwünfchten Preßfreiheit". Selbp der Führer der Autonomen, M. v. Loe, führte jetzt aus, „die Abfchaffung der Zenfur fei notwendig, auch im Intereffe der Glaubensfreiheit, die Deutfchlands innere Ruhe und Frieden bedingt". Erzbifchof Geiffel war damit einverpanden. Man konnte fich darauf be* rufen, daß der Kardinal Pacca das die Preßfreiheit verdammende Urteil Gre« gors XVI. am 16. Augup 1832 im Auftrage des Pappes durch die Erklärung ergänzt hatte, die Klugheit könne im Einzelfall auf weltlichem Gebiete vor= fchreibcn, fie zu dulden. Auf dem Landtage gingen in diefer Frage Liberale und Katholiken zufammen. Aber auch in der Verfaffungsfragc kam auf diefcm Landtag eine Annäherung zupande. Die alten rheinifchen Befchwerdcn, die ungleichmäßige Verteilung der Grundpeuer in den verfchiedcnen Provinzen, die unbeliebte Schlacht= und Mahlpeuer, die Sicherung der perfönlichcn Freiheit, die durch eine Verordnung vom Jahre 1844 neuerdings gefährdete Unab= hängigkeit der Jupiz und andere mit dem Rheinifchen Redit zufammenhängende Punkte wurden auch 1845 erörtert, aber im Mittelpunkt pand jetzt die Vers faffungsfrage. Der königliche Landtagsabfdiied von 1843 hatte alles Drängen fchroff abgewiefen, aber die politifchc Rcgfamkeit der Rheinländer war in= zwifchen gcwachfen. Der Landtag wurde mit Petitionen aus nahezu allen rheinifdien Städten bepürmt. Die bcpehende Staatsform erfchien dem Volks* 6% XII. J. Hansen, Das politische Leben d bewußtfein nicht mehr angemeffcn. Konfeffionellc Zufammen(tößc wurden zwar befürchtet, Hanfemann aber führte eine Verftändigung von Liberalen und Katholiken herbei, indem er auf Wunfeh der letzteren einen ein(timmig anges nommenen Antrag auf formelle Aufhebung der Kabinettsordre von 1825 in Sachen der gemifchten Ehen einbrachte. Als dann Camphaufen namens der Liberalen den Antrag ftellte, der Landtag folle die Bitte um Vollziehung der Verordnung vom 22. Mai 1815 an den König richten, das Heil des Staates werde aus der Erfüllung der dem Volke 18t o — 1815 gemachten Zufagen er= blühen, und als v. Bcckcrath, Hanfemann und v. d. Heydt den Antrag unter« ftütztcn, trat nur der Führer der Autonomen, M. v. Loe, und zwar im Ein= vernehmen mit dem Erzbifchof Geiffel, fcharf dagegen auf. Er erblickte „in der Weiterbildung der ftaatlichen Zentralifation die größte Gefahr für die (tändifchcn Freiheiten und wollte nichts von allgemeiner Volksvertretung, nichts von Reichsftänden wiffen". Aber nur einige Adlige und von Bürgerlichen nur der Koblenzer Dietz, der alte Führer der dortigen „Glaubensarmee", ftanden auf feiner Seite. Die überwältigende, aus Liberalen und Katholiken zufammen« gefetzte Majorität (72 : 6) war tatfächlich für die Verfaffung, und 55 Abgeordnete ftimmten für entfprechcnde Maßnahmen. Aus Opportunitätsgründen richtete man zwar keine förmliche Bitte an den König. Aber der Landtagsmarfchall übernahm es, ihm zu berichten, daß der rheinifche Landtag „eine rcichsftändifchc Verfaffung, geeignet die Wünfche aller Klaffen der Bevölkerung in richtigem Verhältnis zu vertreten", als ein für das Wohl der Provinz unabweisliches Bedürfnis betrachte. Unter diefem Eindruck vollzogen fleh bei lebhafter Bc» teiligung die Neuwahlen im Jahre 1846. Der Liberalismus hatte die Führung in der Verfaffungs frage gewonnen, auch viele Katholiken gaben feinen Ver= tretern ihre Stimme, fo daß die Provinz jetzt 60 liberale Abgeordnete unter 78 zählte. Die Luxemburger Zeitung aber ftellte im Juli 1845, wenige Monate nach dem Landtag, aus Mangel an Abnehmern ihr Erfcheinen ein. Die liberale Partei hatte allerdings kein ganz einheitliches Verfaffungs« Programm, wie fie auch in der die Zeit bewegenden wirtfchaftlichen Streitfrage Schutzzoll oder Freihandel uneinig war. Aber die einigenden Momente über» wogen. Man ftimmte darin überein, daß „Grundveftc und Schlußjtein des politifchen Gebäudes" die erbliche Monarchie bleiben follte. Man wollte eine gcfchriebcne und garantierte, vom König verliehene, alfo dem monarchifchcn Prinzip entfpringcndc Verfaffung. Nur Hanfemann hielt an feinem 1830 aus» gcfprochencn Wunfchc fe(t, daß die Verfaffung mit dem König vereinbart werde. Einmütig lehnte man die Idee der Volksfouveränetät ab, was Camp= häufen auf dem Landtag 1845 begründete. Die Volksvertretung follte das gcfamte Staatsbürgertum rcpräfentieren und die (taatliche Einheit über den provinzialftändifchcn Partikularismus hinausheben. So cntfchieden man für die liberalen rheinifchen Inftitutioncn eintrat, fo wollte man doch auch „noch mehr Preußen werden, als wir es find". Man erjtrebte die Verfchmclzung der beiden Staatshälften, die Befeitigung der Refte des Feudalismus im Often und ihren Erfatz durch bürgerliche Gleichberechtigung im rheinifchen Sinne, die Erfüllung der ganzen Monarchie mit großem, einheitlichem Bürgergcifi und die Begründung eines gcmeinfamcii öffentlichen Lebens, um fo „dem prcu« Bifchen Staate mehr Kraft und Einheit verleihen, als bloße adminiftrativc Zen- tralifation zu geben vermag". Der Schwerpunkt follte alfo fortan in der in D Drittes Kapitel (1824—1848): Liberale Verfassungswünsche 1845 697 liberalem Geijte zu fchaffendcn Staatsvcrfaffung, nicht in der Provinzialver« faffung liegen. Von den beiden Kammern der Volksvertretung follte die er(tc geborene und vom König ernannte Vertreter des Adels, des Großgrundbefitzes, der Univerfitäten umfaffen und ein konfervatives Gegengewicht gegen die durchweg aus Wahlen hervorgehende zweite Kammer bilden. Die Kammern folltcn jährlich berufen werden, die Abgeordneten Vertreter der Gefamt= interedcn fein. Wünfchte Hanfemann, daß das aktive Wahlrecht direkt und lediglich nach der Kopfzahl ausgeübt fowie an einen beftimmten Befitz und Zenfus geknüpft, das paffive dagegen auch den weniger bemittelten Vertretern geiftiger Berufe crfchloffcn werde, fo war auch Camphaufen grundfätzlich gegen (tändifche Gruppenbildung. Er, v. Bcckerath und insbefonderc Meviffen waren aber bereit, fich dem beftehenden Zujtand anzupaffen. Der 1815 verheißene Aufbau der Landesrepräfentation auf die Provinzialjtände, den Hanfemann preisgeben wollte, um das einheitliche Staatsbürgertum fchärfer zur Geltung zu bringen, blieb möglich, wenn die Provinzialftände vorerjt fo reformiert wurden, daß fle auf Grund von direkten Wahlen der cr(tcn Wähler nach berufs= (tändifcher Gliederung alle Kla[l"en umfaßten und fo doch die Idee einer ge= wählten Repräfentation des allgemeinen Staatsbürgertums verkörperten. Alle Klaffen der Bevölkerung follten „in richtigem Verhältnis vertreten fein", fo daß die Volksvertretung in ihrer Mehrheit die Mehrheit der materiellen und intellek= tuellen Kräfte des Volkes repräfentierte. Man wollte kein allgemeines gleiches Wahlrecht; denn „Herrfchafi der Maffen ift keine Freiheit". Den Umfang der Rechte und Pflichten der Volksvertretung zu beftimmen, (teilte Camphaufen namens der Partei 1845 der Weisheit und dem freien Entfchluß des Königs anheim. Was man wünfchte, war aber nach Hanfemanns Zufammcnftellung vom April 1846: Preßfreiheit, Glaubensfreiheit, Petitionsrecht, das Recht fich unbewaffnet zu vcrfammeln und über Petitionen an die Behörden und die Stände zu beraten, Unabhängigkeit und Öffentlichkeit der Juftiz, Gefchworenen= gericht über alle politifchen Vergehen und Verbrechen, Aufhören aller Kabinetts» ordres und Ordonnanzen über Gegenjtändc, die das Eigentum und Perfonen= rechte betreffen, fowie das Recht, jährlich die Steuern und Staatsausgaben fe(t= zufetzcn und zu bewilligen. Man wollte wie Rotteck das Glcidigcwidit der Gewalten durdi Gewaltenteilung, ohne für alle Gefetze das Recht der Be= fchlußfaffung zu verlangen. Der bei der Gewaltenteilung drohenden Lähmung der Staatsenergie wollte man durch „verantwortliche" Minifter begegnen. Die allgemeine Richtung der Regierungspolitik follte fich der Majorität der zweiten Kammer anpaffcn, und der König follte feine Minifter nidit mehr nur dem konfervativcn Beamtentum entnehmen. Man dadite dabei ebenfo wie bei dem Verlangen voller jährlicher Budgetbewilligung keineswegs an eine konftitutionelle Schwächung des monarchifchen Mittelpunktes, war vielmehr überzeugt, daß Krone und Staat dadurch an wirklicher Kraft nichts einbüßen würden. „Es i(t meine innigfte Überzeugung, fo äußerte fich auch jetzt wieder Hanfemann, (vgl. oben S. 677), daß eine [tarke königliche Macht zur Aufrechterhaltung und Stärkung der Nationalunabhängigkeit, zum Glücke des Volkes und zur dau= ernden Befeftigung der Freiheit notwendig ift." Nur follte der einfeitige und beftimmcnde Einfluß, den jetzt die aus konfervativem Lager entnommene Beamtenfchaft und Umgebung des Monarchen auf Krone und Staatsverwaltung übte, das bureaukratifche Syftem der Trennung von Fürft und Volk, befeitigt werden. Ge(tützt auf ein kräftiges Bürgertum von der Art, wie es den Kern 698 XII. J. Hansen, Das politische Leben a der gewcrbrcidien Rheinprovinz bilde und auch in den übrigen Provinzen die Zukunft zu tragen bcftimmt fei, werde die Krone, fo vertraute Hanfemann, (tärker und geliebter als je nadi innen und außen daftehen. Nicht anders dachten die übrigen liberalen Führer. VerfafTungseinrichtungen gäben zwar, fo führte Camphaufcn 1845 aus, den Volksvertretungen oftmals Rechte, die den Souverän abhalten könnten, einen nadi ihrer Meinung nicht mit dem Willen des Volks übereinftimmcnden Willen zu äußern. Monarchifche Verfaffungen beruhten aber auf der Annahme, daß der Wille des Souveräns zugleich der Wille des ganzen Volkes oder der Majorität des Volkes fei; fic bezweckten die Harmonie zwifdien dem Monarchen und den Untertanen. Audi die rheinifchcn Katholiken waren wohl in einzelnen Grundfragen einig, aber bei ihnen überwogen dodi die Divergenzen. Für kon(titutionellc und autonome Katholiken (tand übereinftimmend an der Spitze der Wünfchc die „Glaubensfreiheit". Bei der Unmöglidikeit, neue Organe der Tagespreffe zu gründen, fand dicfer Wunfeh feinen Ausdruck in zahlreichen vom Klerus geleiteten Wochcn= und Sonntagsblättern, Pa(toral= und Kirchenblättern, neben denen die Gründung von religiöfen Vereinen (Klemensverein um 1840, Borro* mäusverein 1844) audi den mündlichen Gedankenaustaufch und die Gruppen= bildung förderte. Die Glaubensfreiheit war in Belgien 1831 verfafTungsmäßig unter Mitwirkung des Epifkopats formuliert worden. Für die konftitutionellen Katholiken lag diefes Vorbild am nächften. Aber in Belgien war 1831 die Situation wefentlich anders als jetzt am Rhein. Im Jahre 1815 hatten in dem konfeffionell gemifchten und unter einer proteftantifdicn Regierung (tehenden Königreich der Niederlande die belgifdien Bifchöfe einmütig eine auf der Freiheit beider Bckenntniffe ruhende Verfaffung als unvereinbar mit dem tragenden Grundgedanken der katholifchen Kirche abgelehnt. Im Jahre 1831 handelte CS fleh dagegen nur noch um die abgetrennten, ganz katholifchen Provinzen, wo der Protc(tantismus nur ein Drittel Prozent der Bevölkerung ausmachte. Als man dort im Gefolge der Ideen von Lamennais dem Liberalismus fowohl die individuelle Religionsfreiheit als auch die Freiheit aller diriftlichen Kulte zugeftand, kam diefe nach Lage der Dinge doch fo gut wie ausfchließlich dem katholifchen Kultus zugute. Die belgifche Regierung geriet bis 1847 in ß:arke Abhängigkeit vom katholifchen Klerus, der durch die unter feinem Einfluß gewählte Kammermajorität das Land beherrfchtc. In Preußen dagegen wiedcr= holte fich jetzt der niederländifche Fall von 1815. VerfafTungsmäßige Garantie kirchlicher Freiheit kam hier auch der evangelifchen Kirche zugut, und diefe war durch ihre Verbindung mit der Krone, der Regierung und Beamtenfchaft wie durch die verhältnismäßige Anzahl ihrer Mitglieder in Preußen noch weit günftiger geftellt, als 1815 im Königreich der Niederlande. Zwar hatte Kardinal Pacca CS 1832 für ein Gebot politifcher Klugheit erklärt, unter gewifl"en Umjtän* den auch die Freiheit der Religionsbekenntniffe als das geringere Übel zu dulden, nur dürfe fie von einem Katholiken niemals als gut oder wünfchenswert bc» rcichnct werden. Der Kölner Erzbifdiof Gciffcl aber nannte Ende 1845 eine prcußifche Verfaffung ein Unglück für die Katholiken, weil diefe vorausfichtlich In der Volksvertretung ftets durch die evangelifche Majorität überftimmt würden. Er teilte alfo den Standpunkt der Luxemburger Zeitung. So verfagten die rhei» nifchen Bifchöfe cbcnfo wie die Autonomen den Katholiken die Führung auf dem Wcfe zur Verfaffung, deffcn Ziel, die politifche Gleichftellung der Konfeffionen, t«tfjlchlich die moderne Staatsidcc über die cxklufive römifchc Kirchenidee D Drittes Kapitel (1824—1848): Katholische Verfassungswünsche 1846 699 fetzte. Wie weit aber katholifche Laien diefc Frage als rein politifdi und von der kirchlichen Autorität unabhängig betraditcn durften, war ungewiß, da die Kirdienleitung für die Grenzbcftimmung des ihrer Autorität untcrftehendcn religiössfittlidien Fragenkomplexes die alleinige Zu(tändigkeit bcanfprucht. Wenn die rheinifchen Liberalen fich für die verfaffungs mäßige Glaubens» und Gcs Willensfreiheit einfetzten, fo waren fic, wie Hanfemann 1845 ausführte, der Meinung, daß „in allen Fragen der bürgerlichen und politifchen Redite, des materiellen und geiftigen Fortfehritts in ftaatlichen Einrichtungen die Konfeffion ohne Einfluß fein könne und müJTe, und daß die in Belgien durchgeführte Trennung der Zivilgcfetze von dem religiöfen Gebiete audi in Preußen eines der be(ten Mittel fei, um diefen Zweck zu erreichen". Die Zeit, wo Preußen fidi als proteftantifchen Staat betrachten mochte, fei vergangen. Hanfemann war, wie die übrigen rheinifdien Liberalen, für Trennung von Kirdie und Staat, und er nahm an, daß die katholifchen Kon(titutionellen ähnlidi dachten. „Die Mehr= zahl der in der Rheinprovinz wohnenden Katholiken, fo fchricb er im Januar 1847, iß: wirklich katholifch, will aber doch den vollen Rechtsftaat in unferm Sinn und mag nicht die Jefuiten, nicht die Unterordnung der Zivilgewalt unter die Geiftlidikeit". Diefe Frage war indeffen noch keineswegs geklärt. Papjt Gregor XV L hatte fich vielmehr in feiner Enzyklika vom 15. Augujt 1832 gegen die Trennung von Imperium und Saccrdotium ausgcfprodien und betont, die Verbindung von Kirche und Staat fei [tets für beide Teile heilbringend gewefen. Abgcfehen hiervon be(tanden zwifdien den liberalen und den katholifdicn Wünfdien für die preußifdie Verfaffung manche Ubereinftimmungen, aber audi wichtige Unterfchicde. P. Rcichenspcrger fkizzierte anfangs 1847 fein Programm. Es geht nicht vom (tädtifchcn Bürgertum, fondern von den ländlichen Zuftänden aus und vertritt einen mittlem Standpunkt, der fich gleichmäßig gegen die Hallerfchcn Doktrinen und die Autonomie des Adels wie gegen die radikaU demokratifdien Ideen wendet. Im Gegenfatz zu der „Anarchie der Volks» fouveränetät" foll die gefchichtlich begründete Monarchie „von Gottes Gnaden" dauernd die Einheit der fouveränen Staatsgewalt darltcllen, aber durdi eine Verfaffung befchränkt fein. Die (taatlidie Zentralifation foll nur Heerwefcn, Finanz«, Steuer» und Handelsgefetzgebung fowie eigentlidies Staatsrecht be» rühren; im übrigen find provinzielle und lokale Autonomie möglichft zu ent= wickeln. Die „korporativ=repräfentativc" Verfaffung foll Volksrechtc mit allge= meinen Garanticcn, insbcfondere mit einer periodifch zufammcntretenden Volks» Vertretung zur Wahrung und Ausübung diefcr Rechte, förmlich anerkennen, jede auf Kopf» und Zahlcnvcrtretung der atomifierten Bevölkerung bafierte Repräfentation moderner Art wird abgelehnt, ob (le nun auf dem allgemeinen gleichen oder einem Zcnfuswahlrecht beruht. Die Volksvertretung foll „nidit nach der Kopfzahl, fondern nach den poptivcn Intercffen der Bevölkerung, alfo zunädi(t nach dem Befitztum, dem Erwerb und der Intelligenz bemeflcn werden". Den befitzlofen Klaffen foll „eine verhältnismäßig ohnmächtige Anzahl" von Vertretern eingeräumt werden, „um ihre fozialen Intereffen weniger durdi ihr Votum als vielmehr durch ihre ern(tc und eindringlidie Sachführung geltend zu machen". Die verfehlten Provinzialftände von 1823/24 muffen reformiert werden. Auf Gemeinden, Kreifcn und Provinzen — ganz im Sinne der Ideen von 1815 bis 1820 — und zwar in den nach Zünften, Ständen und Korporationen, nadi lokalen und provinziellen Verfchiedenheiten organifch wiedcrherge(tellten 700 XII. J. Hansen, Das politische Leben d Verbänden foll fleh die Volksvertretung von unten her aufbauen. Die Erftc Kammer foll teils geborene, teils vom König ernannte Mitglieder enthalten; die Zweite Kammer foll keinen allgemeinen Landtag, fondern nur gemäß der Landtagsmajorität von 1843 „die Einheit der Ausfchüffe aller ProvinziaU (tände" darftellen. Der Schwerpunkt foll alfo in den Provinzen verbleiben. An Rechten foll der Volksvertretung fowohl für die Gefetzgcbung als auch für die Bewilligung neuer Steuern befchließende Stimme, aber — im Sinne der rhei= nifchenVorfchlägc von 1817 (S.650) — nicht die volle jährliche Steuer=und Budget= Bewilligung zuftehen. Durch fie wäre die Zweite Kammer imftande, den Staat zu fuspendieren und bei konfequenter Durchführung eine abfolute Tyrannei zu üben. Alle unbedingt erforderlichen Steuern zu den notwendigen Staatszwecken in Juftiz, Kultus, innerer Verwaltung und Kriegswefcn muffen vielmehr cin= für allemal unter Konkurrenz der Volksvertretung auf Grund des Herkommens fe(ts gc(tellt werden, und nur etwaige Veränderungen, befonders alle Erhöhungen diefer notwendigen Steuern, die Kontrollierung von Staatsfchulden, die Ver= äußerung von Domänen und andere nicht abfolut unvermeidlichen Ausgaben foUen ihrer periodifch wiederkehrenden Einwilligung unterliegen. Ein von der Kammermajorität nach englifch=franzöfifch=belgifchem IVlufter abhängiges Mini= Itcrium i(t nicht empfehlenswert; es foll jedoch auch keine volle Gewaltenteilung (tattfinden, vielmehr foll die Volksvertretung nicht nur bei der Gefetzgebung, fondern auch bei der Verwaltung des Ganzen, insbefondere aber der Teile mit= wirken. Volkstümliche Adminiftration und möglichft umfaffende Selbftregierung follen das Ziel fein, während die Liberalen zwar auch für Selbstverwaltung waren, aber nur fo weit, als ^^dic Zentralkraft des Staates^ durch welche feine Macht vorzüglich bedingt i(t, dadurch nicht gefdiwächt wird". Keines diefer beiden Programme wies aber die von Camphaufen nach dem Vorbild der Verordnung vom 22. Mai 1815 als Zweck der Verfaffung bezeichnete Eintracht zwifchen Krone und Volk auf, fondern es beftand nach beiden ein fcharfer Prinzipiengcgenfatz zwifchen Krone und Rheinland. Der König wollte keine garantierte, fchriftliche Verfaffung, nicht „die fündhaften Poffcn, die tiefe Unwahrheit und das häßliche Theaterfpiel moderner Konftitutioncn", für ihn gab es kein prcußifdies ^^Volk", das ihm gegenüber als Rechtsfubjekt und Staats= organ repräfentiert werden konnte, und er wollte nicht das„periodifche Fieber", die regelmäßige Wiederberufung der Volksvertretung, ohne die ein wahres Ver= trauensverhältnis zwifchen Regierung und Volk undenkbar ift. Das trat zutage, als beide Parteien zunächft 1846 im Landtagsabfchicd eine kränkende Ablehnung ihrer Wünfchc erfuhren, dann aber durch das Patent vom 3. Februar 1847 über= rafcht wurden, durch das der König einen Vereinigten, alle acht ProvinziaU landtage mit 530 Abgeordneten umfaffenden Landtag nach Berlin berief. Das Patent und die Thronrede vom 11. April gcftanden diefem in Friedenszeiten das Bewilligungsrecht nicht nur für Anleihen, fondern auch — über das Schulden» gcfctz von 1820 hinausgehend — für Steuererhöhung und neue Steuern zu. Daß Ihm bei der Gefetzgcbung nur beratende Stimme gewährt wurde, wider» fprach kaum den Erwartungen der liberalen Rheinländer, dagegen enttäufchtc allgemein, daß ihm die periodifche Berufung vcrfagt wurde, die ihm eine Mit= Wirkung im Sinne der 1820 den zukünftigen Rcichsftänden vcrfprochcncn i^hriichen Kechnungslage gef^attete. Zudem bcftritt der König ihm durchaus die Eigenfchaft einer Repräfcntation des ganzen Volkes, fprach vielmehr die D Drittes Kapitel (1824—1848): Vereinigter Landtag 1847 701 drei bcftchcnden Stände als dauernde Staatscinriditung, vor allem aber und >x'efcntlich als Vertreter und Wahrer der eigenen Rechte an, er lehnte jede gefchriebene Verfaffung ab, er erklärte, unter keinen Umftänden das Ver= hältnis zwifchen Fürft und Volk in ein konftitutionelles verwandeln zu wollen, und er prote(tierte feierlich gegen weitergehende Zugeftändniffe, gegen Preßa frciheit, gegen das „Mitregieren von Repräfentanten, die Teilung der Souve= ränetät und das Brechen der königlichen Vollgewalt", mit der Verficherung, die Krone könne und dürfe in Preußen nicht nach dem Willen von Majoritäten regieren. Den Konftitutionellen, insbefondere den Rheinländern, wurde die EnU täufchung dadurch nicht gemildert, daß der König feinen Standpunkt mit Preußens gefchichtlicher und tatfächlicher Eigenart als Militärmacht begründete, der Eigenart, die dem Bruder des Königs, dem Prinzen Wilhelm, fchon die dem Landtag gewährten Kompetenzen als zu weitgehend crfcheinen ließ. Auf dem Gebiete des Armee wefens be(tanden die Gegenfätze von 1815 noch fort, war die Einheit von preußifchem Staat und preußifchem Volk noch nicht erreicht. Preußens hiftorifcher Aufjtieg beruhte darauf, daß Größe und Einrichtungen feiner ftehenden Armee nur dem unabhängigen Willen des Monarchen unter» worfen waren. Die Vorliebe der Rheinländer wie der liberalen öffentlichen Meinung in Deutfchland überhaupt galt aber noch immer nicht dem ftehenden Heere, mit dem die rheinifche Bevölkerung wiederholt — fo noch im Augu(t 1846 in Köln — in Konflikte geriet, fondern den landwehrartigen Einrich= tungen. Der andauernde Frieden und die fchwächliche auswärtige Politik Preußens, das feit 1815 im Schlepptau von Ofterreich und Rußland fuhr, gaben den Linientruppen keine Gelegenheit, ihre Vorzüge zu bewähren. Für die öffentliche Meinung ftand daher die innere Politik einfeitig im Vordergrund. Man wollte gewiß keine Preisgabe der allgemeinen Wehrpflicht, weil ohne fie, wie Hanfemann 1840 ausführte, kein mächtiges Preußen denkbar war. Und wenn er grundfätzlich die jährliche Steuerbewilligung durch die preußifche Volksvertretung verlangte, fo fchaltete er doch ausdrücklich das Recht aus, die zur Stellung des Kontingents für das dcutfche Bundeshecr erforderlichen Summen zu verweigern. Allgemein und grundfätzlich aber wünfchte man die Ver= minderung des ftehenden Heeres. Man erkannte nicht, wie fehr es Staat und Volk zu verbinden geeignet war. Wenn A. Reichensperger 1848 urteilte, die Landes= bewaffnung muffe aufhören, mitten im Frieden die heften Kräfte des Landes aufzuzehren, fo fand auch der rheinifche Liberalismus, fo fehr er für eine preu= ßifche Machtpolitik geftimmt war, zu der tatfächlichen und erzieherifchen Be= deutung des fpezififchcn Machtelements der preußifchen Monarchie kein Ver= hältnis. Auf diefem Gebiete beftand ein unüberbrückter Gegenfatz der Rhein= ländcr zur Krone und ihrem perfönlichen Regiment wie zum konfervativen Adel der alten Provinzen, der den Kern des Offizierkorps ftellte und durch Tradition und Intereffe mit der alten Berufsarmee völlig verwachfcn war. Im übrigen bewiefen die rheinifchen Liberalen auf dem Vereinigten Land= tag, daß fie nicht als Doktrinäre, fondern als praktifche Staatsmänner vorzugehen verftanden. Ihre durchweg loyale und maßvolle Initiative (teilte die Einmütig» keit mit auseinanderftrebcnden liberalen Vertretern der öftlichen Provinzen her. Sie wirkten erfolgreich für den Geift feftcn ftaatlichen Zufammenfchluffes über alle provinziellen Schranken hinüber, v. Beckerath,Camphaufen, Hanfemann, von der Heydt und Meviffen, die dem rheinifchen Liberalismus fein Gepräge 702 XII. J. Hansen, Das politische Leben a verliehen, erhoben ihn hier mit einem Schlage zu einer führenden parlamen« tarifchen Stellung, die nidit nur in Preußen, fondern auch im übrigen Deutfdi» Und und felbft im Ausland bereitwillig anerkannt wurde. Die Vertreter des alten Rcgierungsfy(tcms zeigten fich dagegen der Oppofition keineswegs gc» wachfen. Der König gab allerdings nidit nach; die miteinander (trcitenden Prinzipien waren unverföhnlich. Nidit einmal die Periodizität wollte er zuge(tehen, was die liberale Oppofition mit der Verweigerung der vom König gewünfditen Dreißigmillionenanlcihe für eine Eifenbahn von Berlin nadi Königsberg beant» wortete. Es gelang nidit, auf friedlichem und freiwilligem Wege die preußifdie Monarchie in einen modernen Verfaffungsftaat umzuwandeln. Der Einfluß des Landtags, deffen Verhandlungen zu einer Kette von Kompetenzkonflikten wurden, war vielmehr bei feinen bcfchränkten Rechten wefentlich moralifcher Natur. Aber der Eindrudi im Lande, daß Preußen der Verwirklichung des konjtitutionellen Redits(taats wefentlich näher gcrüdx/urdcn beide Gruppen durch die Revolution überrafdit. Der Wcllenfdilag der Revolution aber, der plötzlich die bisher gebundenen Kräfte der Maffcn für das politifdie Leben frei machte und die tiefe Miß» (timmung der bürgerlidien Bevölkerungsfdiichten in Preußen und Deutfchland ans Lidit braditc, verlieh nidit nur allen volksmäßigen Beltrebungen gegen die Regierungen einen unerhörten Nadidruck, fondern er verfdiob zu- gleich innerhalb diefer Beftrebungen den Sdiyjferpunkt von der gemäßigt» liberalen auf die dcmokratifch=radikale Seite. Mit alles fortreißender Ge- walt erfaßte der ^X/irbeI den preußifchen Staat, der ähnlich wie 1806 nach der Schlacht bei Jena jäh zufammenbrach. Die älteren konßiitutioncllen Be(tre»» bungcn am Rhein aber wurden durch die fchwere Krifis an ruhiger Fortbildung gehindert. Das fozialiftifche Programm, daß der Staat den Bürgern Freiheit und Gleichheit, zugleich aber Arbeit und ausreichenden Lohn zu fchaifen habe, beraufchte die MaJTen im Hinblick auf die franzöfifche Republik des Vierten Standes unter den Aufpizien von Louis Blanc. Hatte die Teuerung und Arbeits» lofigkeit der letzten jähre die Ungeduld ge(teigert, fo verlieh die Furcht vor einem fchnellen kriegerifchen Angriff Frankreichs jetzt der nationalen Idee die Kraft D Sechstes Kapitel (1871—1915) : Die neue Wirtschaftspolitik 1879 813 promiß herbeiführte, wonach die Präfenz nicht dauernd, fondern für ficben Jahre (bis Ende i88i) feltgelegt wurde, die Nationalliberalc Partei alfo für die Armee auf die jährUdie Budgetfeftfetzung liberaler Obfervanz verzichtete, eiferte P. Reidicnsperger am 14. April gegen dicfe Befchränkung des Budget» rechts, und mit der Fortfchrittspartei, die die jährHche Fe|tfetzung der Friedens» präfenz forderte, (timmte am 4. Mai audi das 91 Mitglieder zählende Zentrum gefdiloflen gegen das Septennat. Die rheinifche Zentrumspreflc warf den Nationalliberalen vor, fie feien „unter das kaudinifche Jodi gegangen". Nadidem aber für fieben Jahre die Armee gefiebert war, hatte die Regierung den National« liberalen gegenüber freie Hand. Schon im Augu[t 1874 äußerte der Kaifer, man muffe jetzt wieder konfervativ werden. Von konfervativer Bafis aus fuditc Bismarck nun zunäch(t die neue Wirtfchaftspolitik des Reidis zu orientieren und die Reichsfinanzreform durchzuführen. Auch der oftelbifche Adel war bisher freihändlerifch gewefen. Da aber nach 1870 die ausländifchc Konkurrenz den landwirtfchaftlichen Export zu lähmen und die inländifdien Getreidepreife zu drücken begann, fo war er jetzt für Schutzzoll. 1876 trennte fich Bismarck von feinem freihändlerifchen Be« rater R. Delbrüd< und näherte fidi wieder den Konfcrvativen. Im Einver» (tändnis mit ihm erklärte Wilhelm I. im Oktober 1877 wiederum, es fei Zeit, mit dem Liberalifieren einzuhalten, er habe viele Konzeffionen gemacht, jetzt aber fei CS genug. Im März 1878 wurde der freihändlerifch gefinnte Finanzminiftcr 0. Camphaufen entlaffcn, der letzte Rheinländer, in deffen Händen ein prcu« ßifchcs Mini(terportefcuille geruht hat. Der Eintritt Bennigfens in das prcu« ßifche Miniftcrium war Ende 1877 am Widerfpruch des Kaifers und an der Haltung der Nationalliberalen gefdieitert. Bismarck hatte nichts einzuwenden, fo lange es fich um Bennigfcn allein handelte. Aber der linke Flügel der National» liberalen wollte gleichzeitig mit ihm noch zwei weiteren Parteiführern die Bahn geöffnet fehen. Im Rahmen der Regierungspolitik war das ganz aus= gefchloffen. Es hätte nicht nur den geplanten Ausbau eines nationalen Wirt= fchaftsfy(tems, das der Landwirtfchaft und der Indu(trie den fehlenden Sdiutz gewähren folltc, unmöglich gemacht, fondern auch dem parlamentarifchcn Sy(tcm Vorfchub gelci(tet, das die Regierung nadi wie vor ablehnte, weil es nach ihrer Überzeugung die Monardiie gefährdete, die Ziele der Fortfchritts- partei förderte und den Staat der Republik entgegenführte. Weniger gefährlidi als die Fortfchrittspartei erfchicn dem Reichskanzler trotz des Kulturkampfes das Zentrum. „Wenn ich in die Alternative geftellt werde, zwifchen einer Annäherung an das Zentrum und einer Annäherung an den Fortfehritt zu optieren, fo wähle ich aus (taatsmännifchen Gründen das Zentrum, die Seite, durdi welche meiner Anficht nach das Staatsfchiff weniger periklitiert, fondern nur in feiner Steuerung einigermaßen geniert und gehemmt wird, ohne gerade Gefahr zu laufen." Im Februar 1863 hatte Bismarck fchon einmal die Anlehnung an die Katholifche Partei gcfucht, um gemeinfam mit ihr gegen die Demokratie angehen zu können (S. 775). Das Zentrum aber, das bisher auch dem Freihandelsprinzip gehuldigt hatte, trat jetzt an der Seite der Konfervativen für die Schutzzollpolitik ein, während das Gros der Nationalliberalen nicht von der Freihandelsdoktrin laffen wollte. Der Augenblick war gekommen, wo die konfcrvativ=konfeffionellen Kräfte, die 1848/1850 in Preußen die liberale Verfaffungsbewegung aufgegriffen und zu ihren Gunftcn umge^altet hatten, auch im neuen Reich, deffen volks» mäßige Vorbereitung gleichfalls in der Hand des Liberalismus gelegen hatte, 814 XII. J. Hansen, Das politische Leben a (Ich anfchickcn konnten, die Erbfchaft anzutreten und fortan in ihrem Gcijtc zu entwickeln. Die rheinifdien Nationalliberalen erwiefen fich allerdings der Mehrzahl nach nidit als wirtfchaftliche Doktrinäre. Von den vorbereitenden Maßnahmen der Regierung wirkte auf die Rheinprovinz die Ver(taatlichung der Eifen» bahnen (tark ein, die, 1875 von Bismarck für das Reich geplant, aber durdi den Partikularismus der Mittelftaaten verhindert, 1879 für Preußen erfolgte. An die Stelle einflußreidier Selb(tändigkeit des liberalen Bürgertums, das im rheinifdien Verkchrswefen befondcrs glänzende Erfolge aufzuweifen hatte (S. 588, 598), trat die (taatliche Verkehrshoheit und Tarifpolitik, die der Re» gicrung einen (tarken Hebel zur Regulierung der gefamten Volkswirtfchaft in die Hand legte. Der Vorgang wurde aber in der Rheinprovinz vorwiegend als Finanzoperation, nidit von innerpolitifchen Gefichtspunkten aus gewürdigt. Die Verftaatlidiung ftieß ebenfowcnig auf (tärkern Widerftand wie der im Dezember 1878 von Bismarck proklamierte Übergang in ein Wirtfdiaftsfyß:em, das der nationalen Arbeit den fehlenden Schutz gegen das Ausland gewähren follte. Die Kölnifche Zeitung neigte allerdings zum Freihandel, und die nationala liberalen Parteiführer der Provinz, Hammacher und Seyffardt, waren vera fchiedener Meinung. Aber es überwog am Rheine die Induftrie, die, zum Teil fchon vor 1873 fdiutzzöUnerifch, feitdem faft durchweg erkannt hatte, daß fic ohne (taatlidie Hilfe erliegen muffe. Der Schutzzöllner Hammacher zweifelte im Januar 1879 nur, ob es „Bismarck nicht mehr um den Schutz der Land» wirtfdiaft als der gewerblichen Intereffen zu tun fei". Die rheinifchen Nationale liberalen hatten „den Mut, fich von den früheren Freunden Inkonfequenz vorwerfen zu laffen und den an Hand der Tatfachen veränderten Anfchauungen Ausdrudi zu geben, da fie einfahen, daß auf dem Wege der Freihändler unfere Nation der wirtfchaftlichcn Verarmung zugeführt wird". Am 15. April 1879 erklärte eine von führenden Vertretern der Indu(trie und des Gewerbes zu» fammen mit Vertretern der Landwirtfchaft anberaumte Verfammlung in Köln den Übergang zu einer von nationalen Rüdifichten geleiteten Wirtfchafts= und Handelspolitik als Lebensbedürfnis des Reichs. Die Rheinprovinz (teilte im Reichs» tag nur 4 von den 98 nationalliberalen Abgeordneten, und die fchutzzöllncrifche Minderheit drang in der Partei nicht durch, obgleich auch Bcnnigfcn einer Ver(tändigung mit Bismarck zu(trebte. 28 von den 35 Reichstagsmandaten der Provinz lagen vielmehr in der Hand des Zentrums, das jetzt, vorwiegend unter bayrifchem Einfluß, aber kräftig unterftützt durch die für Indu(trie und Land« wirtfchaft eintretende Zentrumspreffe der Rheinprovinz, die Schutzzollpolitik billigte und fich im Frühjahr 1879 Bismarck für die parlamentarifche Mitarbeit auf diefem Gebiete zu Verfügung (teilte. Das Zugeftändnis der föderali(tifchen Franckcn(teinfchcn Klaufel wog für Bismarck leichter, als der Unitarismus der Nationalliberalen vorausfetzte. Durch eine aus den Konfervativen, dem Zen» trum und 25 Nationalliberalen zufammcngefetzte Mehrheit kam am 13, Juli 1879 das neue Zollgcfetz zu(tande, das die Regierung außerordentlich (tärktc, einen allgemeinen Auffchwung der wirtfchaftlichen Verhältniffe anbahnte und dem Reich eine Mehreinnahme von hundert Millionen Mark jährlich ficherte. Der Bruch Bismarcks mit der Nationallibcralen Partei war vollzogen. In diefer trat im Augu(t 1880 durch die „Sezcffion" der radikalen Freihändler eine völlige Zerfetzung ein. Der rechte F lügcl, der fich nun der Bismarckfchcn Wirt- fchaftspolitik näherte und auf Grund der Heidelberger Erklärung vom D Sechstes Kapitel (1871—1915): Übergang zur Sozialpolitik 1881 8!5 23. März 1884 die Partei dar(l:elltc, umfaßte nur nodi 45 Abgeordnete, während die Konfervativen mit der Reichspartei auf 77, das Zentrum auf 98 Mit- glieder anvx/uchfen. In der Rheinprovinz wurden unter Bennigfcns Mit« Wirkung die Parteivcrhältnifle auf dem Nationalliberalen Parteitag in Köln am 2. Juli 1882 neugeordnet. So hatte die Zentrumspartei fich an der Seite der Konfervativen Partei als arbeitsfähig und wertvoll im Sinne der neuen Wirtfchafts= und Finanz* Politik des Reichs erwiefen. Auf das weitere Schickfal des Kulturkampfs konnte das nicht ohne Wirkung bleiben. Stärker wurde dcfl'cn Abfdiluß aber durch die fozialpolitifchcn Pläne der Regierung beeinflußt, bei deren glcidizeitiger In» angriffnahme Bismardt leichter mit der Kirchenleitung als mit der Zentrums» partei den gemeinfamen Boden fand, von dem aus der kirchenpolitifdie Friede hergeftellt werden konnte. Die Agitation der Arbeiterpartei wurde nadi der Wirtfdiaftskrifis von 1873/74 lauter, und im Mai 1875 (dilofTen fich die verfchicdcnen fozialdemo» kratifchcn Richtungen in Gotha auf Anregung des Iferlohner Sozialiften C. W. Tölckc zu einer Einheit auf der Grundlage des Marxismus zufammen. Bei den Reidistagswahlen von 1874 erlangte die Partei 8, 1877 fogar 12 Mandate, darunter bcidemalc ein rheinifches. Vor allem in den Induftriegcbieten nahm die Spannung (tark zu. Den politifchcn Parteien der Provinz eröffnete fich alfo eine bedeutende Aufgabe. Das liberale Bürgertum hatte hier, fowcit es überhaupt fozialen Inß:inkten folgte, in der vormärzlichen Epodie die Löfung der Arbeiterfrage aus taktifchen Gründen ebenfo hinter den Verfaffungskampf mit der Regierung zurückftellen muffen (S. 706, 729), wie fich die Regierung feit Bismarcks Empor(teigcn gezwungen gefehen hatte, der nationalpolitifdien Aufgabe der Einigung Deutfchlands alle anderen Intereffen dienftbar zu machen. Bei fo allfeitiger Konzentration auf die rein politifchen Aufgaben hatte fich das Syftem des Gehenlaffens auf wirtfdiaftlich=fozialem Gebiete ein Mcnfchen» alter hindurch ungehemmt ausbreiten können. Vcrfaffung und Reich waren aber nun verwirklicht, und die vertagte foziale Frage meldete fich laut und drängend an. Durch das reißende Anfdiwellen der Fabrikindu(trie wuchs die Zahl der mit dem drückenden Bewußtfein der unfichern Exiltenz bela(teten Arbeiter überfchnell, elende Armut und haftig erworbener Reichtum erzeugten fchrciende Gegenfätzc, und die Anhäufung des Fabrikproletariats neben we» nigen Kapitaliften wurde bedenklidi. Es galt, aus den Erfahrungen gemein« famer Not von Arbeitern und Arbeitgebern infolge der wirtfchaftlichcn Krifis den liberalen Freiheitsgedanken nicht in dem Sinne ökonomifcher Willkür und ungehemmten Waltens eines gedankcnlofen Egoismus zu behaupten, fondern im Geilte des rhcinifchen Frühliberalismus fich darauf zu befinncn, daß um des (taatlichcn Gemeinwohls wie um des Kulturfortfchritts willen die Befreiung der Individualität nur in der Art zuläffig i(t, daß gleichzeitig das Individuum mit allgemeinem Inhalt erfüllt wird. Die geographifche Lage von Preußen und Dcutfchland und das aus ihr entfpringendc Bedürfnis nadi ficherem Grenzfchutz und (tarker Kraftentfaltung konnte auf die Dauer nur einen fozialpolitifch orientierten Liberalismus ertragen, der fidi die Aufgabe, die ftörenden Gcgcnfätze unter den Bcvölkerungsklaffen zu mildern, nicht nur aus ethifch=humanitären Erwägungen, fondern auch unter dem politifchen Gefichtswinkel Itellte, dem Reiche die uncntbehrlidie innere Kraft und Ge« 816 XII. J. Hansen, Das politische Leben a fdilolTenheit zu fichcrn. Wie die übrigen Parteien, fo zeigte fleh aber auch die nationalliberale einer vom ganzen Volke getragenen Sozialreform und dem Problem, eine volksmäßige Sozialpolitik als Grundlage (tarker ftaatlicher Kraft» entfaltung zu entvx'ickeln, nicht gewachfen. Die foziale Bildfamkeit des Bürger- tums war in der Freihandelsära völlig verkümmert. Unter dem ftarken Antriebe Bismarcks nahm vielmehr die Rcichsregierung als pofitiv geftaltende Macht die feit den Tagen des preußifchen Abfolutismus unterbrochene Tradition wieder auf, und ihre Autorität wurde ungemein gekräftigt, indem die Krone als das leitende Organ der fozialen Hilfe dem Parlament gegenübertrat. Im Jahre 1 876 regte die Regierung im Reichstag die Einfchränkung der Fabrik* arbeit von Frauen und Kindern an, auf die fie in Preußen fchon 1839 abgezielt hatte (S. 238). In der Rheinprovinz hatte nicht nur die Nationalliberale Partei, in der die Unternehmer (tark hervortraten, fondern auch das Zentrum, dejlcn Wähler großenteils dem Arbeiter(tande angehörten, die foziale Frage bisher ruhen laJTen, wenn auch das Zentrumsprogramm von 1871 „das moralifchc und materielle Wohl aller Volkskla|]en nadi Kräften zu fördern" verfprach. Die Arbeiterbevölkerung nahm das fo übel auf, daß das Zentrum in den Jahren 1873 — 1877 Mühe hatte, das felbftändige fozialpolitifche Wirken einzelner Geiftlichen zu hindern, die in Aachen und Effcn eine eigene kathoIifdi=demos kratifche Arbeiterpartei bildeten und durch Aufftellung befonderer Arbeiter» kandidaten für den Reichstag der bürgerlichen Zentrumseinheit Abbruch taten. Nun erörterte im Frühjahr 1877 auch die Kölnifche Volkszeitung die Notwendigkeit befonderer Fabrikgefetzc, „um die berechtigten IntcrelTcn der Arbeiter wie der Unternehmer zu wahren und den Klafienkampf, der immer bedrohlicher wird, zu erfticken. Die unbegründeten Lamentationen mandier Induß:riellen und die Phrafen der LailTez=aIler=Theorctiker laden die berechtigten Forderungen der arbeitenden Kladcn nicht zum Durchbrudi kommen". Als erß:e bürgerliche Partei brachte das Zentrum am 19. Mai 1877 im Reichstag einen fozialpolitijchen Antrag zugunften der Arbeiter ein. Die vcrbrccherifchen Attentate aber, die in Berlin am 11. Mai und 2. Juni 1878 auf den greifen Kaifer Wilhelm verübt wurden, unterbrachen die Weiter» cntwicklung, da Bismarck es für nötig hielt, zunächft durch fcharfe Repreffiv» maßregeln das Herannahen einer fozialen Revolution zu hindern. Für das von ihm verlangte Ausnahmegefetz gegen die Sozialdemokratie (timmten zu» nächft nur die Konfervativen. Nach den Neuwahlen vom 30. Juli trat aber auch die Nationalliberale Partei auf die Seite der Regierung und ermöglichte am 21. Oktober 1878 das Sozialiftengcfctz, das bis 1890 über die Sozial» dcmokratie einen polizeilichen Ausnahmezujtand verhängte. Durch diefes Gefetz, dcffcn Dauer 1880, 1884, 1886 und 1888 verlängert wurde, offenbarten die Regierung und die Nationalliberale Partei ähnlich wie durch manche Kulturkampfgefctze ihren gcmcinfamcn, durch die äußeren Machterfolge der Jahre 1864 — 71 vcrurjachten Irrtum, daß auch die Löfung der großen Fragen der innern Politik durch Gcwaltmaßrcgcln gefördert werden könne. Trotz der augenfchcinlichcn Erfolglofigkeit des Gefetzes hielten die rheinifchen Nationalliberalen im November 1884 ausdrücklich an feiner Fortdauer fe(t, folangc die Sozialdemokratie fich nicht grundfätzlich auf den Rechtsboden von Staat und Reich (teilen wolle. Für die fozialen Aktivmaß» rejjcln aber, die die Regierung plante und mit deren Hilfe Bismarck den Reichs- gedanken In der Weife zu [tärkcn gedachte, daß die Ma|Tc des Volkes fich mit D Sechstes Kapitel (1871 — 1915): Regierung und katholische Kirche 817 der Überzeugung durchdrang, ihr Wohl und Wehe hänge vom Kaifertum ab, rechneten Kaifer Wilhelm und Bismarck vor allem auf die dauernde Mitarbeit der beiden chriftlichen Kirchen. Der geiftige Kampf gegen die Sozialdemokratie fei in erfter Linie Sache der Kirchen, erklärte die Regierung am 23. Mai 1878 im Reichstag. Der Kaifer verlangte, daß „dem Volke die Religion erhalten bleibe". Wie 1832 und 1848 in Preußen (S. 683, 706, 719), fo erfchienen nun auch im neuen Reich, dem Bismarck urfprünglich alle konfeffionellen Faktoren hatte fernhalten wollen, die Bekenntniskirchen als die erwünfchten Bundesgenoffen, „um den öbeln der Zeit nach allen Richtungen zu begegnen". Die Übung „praktifchen Chri(tentums" von feiten der Kirchen, deren rcligiöfer Zufpruch viele mit ihrem irdifchen Lofe Unzufriedene zu beruhigen und fo die foziale Spannung zu mildern vermag, follte der Umfturzpartei entgegenarbeiten. Die cvangelifche Kirche {tand dem 1872 gegründeten Verein für Sozialpolitik nahe, und 1878 entftand in Berlin die chri|tlich=foziale Bewegung unter Führung des konfervativen Hofpredigers A. Stöcker. Auf katholifcher Seite aber kam der neue Papft Leo XIIL, der am 3. März 1878 an die Stelle Pius' IX. trat, den Regierungswünfchcn weit entgegen, und zwar indem er zugleich im Geifte Gregors XV L (S. 682, 687) den grundfätzlichen Standpunkt des Gottesgnaden« tums der Monarchie in legitimiftifch=religiöfem Sinne ftark betonte. Seine Enzyk* lika vom 28. Dezember 1878 hob im Anfchluß an die beiden Attentate nicht nur hervor, daß die katholifche Kirche (tets den göttlichen Urfprung der beftehenden Staatsgewalt und die Gehorfamspflicht der Untertanen lehre, jondcrn auch die Kräfte für eine neue Sozialordnung in fleh trage. Sie verkünde jene Lehren und Vorfchriften, durch welche ganz befonders das Wohl und die Ruhe der Gc= fellfchaft gewahrt und die Giftpflanze des Sozialismus mit der Wurzel ausge= rottet werde. Sie erkenne die Ungleichheit der Menfchen an, fuche aber die Gegenfätze von Arm und Reich zu verföhnen und kämpfe wider „die Sozia= li(ten, Kommuniften und Nihiliften, die den höheren Gewalten den Gehorfam verweigern, gegen das durch das Naturgefetz geheiligte Eigentumsrecht (treiten und einen folchen Haß gegen die ehrwürdige Majcftät und Gewalt der Fürften erregen, daß verbrecherifche Verräter in kurzer Zeit mehr als einmal die Waffen gegen das Staatsoberhaupt felbft kehrten". Die Kräftigung der monarchifchen Regierungsgewalt in Deutfchland unter Mitwirkung der Kirchen, um gemeinfam der fozialen Schwierigkeiten Herr zu werden, hatte aber die Herftellung des Friedens zwifchen Staat und katholifcher Kirche zur Vorausfetzung. Nicht nur fchriftliche und mündliche Äußerungen, fondern auch Handlungen der Regierung zeigten dem Pap(t, daß Bismarck diefen Frieden wünfchte. Eben jetzt opferte er am 3. Juli 1879 in Preußen den Kultusminifter Falk und er» fetzte ihn durch den ausgefprochen konfervativen v. Puttkamer. Die Amtstätigkeit des dem Liberalismus nahe(tehenden Kultusminifters Falk hatte felbft bei vielen preußifchen Katholiken ähnlich wie im Jahre 1848 (S. 718, 742) den der Kurie unwillkommenen Wunfeh nach der Trennung von Staat und Kirche geweckt, da ihnen die Verbindung beider Mächte nur fo lange Vorteile zu bieten fchien, als der Kultusminiftcr der Orthodoxie naheftand. Die Ernennung Puttkamers be= wies, daß Bismarck wieder in den alten kirchenpolitifchen Kurs einlenkte und die Verbindung mit dem Liberalismus lö(te. So tat Leo XIIL am 23. Februar 1880 auch einen erften Schritt zur Beilegung des Kulturkampfs, indem er feine Zuftimmung mit der maigefetzlichen Forderung in Ausficht ftellte, daß feitens der Bifchöfc die Namen der neu anzuftcllenden Priejter vor ihrer kano« Die Rheinprovinz 1815— 1915. 52 818 XII. J. Hansen, Das politische Leben O nifchcn In|titution der Regierung angezeigt würden. Daß Bifdiöfe und Geift« lidie fidi der (taatlidien Gefetzgcbung, wie es der Kaifer verlangte, durchweg unterwarfen, konnte von dem Standpunkt des katholifdien Prinzips Leo XIII. ebenfowenig anerkennen wie Pius IX. Und die Konfervative Partei geftand dem Staate wohl das Recht zu, kraft feiner Souvcränetät fein Verhältnis zu den Kirchen zu ordnen, aber mit der Maßgabe, daß die Regierung nidit auf das Gebiet des innern kirchlichen Lebens übergriff, wie es durdi einen Teil der Maigefetzgebung zweifellos gefdichen war. Die Eigenart der katholifchcn Kirche beruht allerdings gerade auf einem Synkretismus von äußerm und innerm Leben, der fidi jeder klaren Abgrenzung entzieht. Wollte alfo die Regierung den Frieden und zugleidi die Fortdauer der Verbindung des Staates mit der Kirche, fo mußte fie den Anfpruch auf einfeitige Ordnung des Grenzgebietes zwifchen beiden tatfächlich aufgeben und durdi Verhandlungen mit der Kurie über die einzelnen Streitfragen den Boden für eine Verftändigung herftellen. Für ihr Verlangen, daß dabei keinesfalls der vor dem Ausbrudi des Kampfes beftehcnde, für fie ungünjtige Zuftand wieder hergeftellt werden dürfe, fand die Regierung in Rom mehr Entgegenkommen als bei der Zentrumspartei. In ihrem Streben nach „völliger Wiedererringung der kirdilichen Freiheit und Erfüllung der bereditigten Forderungen der Katholiken" fudite diefe vielmehr zu verhindern, daß der Papft der Regierung zu weit nachgebe. /,Der Kulturkampf", fo führte P. Reidicnsperger am ii. Juni 1883 »n^ Landtag aus, „gilt nicht fpezififch und fpeziell dem römifchen Papfte, er gilt direkt den preu» ßifchen Katholiken, deren Freiheiten auf religiöfem Gebiete vernichtet worden find. Der Papjt wacht nur über unfere kirdilichen Rechte nadi heften Kräften, aber wir find die Verletzten und Gekränkten." Trotz ihrer Annäherung an die Regierung auf dem Gebiete der Wirtfdiafts= und Finanzpolitik nahm die Partei, die feit ihrem Be(tehen ihre konfervative Grundßiimmung oft betont hatte, doch kein dauerndes Zufammenarbeiten mit ihr in Ausficht, betonte vielmehr mit Vorliebe ihre freiheitlichen Prinzipien und ihre Abneigung „gegen Servilismus und Liebedienerei". Selbjt in der für Bismardi wich» tigften Lebensfrage „verweigerte fie die Heeresfolge". Um das Reich nach außen zu fiebern, wollte Bismarck den innern Zwiefpalt um fo mehr behoben fehen, als die Sozialdemokratie durch das Ausnahmegefetz in eine vcrfchärfte oppofitionelle Sonderftellung geraten war. An der Seite der Sozialdemokratie und der Fortfchrittspartei hielt aber das Zentrum feinen alten Widerfpruch gegen die Armeepolitik des Reiches aufrecht. In eben den Wodien, wo das Angebot Papft Leos XIII, vom 2-5. Februar 1880 erfolgte, verhandelte der Reichstag über die Regierungsvorlage für ein neues Septennat, das die Friedenspräfenz vom 31. Dezember 1881 an auf 427000 Mann erhöhte. Das Zentrum legte dar, die Lei(tungsfähigkeit des Reiches für die Wehrkraft fei erfchöpft, P. Rcichensperger erklärte am 1. März 1880, das Volk werde durch die Militärlajt ausgemergelt. Eine Erhöhung der Kriegsftärkc könne nur gegen Bewilligung der zweijährigen Dicnftzeit erfolgen, die Friedenspräfenz aber müfic fich nach dem jährlichen Finanzplan richten. Deutfchland folle lieber feine Macht geltend machen, um eine allgemeine Abrüftung zu erzwingen. Die Kölnifchc Volks« Zeitung billigte am 12. April 1880 nicht nur die Ablehnung des Scptennats durch das Zentrum — für die Bewilligung erwies f]ch die Nationalliberale Partei wieder als unentbehrlich — , fondern [le äußerte, die Zuftimmung würde „die politifche Abdankung des Zentrums" bedeuten. Die Partei widerfetzte fleh D Sechstes Kapitel (1871—1915): Abbruch des Kulturkampfs 1880 819 aber nicht nur der militärifchcn Kraftentwicklung des Reichs, fondern fie lehnte gleichzeitig im Landtag audi die von der Regierung ausgearbeitete erfte Gefetz» vorläge zur Milderung der Maigefetze ab. Sie ging ihr nicht weit genug und verlieh der Regierung zu viele diskretionäre Vollmachten. Man war aller» dings in Zentrumskrcifcn fchr erfreut, daß die Vorlage, die der Kirdic wefent» liehe Erleichterungen verfdiaffte, am 14. Juli 1880 doch gegen die eignen Stimmen Gcfetz wurde. „Aus prinzipiellen Gründen", fo fdirieb A. Reichensperger, „durften wir für die Vorlage als Ganzes nicht (timmen. Wir wünfchten aber die Annahme der mei(ten Artikel feitens der anderen Parteien, weil dadurdi Verwirrung in das liberale Lager gebradit und Brefche in das Kulturkampf» fyjlem gelegt wurde. Selten hat ein Sieg des Zentrums mich fo fehr gefreut, wie gc(tcrn dcflcn Niederlage mit vier Stimmen Majorität." Die Majorität war dadurch zujtande gekommen, daß von den Nationalliberalen 49 für und nur 45 — darunter die rheinifchen — gegen die Regierungsvorlage (timmten. In diefer Zeit (tarker Parteiverwirrung und Partcizerfplitterung trat Bismarck an die foziale Gefetzgebung des Reichs heran. Er mußte die par» lamentarifchen Mehrheiten aus den verfdiicdenen Lagern zufammenfuchen. Neue Äußerungen des Pap(tes bewiefen allerdings, daß für die feit 1878 geplante Allgemeinriditung der Sozialpolitik auf deJTen Mitwirkung gezählt werden konnte. Eine Enzyklika Leos XIII. vom 29. Juni 1881 betonte wiederholt die Intereflcngemeinfchaft von Kirche und Staat und die Abficht wie die Fähig» keit der Kirche, die perfönliche Sicherheit der Fürften, die innere Ruhe der Staaten, den Gehorfam der Untertanen und das allgemeine Volkswohl zu garantieren. Sie wandte fich wiederum gegen den Kommunismus und So» ziahsmus, „diefe entfetzlichen Vorzeichen und nahezu Todesboten der bürger» liehen Gefcllfdiaft", und forderte die Für(ten auf, der Kirche zu vertrauen und ihren wiederholt angebotenen und von nichts anderem an Stärke über» troffenen Beiftand anzunehmen. Dem Deutfchen Reich aber wandte der neue Pap(t aus weltpolitifchen Erwägungen befondere Sympathie zu. In feinen kirdhiichen Zukunftsplänen trat an die Stelle Frankreidis, das immer offen» kundiger nach völliger Befreiung des politifchen Lebens vom kirchlichen Ein» fluß (trebtc, Dcutfchland, das am 15. Oktober 1879 ein enges Bündnis mit feinem frühern Gegner, dem katholifchen Ofterreich, fchloß, gemeinfam mit diefem das konfeffionclUkonfervative Staatsprinzip verkörperte und dem» gemäß die vom Pap(ttum grundfätzlich geforderte Verbindung von Kirche und Staat dauernd aufrechtzuerhalten gefonnen war. Im Namen der Katholiken lehnte die Enzyklika die Volksfouveränetät und die Lehre, daß die Regierungs» gewalt im widerruflichen Auftrage des Volks geübt werde, ab. Das Regierungs» recht nicht auf Gott als feinen Urfprung zurückführen fei nichts anderes, als der politifchen Gewalt ihren fchönften Glanz rauben und ihren Lebensnerv durdifchneiden. Das war die päpjtlidie Anerkennung des hiftorifchen Regierungs- prinzips, das, abweichend von England und den romanifchen Staaten, in Preußen« Deutfchland ebenfo wie in 0(terreich auch nach ihrem Übergang zum Kon» {titutionalismus in Kraft geblieben war, Friedrich Wilhelm IV. hatte noch bei der Beeidigung der preußifchen Verfaffung am 6. Februar 1850 ausdrücklich erklärt, in Preußen muffe der König, nicht das Volk und feine Vertretung re» gieren, „weil es Gottes Ordnung ift". Den Bund des Deutfchen Reichs mit Ofterreidi begrüßte audi die Zentrumspartei freudig. P. Reichensperger bc» zeichnete ihn am 1. März 1880 als die weifeftc politifche Handlung Bismarcks. 52* 820 Xll. J. Hansen, Das politische Leben a Aber audi der Zvx/cibund führte die Partei in der innern Politik nicht näher an die Regierung heran. Sie erhob vielmehr fofort gegen die foziale Gcfctzgebung des Reidis, die durdi die kaiferliche Botfdiaft vom 17. November 1881 eröffnet wurde, (tarke Bedenken. Die Kölnifche Volkszeitung kritifiertc die „(taats» fozialiftifchen Ideen, die in ihren Einzelheiten noch völlig unbekannten Pro» jekte Bismarcks, die rein bureaukratifche Organifation der Arbeiterverfichcrung'' und erklärte, „die heidnifche Staatsomnipotenz nicht (tärken zu wollen". Der Zentrumspartei waren freie foziale Be(trebungcn im Zufammenhang mit der Kirdie erwünfchter. Im AnfchluB an den Aachener Katholikentag vom Jahre 1879 hätte fich im Mai 1880 ein Verband katholifcher Induftrieller unter dem Namen „Arbeiterwohl" gebildet, der die Beziehungen zwifdien Arbeitern und Unternehmern auf chriftlicher Grundlage friedlidier geltaltcn und die Verbejlca rung der Lage des Arbeiterftandes an(treben wollte. Den Vorfitz diefes Ver= bandes, der die Interelfengemeinfchaft von Kapital und Arbeit zum Ausdrudt bringen follte, führte der Fabrikbefitzer Fr. Brandts in M.=Gladbach. Die jtaata liehe Arbeiterfchutzgefctzgebung aber auf der Grundlage gemeinfamcr Beiträge der Arbeiter und der Unternehmer unter Garantie des Reidis, Bismarcks große foziale Tat, die die pofitive Förderung des Wohls der Arbeiter durch die ge» fetzliche Zuweifung von fe(ten Rechtsanfprüchen bewirkte und fo dem ,,Vatcr= land eine neue und dauernde Bürgfchaft des innern Friedens, den Hilfsbe» dürftigen aber größere Sidierhcit und Ergiebigkeit des Beiftands bot, auf den fie Anfpruch haben", blieb, wie fie Bismarcks Initiative entfprang, auch in ihrer Durchführung im wefentlidien ein Werk der Regierung. Anregungen des Freiherrn v. Stumm, des Saarbrückener Großindu|triellen, der als Mitglied der Reichspartei den Wahlkreis Trier=Ottweiler vertrat, wirkten dabei mit. Wie die Nationalliberale Partei im allgemeinen, fo erhoben audi die rheinifchen Na» tionalliberalen und ihr Organ, die Kölnifche Zeitung, Bedenken, weil das „fozia» li[tifche" Regierungsprogramm wider das Prinzip der induftriellen Freiheit und vollen wirtfchaftlichen Selbftändigkeit verfließ. Bei der Vorbereitung der einzelnen Verficherungsgefetze gegen Krankheit (1883) und gegen Un» fall (1884) arbeiteten die Parteien indelJen mit, weil fie fich dem Bedürfnis der fozialen Reform dodi nicht verfchließen konnten. Die Schutzzollpolitik (Märkte zudem die Induftrie fo, daß fie die Opfer der Sozialpolitik zu tragen vcrmodite. So fügte man fich der überlegenen Führung Bismarcks, wenn auch die vcr« ftärkte (taatliche Herrfchgewalt, „Staatsfozialismus und Staatsomnipotenz", unerwünfcht erfchienen. Die rheinifche Zentrumspre(fe empfand zudem fchnell, daß das foziale Reformwerk, das nach den Worten der kaifcriichcn Botfchaft „auf den fittlichen Fundamenten des chri(tlichen Volkslebens ruhen follte", eine der eignen Partei günftige Gefamtrichtung der Regierungspolitik ein» leitete. „Als fichercr und fefter Kern der fozialen Reformpartei der Zukunft, mit deren Hilfe der Staat es unternehmen könnte, durch foziale Maßregeln in Gcfetzgcbung und Verwaltung dem gewaltfamen Ausbruche der Krifis vorzubeugen, bleibt nur das Zentrum", fdirieb die Kölnifche Volkszcitung am 23. November 1881. Die allgemeinpolitilchcn Ziele der Regierung drängten inzwifchen zum Abfchluß des Friedens mit der katholifchcn Kirche. Am 15. Oktober 1880 nahm Wilhelm I. in Köln an der Feier der Domvollcndung teil. Der Erzbifchof Mcichcrs, am 28. Juni 1876 von dem königlichen Gerichtshof für kirchliche An- gelegenheiten abgefetzt, befand [Ich zwar außer Landes, aber das Verhalten D Sechstes Kapitel (1871 — 1915): Haltung der Zentrumspartei 821 des Kaifers gegenüber dem Klerus, der feit Jahren in Oppofition zu den Staats» gefetzen (tand, bewies feine Friedensabficht. Im Augujt i88i wurde auf Grund von Verhandlungen zwifdien Berlin und Rom M. Korum Bifchof von Trier. Auf nationalliberaler Seite wurde angefichts des ablehnenden Verhaltens der Zentrumspartei die Nadigicbigkeit der Regierung als eine fchwere Niederlage des Staates empfunden. In der Rheinprovinz, wo der Gegenfatz der Parteien fid» am fdiärfftcn ausprägte, waren die Nationalliberalen befonders unzufrieden, und fie wünfditen, daß vor allem auf dem Gebiete der Sdiulpolitik keine Zuges (tändniffe gemadit würden. Der am 9. Januar 1881 in Köln unter dem Vor= fitz des Bonner ProfelTors J. B. Meyer gegründete „Liberale Schulverein für Rheinland=We[tfalen" foUte einen fe(ten Mittelpunkt bilden gegen die vom katholifchen Klerus feit 1880 begonnenen Bejtrebungen, „die Entwicklung des Schulwefens wieder auf die kaum verlaflcnen Bahnen eines engherzigen KonfelTionalismus zurückzuleiten". Der Konfeffionalismus hatte indcffen jetzt wieder den unbedingten Beifall der Regierung. Sofort erging eine amtliche Verfügung gegen den neuen Verein, „weil er die Bekämpfung der Sdiulpolitik der Staatsregierung zum ausgefprochenen Zwed< hat". Im März 1882 begann der Kultusminiftcr v. Goßler die Rüd fuch, nach dem Vorbilde der „Staatskatholiken" von 1873 die „gouvcrnemen= talen Septennatskatholiken" zu einigen, fand hier wiederum fehr wenig Erfolg. Die Kölnifchc Volkszeitung hatte am 24. Januar 1887 ausdrücklich vor der Wahl folcher Männer trotz ihrer „kirchentreuen Geflnnung" gewarnt, da fie „mehr oder minder in den Überlieferungen des abfoluten Regiments (tecken". Am 9. März 1888 (tarb Kaifer Wilhelm I. Noch in feinem letzten Re« gierungsjahre erfolgte eine für die Rheinprovinz bedeutfame Entfcheidung. Im Anfchluß an die Annexionen von 1866 war die Selbftverwaltung der neuen Provinzen, um ihre Eingliederung in den preußifchen Staat zu erleichtern, von 1868 ab durch öberweifung von ftaatlichcn Dotationen an die Provinzial= verbände geftärkt worden. Als aber auch die öltlichcn Provinzen im Januar 1875, auf der Höhe des Kulturkampfs, durch das Gefetz über die Reform der Ge= mcindc=, Kreis= und Provinzialverfaffung ihre neue Selb|tverwaltungsord= nung empfingen, verfagte die Regierung der Rheinprovinz diefcs Gefchenk. Das alte Verlangen nach einer entwickelten Selb(tvcrwaltung war hier, wo nach 1850 nur der (tändifchc Provinziallandtag reaktiviert worden war, feit 1860 wieder (tärker geworden. Dabei hatten aber die rheinifchen Katholiken die Selbftverwaltung (tets auch von konfeffionellem Standpunkt als Gegengewidit gegen die [taatliche Zentralifation gefordert (S. 700, 758). Die „Kölnifchen Blätter" führten im Mai 1862 und im Oktober 1867 aus, Preußen fei durch [traffe Konzentration fa[t zu einem protc(tantifchen Beamtenftaat geworden, daher müflc „im freien konftitutionellen Staate das große foziale Prinzip der autonomifchen Verwaltung durdigeführt und damit für die bürgerlidien, poli= tifchen und religiöfen Freiheiten die allein fiebere Bürgfchaft gcfchaffen werden". So wurden während des Kulturkampfs in der Provinz felbj^ bezüglidi einer Erweiterung ihrer Selbltverwaltung nicht nur dringende Wünfche, fondern auch, insbefondere von H. v. Sybel und dem Deutfchen Verein, ftarke Be= denken und Warnungen laut, überzeugt, daß fatfächlich der Einfluß des Ultramontanismus eine Stärkung durch fie erfahren werde, widerfetzte fich die Regierung 1875 einer Neuregelung der Verwaltungsorganifation in der Rheinprovinz. Er[t nach dem Abfchluß des Kulturkampfs, am 30. Mai und 1. Juni 1887, erhielt fie als letzte von allen preußifchen Provinzen die neue Ordnung (S. 122, 128). Die Regierung bewies dadurch, wie ernft es ihr jetzt um den Frieden mit der katholifchen Kirche zu tun war. Ein tragifches Verhängnis ließ dem greifen crßien Kaifer fchon am 15. Juni 1888 feinen Sohn, Kaifer Friedridi, auf der Höhe feines Lebens in den Tod folgen. Das liberale Bürgertum hatte am Rhein wie anderwärts gehofft, daß deJTcn Regierung eine durchgreifende Liberalifierung des öffentlichen Lebens anbahnen werde. Sein vorzeitiger Tod vernichtete diefe Hoffnungen. Sein Nadifolger wurzelte in der konfervativen Welt= und Staatsanfchauung, wie fie im Regierungskreife feit 1875 maßgebend geworden war. Erfüllt von der göttlichen Mijjion feines Herrfdicrberufs, verkörperte der junge Kaifer das monarchifchc Prinzip in feiner deutfch=kon(titutionellen, auf Armee undBeamten= 824 XII. J. Hansen, Das politische Leben d tum ruhenden und auf den kirchlichen Pofitivismus beider chriftlichen Kon» feffionen fich ftützenden Gcftalt. Dabei legte Wilhelm II. Nachdruck auf per= fönlidic Ausprägung diefes Prinzips. ImGegenfatz zu Friedrich Wilhelm IV. war Wilhelm I. politifch nur feiten felbft hervorgetreten. Er hatte bei Beginn feiner Regierung in Preußen keinen Zweifel gelaffen, daß er die Armeereform und den Grund(leucrausgleich als feine eigenen Angelegenheiten betrachtete. Im Reidie hatte er im November 1881 mit der^^kaiferlichen Botfchaft perfönlich die fozialpolitifche Ära eröffnet und gleichzeitig in Preußen auf die Haltung der Beamten bei den Wahlen eingewirkt. Gegen diefes Hervortreten der Krone waren im Dezember 1881 und lanuar 1882 von der Linken des Reichs= tags (tarke kon(titutionelle Bedenken erhoben worden. Diefen Bedenken hatte fleh am Rhein die liberale Preffe angefchloffen ; auch die katholifche Preffe vertrat zwar für Preußen die „monarchifche Idee", wendete aber gegen ihre Übertragung auf das Reich ein, daß verfaffungsmäßig die Reichspolitik nidit die Politik des Kaifers, fondern der Verbündeten Regierungen fei. Bismarck, der, um die Kaiferkrone feß: im Bewußtfein der Maffcn zu verankern, das perfönliche Eingreifen der Dynaftie in dem Augenblicke veranlaßt hatte, wo die werktätige Fürforge für die wirtfchaftlich Schwachen wieder als Pflicht des Staates verkündet wurde, trat nachdrücklich dafür ein, daß „in Preußen die Krone lelb(t regiert und in dem durch die Regentenpflicht vorgefchriebcnen Wech fei verkehr mit dem Volke bleibt. Der lebendige König, der Kaifer darf nicht fequeftriert werden''. Wilhelm II. beanfpruchte durchweg die pera fönliche Leitung der Politik durch den Monarchen, in Preußen wie im Reich, in der innern wie in der äußern Politik. Bismarck felbft mußte fchon am 20. März 1890 wider Willen diefem Anfpruch weichen. Dadurch, daß der junge Kaifer einen Kommandierenden General, Caprivi, zum Nachfolger des erß:cn Reichskanzlers und — ähnlich wie es im November 1848 gcfchehen war — zum preußifchen Minifterpräfidenten ernannte, bewies er zugleich, wie fehr er das prcußifch=deutfche Herrfchaftsfyftem als Militärmonarchie betrachtete. In der Rheinprovinz, wo auf liberaler Seite fchmerzliche Trauer über die Trennung des Kaifers vom eifernen Kanzler herrfchte, wenn man auch nicht zweifelte, daß de(Ten Werk fortbeftehen werde, fchrieb die Zentrumspreffe am 18. März 1890: „Die frühere Zeit, wo der Kanzler im politifchen Leben alles bcforgte, der Kaifer mehr zurücktrat, i(t ficherlich für immer vorüber. Für die Zukunft dürfte der Kaifer auch die auswärtige Politik des Reichs felbft bcftimmcn und nur die Ausführung und diplomatifche Technik von einem Miniftcr beforgen laffen." Die Zentrumspartei brauchte nicht daran zu zweifeln, daß unter dem neuen Hcrrfcher der Wunfeh der Regierung nach einem Zua fammenarbeiten mit ihr, das Bismarck feit dem Septcnnatskonflikt vermieden und crft im Augenblicke feines Sturzes wieder gefucht hatte, fortbeftand. Die Regierung fetzte in der innern Politik das bisherige Syftem fort. Vor allem lag ihr an der Kräftigung der konfervativen Parteien als des Kerns für parlamcntarifchc Mehrheitsbildungen, bei denen je nach der Lage das Zentrum mit feinen Annexen und die Nationalliberalen mitwirkten. Die Scptcnnatswahlen hatten die letzteren auf hundert Mandate verß:ärkt, fo daß zunächft mehr Rückfleht auf fie genommen wurde. Die Reichslagswahlen vom März 1890 verminderten aber ihre Mandate wieder um die Hälfte. Die Partei löl^c das Kartell mit den Konfervativen und fuehtc Anlehnung nach links. Das Zentrum aber wuchs zur (tärkftcn Partei an, es konnte im Reichstag zur Not D Sechstes Kapitel (1871-1915): Regierungsantritt Wilhelms II. 825 mit den Konfcrvativcn und der Reichspartei allein eine Majorität bilden. Die Konfcrvativen wünfditen mit ihm nicht nur im Reich, fondern auch in Preußen zufammenzugehen, wo beide im Abgeordnetenhaufe über eine fiebere Mehrheit verfügten. Da die konfervativc Partei der cvangelifchen, das Zen= trum der katholifchcn Orthodoxie nahcftand, war durch eine ftändigc Koope- ration beider die antiliberalc Richtung der preuBifch=dcutfchen Politik ge= währlciftet. Das Zentrum aber war in fich nicht homogen genug, um [ich in eine katholifdi=konfervative Regierungspartei zu wandeln, fo deutlich felb(t der Kaifer beim Tode Windthorfts (März 1891) zu erkennen gab, daß er eine Annäherung wünfchte, und fo fehr er inzwifchen bewiefen hatte, daß er in der innern Politik ftark auf die Hilfe der katholifchcn wie der evangelifchen Kirche redine, um den d>ri|tlichen Charakter des Staates zu behaupten. Die Zentrumspartei, die fidi 1879 zunächft nur der Wirtfchaftspolitik der Regierung angcfchloffcn hatte und in dicfer Haltung auch bei den Handelsvertragsvcr» handlungen 1891 — 1894 verharrte, dehnte vielmehr ihre Annäherung an die Regierung vorläufig nur auf die Sozialpolitik aus. Wilhelms II. wiederholte Gelöbniffe im Gcifte des pofitiven Chriflcn« tums waren feit Beginn feiner Regierung in der katholifchen Rheinprovinz ebenfo warm begrüßt worden wie fein perfönlicher Befuch bei Leo XIII. im Oktober 1888. Im politifchen Leben der Provinz rüdvohr' unter F. Hitzcs Antrieb audi mit der Gründung von katholifdien Arbeitervereinen begonnen, die durdi die ausgleidiende Kraft kirdilicher Ge= mcinfdiaft und das Zufammenwirken von Unternehmern und Indu(tricar= beitern die foziale Spannung mildern foHten. Auf Windthor(ts Anregung geltaltcte das Zentrum nun im Jahre 1890 im Gcifte feiner NX/eltanfchauung Gedanken um, die der vormärzlidie Liberalismus bei der Entftehung der „Vereine zum Wohle der arbeitenden Klafl"en" im jähre 1844 (S. 705) ent= widt entbehren. Mach dem Entwurf follte in Zukunft nur noch die Einrichtung von konfeffio- nellen Volksfchulen erlaubt, die von Simultanfchulen verboten fein. Die Schulvorjtände und Lehrerfeminare follten konfeffioncll geftaltet, die Heran- bildung der prcußifchcn Jugend in konfeffioncllcr Trennung endgültig garan- tiert, die Aufrechterhaltung des kirchlichen Pofitivismus alfo von neuem als Staatsaufgabe anerkannt werden. Die rheinifche Zentrumspreffe rühmte den Entwurf, indem fie zugleich von den neuen Lehrplänen für das höhere Schul- wcfcn betonte, „in wohltuendem Gegcnfatz zur Ära Falk" fei durch fie aner- kannt, „daß der Schule die Zugehörigkeit der Schüler zu einer Konfeffion die Pflicht auferlege, Ihre religiös-kirchliche Betätigung in pofitiver Weife zu fördern". Im Kaifer begrüßte [Ic den eigentlichen Urheber diefer Politik. „Wenn früher". a Sechstes Kapitel (1871—1915): Schulgesetzvorlage 1892, Armeevorlage 1893 829 fo fdiricb am 27. Januar 1892 die Kölnifche Volkszcitung, der der Entwurf als „der Angelpunkt der inncrn Politik" erfchien, „der Inhaber der deutfchen Kaifer- krone und der preußifchen Königskrone vor dem herrfdi gewaltigen Minijter zurüditrat, der die Gefchicke des Deutfchen Reichs und des preußifchen Staats mit fa(t unbefchränkter Gewalt lenkte, fo hat fich das gründlich geändert. Wir haben wieder ein kaiferlidies Regiment". Die aus den Konfervativen und dem Zentrum beftehcnde Landtagsmehrheit war entfchloflcn, fich durchzu« fetzen. Die liberale öffentliche Meinung widerfprach indeften fofort lebhaft. Die Nationalliberale Partei wollte zwar die konfcffionclle Volksfchule als Regel zugejtchen, wandte fidi aber gegen „die Übertreibung des Konfeffionalitäts« Prinzips". Ihr rheinifcher Abgeordneter v. Eyncrn bezeichnete den Entwurf fogarals eine Kriegserklärung gegen jeden, audi den gemäßigten Liberalismus. Nach dem Urteil der Kölnifchcn Zeitung machte der Entwurf „hierarchifchen Herrfchaftsgelü(ten wichtige Zuge(tändni|Te, um den Einfluß der Priefter wider die Mächte des Umfturzes ins Feld zu führen". Ein Sturm der Erregung braufte mehrere Wochen durdi die ganze liberale Preffe. Viele preußifche Stadta Verwaltungen und Univerfitäten wiefen auf die Bedenken einer gefetzlich garan= tierten konfeffionellen Zerklüftung hin. Die rheinifche Zentrumspreffe glaubte allerdings, Profefforen feien „vielleicht zu gelehrt, um über ein Volksfchul= gcfetz urteilen zu können". Als aber der Kaifer, der fo (tarken Widerfprudi nicht erwartet hatte, am 28. März 1892 den Gefetzentwurf zurückzog, fdirieb fie enttäufcht, die Regierung „ducke fich vor dem Willen der Nationalliberalen, die das kaudinifchc Joch vor dem Reidiskanzler aufrichten"; eine Majorität für das Gefctz fei ficher, und es fei „am Ende des 19. Jahrhunderts eine bc» fchämende Tatfache, daß die preußifdie Regierung alle parlamentarifch=kon= (titutionellen Regeln über den Haufen werfe". War aber fo „mit einem Male die ganze innerpolitifche Lage verfchoben", fo verharrte nun die Majorität der Partei in der Armeefrage auf dem alten ablehnenden Standpunkt. Die Regierungsvorlage vom Oktober 1892 verlangte eine um 84 000 Mann erhöhte Friedenspräfenz, und zwar nicht mehr auf fieben, fondern auf fünf Jahre. Sie nahm zugleich verfuchsweife die vom Zentrum in Verbindung mit der Fortfchrittspartei geforderte zweijährige Dienftzeit in Ausficht. Dem Zeitalter Bismarcks wurde eine fo durchgreifende Erjtarkung der Staatsgewalt gegenüber auflockernden Tendenzen verdankt, daß in der Tat die Krone ihre politifchen Bedenken von 1863 (S. 774) fallen laffen konnte. Schon im Sommer 1892 trat die Regierung mit der Zentrumspartei in Ver= handlungen, und eine von den Freiherren v. Huene und v. Schorlemer=Al|t geführte Gruppe war entgegenkommend. Aber die große Mehrheit, zu der die rheinifdien Abgeordneten zählten, widerfprach, obgleich die Annäherung Frankreichs an Rußland die Gefahr des Zweifrontenkriegs hcraufführte. Im Januar 1893 hatten, wieCaprivi erklärte, „die demokratifchen Elemente im Zen= trum wieder die Oberhand". Zufammen mit den Freifinnigen und SoziaU demokraten lehnten fie die Vorlage ab, und als nadi der Reichstagsauflöfung vom 6. Mai 1893 die Vorlage mit auf 70000 Mann ermäßigter Präfenzftärke wieder cingebradit wurde, ftimmte die große Majorität des Zentrums am 13. Juli von neuem dagegen. Sie verweigerte der Rcichsregierung die von ihr verlangten Bürgfchaften der militärifdien Machtbehauptung. Nur dadurch, daß die polnifchen Abgeordneten für die Armeevorlage (timmten, kam fie diesmal zuftande. Mit diefer Haltung der Majorität waren die rheinifchen Zentrumswählcr ein« 830 XII. J. Hansen, Das politische Leben a verftandcn. Nur in E|Tcn und Mors verlor die Partei für kurze Zeit ihre Man» date. Eine foldie Verquidtung von Reichspolitik und Landespolitik war in» delTen keineswegs herkömmlidi. Aud» die rheinischen Nationalliberalen (tanden damals im Gegenfatze zur Regierung. Die Miquclfche Finanzreform in Preußen, weldic 1891 durch die Einkommenfteuer mit Selbfteinfdiätzung eingeleitet wurde — eine alte fozialpolitifche Forderung der rheinifdien Liberalen, die fic 1847 auf dem Erjten Vereinigten Landtag gegen den Wider(tand des oft« elbifdicn Adels nicht hatten durdifctzen können — , fand 1893 ihren Abfdiluß in der Vermögensjteuer, die als ein Widerfpruch mit dem liberalen Prinzip empfunden wurde, da ihre Veranlagung die bürgerlidie Freiheit bedrohe. Am 22. Januar 1893 erklärte der rheinifche Parteitag, es fei eine unabweisbare Pflicht der nationalliberalen Abgeordneten, den verantwortlichen Regierungs» Organen gegenüber mit Nachdruck zu betonen, daß ihre Politik in wefent» liehen Fragen des Vertrauens in den nationalgefinnten Kreifcn des Volks cr= mangle. Auf die Haltung der Partei zur Armcevorlage hatte das aber keinen Einfluß. Vorgänge diefer Art wurden jedodi feitdem zu einer regelmäßigen Er» fcheinung im öffentlichen, durdi das Nebeneinanderbe(tehen verfdiiedencr Parlamente bcfonders verwickelten Leben Deutfchlands. Die Politik der Zentrumspartei wandelte fich erft vom Jahre 1894 ab allmählich durch die Erkenntnis, wie fchr die Gefamtpolitik des Reichs, von der fie früher eine Beeinträditigung ihrer Intereffen befürditet hatte, gerade diefen InterclJen zu gute kam. An die Stelle der äußern Politik Bismardts, die von dem Gedanken ausging, daß fich Deutfchland in feinen 1870 erkämpften europäifchen Grenzen gefättigt fühle und zunädift vorwiegend Kräfte der innern Konzentration entwickeln muffe, fetzte Wilhelms II. ftarke Initiative nach dem Sturze des erften Kanzlers eine Wcltpolitik, die dem Reich im Rahmen des fich anbahnenden neuen Weltftaatenfyftems neben der Erhaltung feiner kontinentalen Macht(tellung große Aufgaben über See wies und ebenfo die ftürmifche Entfaltung feiner wirtfdiaftlichen Lebenskraft wie die Ernährung feiner (chnell anwachfcnden Bevölkerung zu fiebern beftimmt war. Die erjten Anfänge der Kolonialpolitik feit 1880 hatten wie im allgemeinen fo auch in der Rheinprovinz, wo am 8. Dezember 1882 der Deutfche Kolonialverein Boden faßte, auf nationalliberaler Seite mehr Anklang als auf feiten des Zentrums gefunden. Seit 1888 wurde man fich aber bewußt, daß die Kolonieen Stütz« punkte für die Ausbreitung der katholifdien Miffionen feien, und nach 1890, wo das Reich durch feine Kolonieen offen in den Kreis der Expanfionspolitik der Großmächte eintrat, wünfchte man insbefonderc in der Rheinprovinz ein planmäßiges Zufammcnarbciten mit der Regierung auf diefcm Felde. Daß dem Zentrum als der [tärkften unter den Parteien, die am 23. März 1895 den Glückwunfeh des Reichstags zu Bismarcks 80. Geburtstag verweigerten, das Präfidium des Reichstags zufiel, gab den Anlaß, daß es den Schwerpunkt feiner Tätigkeit dorthin verlegte und die Regierungspolitik in weiterm Umfang unterftützte. Daß man aber 1898 einen fdblefifchen Magnaten für dicfe Stellung präfentierte, gab dem konfervativen Flügel der aus heterogenen politifdien Elementen zufammengcfetztcn Partei das Übergewicht. Das Bürgerliche Gcfctzbuch für das ganze Reich, dem die Partei früher födcraliftifche Bedenken entijcgengcfetzt hatte (S. 804), kam im Februar 1896 unter ihrer Mitwirkung zuftande. In den Jahren 1897 — 1900 trat fie auch für die neue Flottengcfctz» fcbung mit Nachdruck in die Schranken. Schon 1848 und 186t hatte der Sechstes Kapitel (1871—1915): Das Zentrum Regierungspartei seit 1896 831 Flottengedanke bei den rheinifdien Liberalen warme Sympathie gefunden, während A. Reidiensperger i86i vor der „liberalen Flottenbewegung" warnte wegen der „Millionenperfpektive, die fie eröffnete". Das Ver(tändnis für deutfdie Seegeltung, das der Kaifer feit 1895 zu entwickeln vcrftand, erwachte nun auch im Zentrum. Dem großen Flottengründungsplane des Kaifers, den Tirpitz in den Jahren 1898 und 1900 vordem Reidistage vertrat, (timmte es zu, obgleidi er budgetreditlidi nicht auf jährliche EinzeU und NeubewilliguHg, fondern auf eine für längere Jahre fixierte Grundlage gefetzt, alfo in einer Form durdigeführt wurde, die der Partei bei der Landarmee (tets Anlaß zu kon(titutionellcn Prinzipienkämpfen gegeben hatte. Als dann im Oktober 1898 die in ihren weltpolitifdien Zielen damals nur unvollkommen gewürdigte Reife des Kaifers nadi Jerufalem die Schutzherrfdiaft des Reichs über die deutfchen Katholiken in Vorderafien anbahnte und den dcutfchen Einfluß an der Stätte (tärkte, von der das Chri|tcntum feinen Ausgang genommen hat, wurde das kaiferliche Gefchenk der fog. „Dormitio Mariae" an den Kölner Verein vom Heiligen Lande von den rheinifdien Katholiken befonders dankbar begrüßt. Im März 1899 [timmte endlich bei der neuen Armeevorlage das Zentrum, und zwar unter dem Beifall feiner rheinifdien Prelle, auch dem geforderten Quinquennat für die Landarmee zu. Nadi der Partcikonßiellation lag die Entfdieidung bei ihm, das aus den Reichstagswahlen von 1898 ge[tärkt hervorgegangen war. Zwar hielt es einen „bedingten" Abftrich von 7000 Mann an der von der Regierung geforderten Erhöhung der Präfenzjtärkc um 27 000 Mann für unerläßlich — es wollte, wie die Kölnifdie Volkszeitung erklärte, „keinen Militärabfolutismus" — , aber die Bewilligung der Armee» vorläge erfolgte am 16. März 1899 zum erjten Male durdi eineaus Konfervativen, Nationalliberalen und dem gefchloflcnen Zentrum zufammcngefetzte Mehrheit. Daß die Partei nach dem Urteil der Freifinnigen und Sozialdemokraten, mit denen fie früher zu (timmen pflegte, „umgefallen fei", wollte aber die rheinifdic Zentrumspreffc nidit zugeben. „Zwei große nationale Werke, das Bürger» liehe Gefetzbuch und die Flottenvorlage, find durd) das Zufammengehen der Nationalliberalen Partei mit dem Zentrum zu(tande gebracht worden. Das Zentrum hat ßch in Deutfchland in gewiffer Beziehung ralliicrt", erklärte die Parteileitung der rheinifdien Nationalliberalen am 8. Mai 1898. Die Zen» trumspartei bot der Regierung auch bei ihrer gleichzeitig erneuerten fozial« politifdien Reformarbeit den entfcheidenden Rüdthalt. Auf diefem Gebiete führte der gemeinfame Sinn für Organifation das preußifche und das katholifche Syjtem befonders eng zufammen. Das Zentrum erkannte im Deutfchen Reiche, deflen Bevölkerung jährlich um fa(t eine Million Köpfe, vorwiegend in den befitzlofen Schiditen, wudis, die foziale Frage fchledithin als das fundamentale Problem der innern Politik an, während die rheinifchen Nationalliberalen fich im Juni 1899 wohl auch „für (tetige Bederung und Hebung der ärmeren Volksklaffcn" ausfprachen, in der Sozialpolitik aber „langfamen, alle Verhältniffe berüdtfichtigenden Fortfeh ritt" empfahlen. Die lange vorberei» tete Arbeitsgemeinfchaft der Regierung und der Konfervativen Partei mit dem Zentrum offenbarte daher fofort, um wie viel näher fich innerlich Regierung und Zentrum (tanden als Regierung und Nationalliberale Partei. Neben dem Zentrum als ausfchlaggebender Partei traten die Nationalliberalen zurück, und die neue Arbeitsgemeinfchaft äußerte fchon bald Wirkungen, die gerade von den rheinifchen Nationalliberalen hart empfunden wurden. 832 XII. J. Hansen, Das politische Leben o Im Gcgcnfatz zu ihnen, deren Provinzialvertretung am 18. Juni 1899 daran erinnerte; daß fie fich in abfolutem Gegenfatze fühle „zu der Richtung, die die Freiheit des Geiftes und der Wiffenfchaft verneint", erweiterte die Regierung im Jahre 1898 auf dem Verwaltungswege die Befugniffe der Städte auf dem Gebiete des Volksfchulwefens nur unter der Bedingung, daß fie Geilt» lidie der beiden Konfeffionen als geborene Mitglieder in die Schuldeputationen aufnahmen. Viel ftärker aber wurden fie getroffen durch die Reform des preua ßifchen Gemeindewahlrechts, die im März 1899 in den Vordergrund trat, in demfelben Augenblicke, wo das Zentrum im Reiche das Quinquennat für die Armee bewilhgte. Die Miquclfche Steuerreform verftärkte in Preußen die plutokratifchen Wirkungen des DreiklaHenwahlrechts. In den rheinifchen Städten wählten 1898 in den beiden erften Klaffen zufammen 10 Prozent, in der dritten Klaffe 90 Prozent der Bevölkerung. Nachdem das Gefetz vom 24. Juni 1891 für die Landtagswahlen als Gegengewicht die Drittelung der Urwahlbczirke durchge* führt hatte, fagten die Thronreden von 1892 und 1898 eine Änderung auch für die Gemeinden zu. Auch die Nationalliberale Partei hielt eine Reform für uner« läßlich. Der Gefetzentwurf ftellte aber für die vorwiegend katholifche Rhein« provinz eine Nebenwirkung in Ausficht. Da die Proteftanten hier durchfchnittlidb ß:euerkräftiger waren als die Katholiken, fo behaupteten infolge des hohen Wahl« zenfus die Liberalen in einer Anzahl von Städten mit katholifcher Bevölkerungs« mehrheit die Majorität in der erften und zweiten Klaffe, während das Zentrum in der dritten Klaffe überwog. Für eine Erniedrigung des Zenfus bei den Gemeindewahlcn war daher der politifche Katholizismus am Rheine ftets, fdion feit 1846, eingetreten. Während des Kulturkampfs hatte er zwar in den rheia nifchen Landtagswahlkreifen mit vorwiegend katholifcher Bevölkerung die libe= ralen Abgeordneten verdrängt. „Nicht fo gründlich", klagte die Kölnifche Volks= Zeitung im Dezember 1881, „ift in den größeren Städten mit der liberalen Vertretung aufgeräumt worden, dank insbefonderc dem Dreiklaffenwahl» fyftem, das eine Vergewaltigung der großen Mehrheit durch eine Verhältnis» mäßig kleine Minderheit ermöglicht." Der Regierungsentwurf ftellte nun den Übergang der Mehrheit in der zweiten Klaffe, bei der die Entfcheidung lag, in die Hand des Zentrums, alfo das Hinübergleiten der Verwaltung dicfer Städte in die Hand der Gegenpartei in Ausficht. In diefer Lage wünfchten die rheinifchen Nationalliberalen die Fortdauer des beftehenden Zuftandes, und die erregten Verhandlungen über die Gefetzvorlage führten im Sommer 1899, zur Zeit des ,,Kompromiffes Fritzen=Sattler", zu Differenzen mit dem eigenen Abgeordneten v. Eynern und zu einer Spannung zwifchen der rheinifchen Parteivertretung und dem Zentralvorftande der Partei in Berlin. Da es fich aber um ein für die ganze Monarchie als notwendig anerkanntes Gefetz handelte, fo war es vergebens, daß fich die Kölnifche Zeitung mit ftärkftem Nachdruck gegen ,,die Auslieferung rhcinifcher Städte an den Ultra« montanismus" cinfctzte, und es war ein Irrtum, wenn fie im März 1899 meinte, daß Im Kampfe wider das Gcmeindewahlrecht ,,der Kaifer auf unferer Seite (tcht". Die rheinifchen Sondcrwünfche mußten fich vielmehr fügen. Als im März 1900 über einige Änderungen der Vorlage zwifchen den Konfcrvativen und der Zentrumspartei ein Einvernehmen erzielt war, blieb nach den Land» Ugsverhandlungcn vom 28. — jo. April d^n rheinifchen Nationalliberalen nichts übrig, als fleh zufriedenzugeben. Das Gcmcinde«Wahlgefetz vom D Sechstes Kapitel (1871—1915): Rheinische Erfolge des Zentrums 833 jo. Juni 1900 hat in der Tat die kommunale Madit der Zentrumspartei in der Rheinprovinz ungemein geftärkt. Auf ihrer Grundlage hat die Partei in den nächjtcn Jahren die meifien Städte mit katholifdier Bevölkerungsmehrheit, darunter die rheinifche Metropole Köln dauernd im Jahre 1908, gewonnen. Die kommunale Selbftverwaltungsorganifation hat die befondere Bedeutung, daß fic dem Bürger auf lokal befchränktem Gebiete das in weiteftem Sinne zugelteht, was ihm im Ganzen des Staates verfagt i(t. Die Gewählten des Bürgertums, die nadi der Staatsverfaffung nur für die Gefetzgebung und Steuerbewilligung, nidit für die Verwaltung zuftändig find, wirken in den Städten täglidb bei der Vcrwaltungsarbeit fo allfeitig mit, daß diefe nur im Einvernehmen mit ihnen geführt werden kann. In der Rheinprovinz befand fidi die [tädtifdie Selbftverwaltung feit Jahrzehnten in hoher Blüte, und ihr Arbeitsgebiet auf materiellem und geijtigem Gebiet, damit aber zugleich ihr Einfluß auf das öffentliche Leben, dehnte fich täglidi aus. Indem diefe blühenden Gemein«» wefen der Zentrumspartei zufielen, crfchloß fidi ihr ein neuer Boden zu kräf« tiger Mitarbeit bei der Gefamtbctätigung des Staatslebcns. Der Charakter der Provinz als einer vorwiegend katholifchen prägt fich viel fchärfer als früher aus, feit in der Mehrzahl ihrer Großftädte, deren Stadtverordnetenvcrfamm» lungen in Fraktionen, angelehnt an die politifchcn Parteien, zerfallen, die Zentrumspartei die Kommunalpolitik beherrfdit, ihren Anhängern die (tädtifdien Ämter und Stellungen fidiert und auf diefem Wege auch ver» [Märkten Einfluß auf die Selbß:verwaltung der Provinz im ganzen ausübt. Den Kampf um den neuen Zolltarif im Jahre 1902, der einen alles Frühere in den Schatten (teilenden Auffchwung von Indu(trie und Landwirtfdiaft einleitete und das Reich auf die Höhe eines gleichmäßig gut cntwidtelten Agrar= und Indu[trie(taates emporhob, führten audi in der Rheinprovinz die bürgerlichen Parteien gcmeinfam gegen die Ob(truktion der Sozialdemokratie. Ihre Verbindung blieb im Frühjahr 1905 ebenfo für das Sdiickfal der neuen Armeevorlage beftimmend. Die Regierung forderte diesmal eine Präfenz= Vermehrung um 10000 Mann und gejtand die zweijährige Dicnftzeit end= gültig zu. Die Vorlage wurde einer langen Erörterung in der Kommiffion wie im Plenum des Reichstags unterzogen, deren Ergebnis die Kölnifche Volks= Zeitung nach der am 29. März 1905 erfolgten Bewilligung dahin zufammen= faßte: „Das Verdienft der Gefamtregelung gebührt fa{t allein dem Zentrum." Wenn fie aber den Widcrfprudi, „daß das Zentrum jetzt Militärvermehrungen bewilligt, während es fie früher ablehnte und als antimilitärifchc Partei groß geworden i(t", am 30. März dadurdi zu erklären fuchte, daß Frankreich und Rußland jetzt in drohender Stärke daftänden, „während damals deutfchc Armeevermehrungen Frankreich nur zu forcierten Anftrengungcn reizen und Rußland äng{tlidi machen konnten", fo hatte Windthorß: 1887 mit ihrer Zuftimmung im Namen der Partei die frühere Haltung anders erklärt (S. 822). Entfcheidend war, daß das Zentrum fich neuerdings dem preußifchen Staate in feinem Wefen als Madit und dem neuen Reich als der Erfüllung der natio= nalen Idee, alfo den politifdien Errungen fchaften der Bismarckfchen Epoche, willig erfchloffen hatte. Die Partei war fich der Bedeutung bewußt geworden, die der militärifchcn Macht des Reichs auch für ihre befonderen Ideale und Beftrebungen innewohnt, und fie ließ fich jetzt von den Gefichtspunkten der Regierung für die äußere Politik überzeugen. In den Kommiffionsverhandc lungen, fo erklärte die Kölnifche Volkszeitung, habe fidi beim Zentrum langfam Die Rheinprovinz 1815 — 1915. 53 834 XII. J. Hansen, Das politische Leben a die Auffaffung herausgebildet, daß die militärifchen Gründe für die Vorlage zutreffend feien. Auch der politifche Katholizismus in der Rheinprovinz, de(Ten Preffe und parlamentarifche Vertretung früher einmütig gegen ,,dcn Moloch des Militarismus" prote(tiert hatten, fühlte fich jetzt im Einklang mit der preußifch=militärifchen Tradition. Zwar wandten fich noch immer auffallend wenige Rheinländer (nur 40 auf 210 Pommern oder 170 Brandenburger) dem Militärdienft als Lebensberuf zu. Aber in den Jahren, wo die rheinifche In= du(trie zu ihrer Vollkraft und zu einem [tolzen Symbol deutfcher Arbeit, die Provinz zur bevölkertften und (teuerkräftigjten der Monarchie heranwuchs, war auch ihre katholifche Bevölkerungsmehrheit zu (tärkerm Anteil am Wirt= fchaftsleben herangereift. Die Erbreiterung ihrer materiellen Intereffen« fphäre erfchloß ihren Sinn für die Erkenntnis, daß ein achtunggebietendes Heer und feine ftete Kampfbereitfchaft gerade für das rheinifche Grenzland mit feinen unermeßlichen wirtfchaftlichen Gütern nicht zu entbehren find. Die deutfche Wehrmacht und ihre befondcrs geartete Stellung im deutfchen Vcrfaffungsleben wurden auch von ihr als fegcnsreichc Notwendigkeiten aner= kannt. Durd» den langjährigen Erziehungsprozeß aber, den die allgemeine Wehrpflicht unauffällig bewirkt hatte, war die Armee und der Gei(t der Armee nun auch hier populär geworden. Daß gleichzeitig mit diefcn Vorgängen im Reidi, durch die die Stellung des Zentrums zufehends erftarkte, ein wefentlicher Teil feiner Schulwünfchc in Preußen der Erfüllung entgegenging, war die Folge einer Abmachung, welche die Zentralleitung der Nationalliberalen mit der Konfervativen Partei getroffen hatte, um die Aufbringung der Schullaften insbefondere in den öftlichen Pro= vinzen zu erleichtern. Durch diefe Abmachung, die gegen das liberale Streben nach gemeinfamer, durch konfeffionelle Schranken nicht getrennter Volks= crziehung verftieß und auf gci(tigem Gebiet eine alte liberale Pofition preis« gab, wurden die rheinifchen Nationalliberalen auf dem Parteitag in Kreuza nach im Mai 1906 völlig überrafcht, obgleich der rheinifche Abgeordnete Hackenberg (tarken Anteil an ihr hatte. Sie vcrfprachen fich ebenfo wie die rheinifche liberale Preffe nichts von einem Zufammengehcn mit den Kon= fervativen auf dicfem Gebiete. Das Ergebnis langwieriger Verhandlungen, die den allgemeinen Rückgang der liberalen Eigen(tändigkeit feit 1892 deutlich offenbarten, war das Volksfchulunterhaltungsgefetz vom 28. Juli 1906, das den Konfeffionalismus zum Grundfatz erhob. Die fchulmäßige Klaffifikation der heranwachfenden Jugend nach Bckenntniffen wurde dauernd legalifiert. Daß, wie man im rheinifchen Zentrumskrcife urteilte, „im parltätifchen Preußen der chriftliche Volksfdiulunterricht nur auf der Bafis des konfeffionellen Er» Ziehungsprinzips Sinn hat", wurde für die Rheinprovinz im Namen des Staates durch den Schulzwang fanktioniert, nachdem foeben, am 19. März 1903, der Kölner Erzbifchof in einem Pa(toralbricf an feinen Klerus die Verbindlichkeit des päpftlichen Syllabus von 1864 für die Gläubigen feiner Diözefc fe[tge(tcllt, ihnen alfo die Anerkennung des katholifchen Prinzips auch in den Fragen der Kirchenpolitik zur rcligiöfen Pflicht gemacht hatte. Eine Klaufel des Gefetzes über ausnahmsweife Zulaffung von Simultanfchulcn bewies nur, wie weit die preußifchc Schulpolitik jetzt von dem liberalen ideal gciftigcr, über den Kon= fcffloncn ftehender Einheitskultur abgerückt war. Nicht lange nach der Vcrabfchiedung diefes Gefetzes kam es im Reich unerwartet zu einem Bruch zwifchen der Regierung und der Zentrumspartei. a Sechstes Kapitel (1871—1915): Armeevorlage 1905, Blockära 1906-08 835 Der rhcinifchc Abgeordnete Roeren übte fcharfe Kritik an der Kolonialver= waltung, und die Partei, die fich felb(t auch in der Zeit ihrer Arbeitsgemein= fdiaft mit der Regierung nidit als „Regierungspartei, fondern als eine unab= hängige Partei fühlte, deren Wurzeln im Volke ruhen", kürzte zufammen mit der Sozialdemokratie den von der Regierung für Deutfch=Südwe(tafrika geforderten Kredit, um eine Verminderung der dort (tehenden Truppenzahl zu erzwingen. Da der Reichskanzler Fürft Bülow durch die Bildung eines dem Kartell von 1887 ähnlichen konfervativ=liberalen Blocks verhindern wollte, daß eine aus dem Zentrum und der Sozialdemokratie beftehende Mehrheit der Regierung ihren Willen aufdränge, wurde der Reichstag am 13. Dezember 1906 aufgelö|t. Nach der Kölnifchen Zeitung handelte es fich bei diefer über» rafchung darum, „ob Dcutfchland den ultramontanen Druck noch länger er= tragen will oder die Gelegenheit ergreifen wird, ihn abzufchütteln". Bei den Neuwahlen büßte die Sozialdemokratie 36 Mandate ein, und von den verblei* benden 43 verdankte fie 10 der Wahlhilfe des Zentrums. Diefcs fclbft wahrte allerdings wie im allgemeinen fo auch in der Rheinprovinz feinen Beftand. Nach dem Vorgang von 1873 und 1887 fammelten fich zwar die konfervativen, insbefondere die adligen, Katholiken der Provinz („Nationalkatholiken'') unter der Führung des Oberpräfidenten Freiherrn v. Schorlemer und des Grafen V. HoensbroechsHaag zu einer gouvernementalen Gruppe, die das (taatliche Intereffe voran(tellte. An dem Zentrum mißfiel ihr nicht nur fein Vorgehen in diefem Falle, fondern insbefondere auch fein grundfätzliches Verlangen nach Erweiterung der politifchen Rechte der Kirdic und feine Polenpolitik, und fie urteilte, daß durch feine Politik wohl die äußeren Formen der Religion, nicht aber die innere Religiofität Förderung erfahre. Die „Deutfchc Vereinigung", die in Bonn ihren Sitz nahm, blieb indeffen zahlenmäßig fchwach. Die Wahl eines Abgeordneten vermochte fie nidit du rchzu fetzen, das Zentrum hatte feine Wähler zu fe[t in der Hand; fie befchränkte fich vielmehr in den nächftcn Jahren darauf, eine politifche Wochenfeh rift „Die deutfche Wacht" herauszugeben. Das Zentrum und die Sozialdemokratie zufammen verfügten aber nicht mehr über die Majorität im Reichstag. Wie hart die „Ausfchaltung des Zen= trums", dem nun auch das feit 1895 behauptete Präfidium des Reichstags ver= loren ging, feine rheinifchen Parteigänger traf, bewies die Haltung der Preffe. Die Kölnifdie Volkszeitung fah in der Reichstagsauflöfung „eine eigenfte Entfchließung des Kaifers" und nahm eine Haltung an, die an die Zeit fchärf{ter Oppofition zur Zeit des Kulturkampfs erinnerte. Wie fie damals den deutfchen „Scheinkon(titutionalismus" verworfen und die volle Miniftcrverantwort= lichkeit gefordert hatte, fo proteftiertc fie im Dezember 1906 laut gegen den „cäfari(tifchen Abfolutismus. Wer diesmal freifinnig, nationalliberal oder konfervativ wählt, der ftimmt für das perfönliche Regiment gegen die Volks= Vertretung. Der Reichstag i(t keine Bewilligungsmafchine, um den nötigen Mammon zu apportieren". Dem Zentrum, fo erklärte fie, „erblüht unver= welklicher Ruhm, wenn an ihm die Etablierung des perfönlichen Regiments in Deutfchland zerfchellt". Die rheinifchen Wählerverfammlungen verliefen fehr ftürmifch. „Vor dem Kommandofäbel", fo verficherte der Vorfitzende der rheinifchen Zentrumspartei Trimborn in einer folchen zu Köln am 18. Dezember 1906, ,, weichen wir nicht zurück; wir werden uns niemals dazu her= geben, dem abfoluten Regiment und dem Cäfarismus den Weg freizugeben". Die Epifodc der Blockpolitik dauerte bis 1909. In ihre letzten Monate fiel 53* 836 XII, J. Hansen, Das politische Leben a im Hcrbft 1908 die (tarkc Erregung, die im ganzen deutfdien Volke durdi private, dem politifdien Bewußtfein der Nation widerfprechcnde Äußerungen des Kaifers über das Verhältnis zwifchen Deutfchland und England entjtand. Man bcforgte allgemein, die mangelnde Einheitlichkeit der auswärtigen Politik werde das Reich in Gefahr bringen. Im Reichstag wurde im November 1908 die perfönliche Politik des Kaifers von allen Parteien freimütig kritificrt. Die rheinifdie Zentrumspreffe aber erklärte bei diefem Anlaß, „ein Perfonenwechfel allein kann kein Heil bringen, im Sy(tem muß geändert werden". Sie verlangte „den Ausbau der Reichsverfaffung'' und ein „Strafgeridit des Reichstags über die Regierung, um auf feiten des Kaifers einen gründlichen Wandel zu bewirken. Das deutfche Volk wendet [ich dagegen, daß Ausländer fich größerer Vertrau» lichkeit des Kaifers rühmen dürfen als feine eigenen Landsleute, und daß der Kaifer intime Dinge und feine perfönliche Auffaffung in einer Weife preisgibt, die der amtlidien Politik feines Landes crnfle Sdiwierigkciten bereitet". Es müßten Garantieen erfolgen, „daß das alte Regiment cin= für allemal aufs gehört hat". In „parlamentarifch regierten Ländern" feien folche Vorgänge unmöglich, ein „braudibares Vcrantwortlidikeitsgefetz nebft Staatsgerichtshof" feien vonnöten. Die unabhängigen Mcnfchen aller Parteien würden oppo= fitionell, aber „das Morgenrot einer Neuen Ära erfchcine am Horizont". Daß die Kölnifchc Zeitung dem „Verfudie des Zentrums und der Sozialdemokratie, den Kaifer zu demütigen", widerfprach, erfdiien der Kölnifchen Volkszeitung als „ein Bild von überwältigender Komik". Im Frühjahr 1909 fand aber das Zentrum bei der großen Reichsfinanzreform wieder Anfchluß an die Kon= fcrvativen, die im Fürften Bülow den „Schrittmacher des Parlamentarismus" fahen, feit er am 10. Januar 1908 die Reformbedürftigkeit des preußifchen Wahlrechts zugeftanden hatte. Bereits im März 1909 wurde in einer Zentrums« verfammlungin Düren wieder gegen die parlamentarifchc Regierungsform prote= (tiert. Die Kölnifche Volkszcitung aber fchrieb am 18. März: „In der Zentrums» partei erkennt man jedenfalls das Recht des Monarchen, nach feinem Ermefifen feine Ratgeber zu ernennen und zu entlaffen, vorbehaltlos an", und im April fpradi der Abgeordnete Trimborn in Köln von „der künftlichen Madie des Novemberfturms" und von ,,der lahmen und fchwachen Abwehr der überaus fcharfen Angriffe gegen den Kaifer durd» den Rcidiskanzler". Im Juli 1909 fchied Fürft Bülow aus feinem Amte, die Verbindung zwifchen Regierung und Zentrum wurde wiederhergeftellt, und als im Auguft 1910 der Kaifer in einer Königsberger Rede den Parlamentarismus fchroff abwies und feinen Entfchluß verkündete, ohne Rückficht auf Tagesmeinungen feinen pcrfön» liehen Weg zu gehen, (timmte ihm die Kölnifche Volkszeitung rückhaltlos zu. Es handelte fich in der Tat nur um eine für das Zentrum felbft uner» wartete Epifode. Die Partei wollte ihre Beziehungen zur Regierung keines« wcgs ändern und ebenfowenig eine Weiterbildung der VerfaJTungsformen in volksmäßigem Geifte anbahnen. Die neue Armeevorlagc vom Dezember 1910 fand fie wieder fo gcfchloffen an der Seite der Regierung, daß die rheinifchen Niationalliberalen von einer „Militärvorlage von Zentrumsgnaden" fprachcn. Für die Regierung waren die Ausfichten des neuen Quinquennats fehr günftig. Es wurde ohne allen Kampf genehmigt. „Die neue Militärvorlage", rühmte die Kölnifchc Volkszcitung am j. März 1911, „i[t feit 25 Jahren die er(te, die vom Reichstag unverändert angenommen wurde. Die bürgerlichen Parteien traten einmütig für [Ic ein." Auch die bürgerliche Linke war feit der Blockära D Sechstes Kapitel (1871—1915): Armeevorlage 1911, preußisches Wahlrecht 837 mit der durch den andauernden militärifdicn Gren?druck bedingten Armee= und Flottenpolitik der Regierung einverjtanden. Der wichtigjte Grund gegen eine Vermehrung der parlamentarifdien Volksredite, der alte Gegenfatz zwifchen der Regierung und den Parteien in der Frage der militärifchen Sicherung, fiel in dem Augenblidte weg, wo nur noch die Sozialdemokratie den ablehnenden Standpunkt behauptete. Bismarck hatte 1867 erklärt, die Regierung geftehe dem Volke „den Grad von Freiheitsentwicklung zu, der mit der Sidierheit des Ganzen nur irgend verträglich i[t". Seitdem war die Armee nicht nur unter wachfendcr Zu(timmung der Parteien [tark vermehrt, fondern durch die Heeresreform von 1888 auch national breiter fundiert und gekräftigt worden. Daß der Zeit= punkt für eine Politik gekommen war, die größere Freiheit im Innern ge= währte, fchien auch Fürft Bülow in der Zeit der „konfervativ=liberalen Paarung" anzuerkennen. Die Reform des preußifchen DrciklalTenwahlrcchts, womit er den Anfang in einem Sinne machen wollte, der „der wirtfchaftlichen Entwicklung, der Ausbreitung der Bildung und des politifchen Verftändniffes fowic der Er= ftarkung (taatlichen Vcrantwortlichkeitsgefühls cntfpricht", kam aber erft nach feinem Sturze zur Verhandlung. Die Thronrede vom 28. Oktober 1908 betonte ihre Bedeutung nachdrücklich. Die Wahlrechtsreform lö(te fich aber am 27. Mai 1910 in unfruchtbaren Streit der parlamentarifchen Fraktionen auf. Das Abgeordnetenhaus vermochte, da die Konfcrvative Partei jeder Re= form des Wahlrechts widersprach, das das fe(te Bollwerk ihrer parlamenta= rifchen Stärke bildet, nicht einmal in den Fragen der Öffentlichkeit und Mittel» barkeit des Wahlrechts, gefchweige denn in der Frage des Klaffcnfyftcms eine VerbelTerung zu bewirken. Die Arbeitsgemeinschaft der konfervativen Re» gierung mit den Konfervativen und dem Zentrum, den beiden Parteien, die entfchloflcn waren, „immer mehr das, was uns trennt, zurüd und Verfaffungsfrage bis 1824, 1912. Quellen- und Literaturnachweis 855 (J. F. Benzenberg), Wünfche und Hoffnungen eines Rheinländers, Paris 1815. J. Heydcrhoff, Johann Friedrich Benzenberg, der erfte rheinifche Liberale, 1909. H. V. Treitfchkc, Deutfche Gefchichte im 19. Jahrhundert (5 Bände, 1879 — 1894). R. Kofer, Die Rheinlandc und die preußifche Politik (in der Weftdeutfchen Zeitfchrift für Gefchichte und Kunft XI (1892) S. 187—203). G. Kaufmann, Gefchiclite Deutfchlands im 19. Jahrhundert, 1912. F, Meinecke, Weltbürgertum und Nationalftaat, 1. Aufl. 1907, 3. Aufl. 1915. — Das Leben des Gencralfeldmarfchalls H. v. Boyen, 2 Bände, 1896 — 1899. — Landwehr und Landfturm feit 1814 (in Schmollers Jahrbuch für Gefctzgebung, Verwaltung und Volkswirtfchaft 40 (1916) S. 1087 ff.). A. 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